Читать книгу Das Mündel des Apothekers - Stefan Thomma - Страница 7
Prolog
ОглавлениеAugsburg, 10. November Anno Domini 1620, abends
Im flackernden Schein des Talglichts erschien der Gebärstuhl wie ein Folterinstrument, auf dem die völlig entkräftete Frau schon seit Stunden saß. Ein Sturm von Schmerzen fegte wie Hagelschlag über ihren Körper hinweg, als die Wehen erneut einsetzten. Ihr Atem quoll in weißen Schwaden aus dem Mund, den sie für einen weiteren Schmerzensschrei aufgerissen hatte.
Die Lehrmagd der Hebamme kniete weinend und vor Kälte zitternd am Boden und betete. Ihre erste Geburt hatte sie sich bei Gott einfacher vorgestellt. Wenn die erfahrene Geburtshelferin jetzt nicht bald käme, würde der Tod der Gebärenden und ihres Kindes unausweichlich eintreten.
Schweiß tropfte der Wöchnerin aus dem Haar. Trotz geschlossener Fenster spürte sie einen Windstoß, als der Novembersturm wieder Fahrt aufnahm. Elena war die Kälte jedoch gewohnt. Seit Kriegsbeginn lebte sie in einem Zelt und zog mit dem Tross der kaiserlichen Truppen. Im letzten Winter kam sie mit etwas Glück beim Augsburger Stadtmedicus unter. Er überließ ihr eine spartanisch eingerichtete Kammer, die über einen separaten Eingang zu erreichen war. Bei seinen wohlhabenden Freunden konnte sie sich einiges verdienen. Doch nachdem der feiste Tuchhändler ihr beiwohnte, blieb das Monatsblut aus. Er versicherte ihr, sie zu unterstützen, und bezahlte im Voraus ihre Unterkunft.
Elenas kraftlose Schreie wichen einem Wimmern, als die Türe krachend aufgestoßen wurde und die Hebamme hereinstürmte. Mit ihr drängten sich dutzende Schneeflocken in die Kammer.
»Heilige Maria und Josef sei Dank! Sie ist da!«, rief die Magd und wischte sich die Tränen von den Wangen.
»Ich hoffe, ich komme noch nicht zu spät!«, keuchte Martha Stützle. »Die Wege sind kaum passierbar.«
»Sie hat keine Kraft mehr, sich noch länger auf dem Stuhl zu halten. Das Kind will aber einfach nicht kommen!«
»Ist es ihre erste Geburt?«, erkundigte sich die Hebamme, während sie den Bauch von Elena abtastete.
»Ja. Und ich hab extra eine Axt unter den Gebärstuhl gelegt, um böse Geister zu vertreiben und ihre Entbindung zu erleichtern.«
»Die mag wohl die Geister vertrieben haben, aber gegen eine Steißlage hilft sie halt nicht.«
Mit wenigen Handgriffen hatte die erfahrene Geburtshelferin die Lage des Ungeborenen korrigiert.
»So, und jetzt pressen!«, wies sie die Wöchnerin an.
Elena nickte mit geschlossenen Augen fast unmerklich. Mit fest aufeinandergepressten Lippen folgte sie den Anweisungen von Martha, die schon Hunderte von Frauen entbunden hatte. Immer wieder forderte sie die Gebärende auf, zu pressen.
»Ich kann nicht mehr!«, stöhnte Elena.
»Wenn du jetzt aufgibst, stirbst nicht nur du, sondern auch dein Kind. Reiß dich zusammen! Und noch einmal!« Ein letztes Mal sammelte die Hübschlerin all ihre Kräfte. Das Greinen eines Neugeborenen erklang. Erschöpft nahm Elena ihr Kind entgegen.
»Es ist ein gesunder Junge.« Wieder setzten die schon bekannten Schmerzen ein.
»Bekomme ich noch ein Kind?«
»Nein, das ist nur die Nachgeburt. Gleich hast du alles überstanden.« Doch erneut erklang das Greinen eines Kindes, das schnell in Leinen gepackt, Marthas Lehrmagd übergeben und aus der Kammer geschafft wurde.
»Wo ist mein zweites Kind?«
»Du hast nur eines auf die Welt gebracht, meine Liebe. Ich habe dir doch erklärt, dass die erneuten Wehen von der Nachgeburt ausgelöst wurden.«
»Aber ich habe es doch gehört! Was habt ihr mit meinem Kind gemacht?«, schrie Elena panisch und versuchte aufzustehen.
»Du bleibst schön sitzen!« Martha drückte sie wieder zurück in den Gebärstuhl.
»Die Strapazen der Geburt haben dich ja total verwirrt. Jetzt schlaf erst einmal und ruh dich aus. Morgen sieht die Welt schon wieder ganz anders aus.«
*
Am darauffolgenden Abend peitschte der Schneeregen gegen die Butzenglasscheiben, die kaum noch Licht in das Haus ließen, als das Pochen an die Türe der Nördlinger Stadtapotheke immer heftiger wurde.
»Jaja«, murmelte die Haushälterin Elfriede Breitenbach, während sie in Richtung Hauseingang schlurfte. Ihre Gelenke machten sich seit langem durch ihr Übergewicht schmerzhaft bemerkbar, wodurch alles etwas langsamer ging. Viele Jahre war sie nun schon in Diensten des ehrwürdigen Apothekers Benedikt Riesinger. Seit dem Tod seiner Frau lebten die beiden allein in dem großen Patrizieranwesen nahe dem Rathaus. Knarzend öffnete sich die Türe zur Offizin4. Triefend nass stand eine schwarze Gestalt auf den Stufen.
»Hochwürden? Was verschafft uns die Ehre eines so ungewöhnlichen Besuchs?«
»Hier ist euer Mündel5 und ich muss dringend den Apotheker sprechen«, erwiderte Pastor Eberhard Widmann und übergab Elfriede das kleine Bündel.
»Ein Mündel?«, wiederholte die Haushälterin verblüfft.
»Das hat schon seine Richtigkeit. Riesinger weiß, dass ich heute komme.«
»Aha. Er ist oben in seinem Arbeitszimmer am Kamin. Ich werde Euch gleich bei ihm ankündigen. Kann ich Hochwürden etwas anbieten?«, fragte sie der Höflichkeit halber nach.
»Macht Euch keine Umstände, ich bin in Eile«, murrte der hagere Kirchenmann im Vorbeigehen und war schon auf der Treppe, die in das obere Stockwerk führte. Seine knochigen Hände hielten sich bei jedem Schritt am Treppengeländer fest und hievten den dürren Körper Stufe um Stufe empor. Schmunzelnd blickte die Haushälterin in das zufriedene Gesichtchen des Neugeborenen.
»Mein Gott, bist du ein süßes Kind. Jetzt werden wir uns erst einmal um dich kümmern.«
»Mein lieber Benedikt«, begann der Pastor im Vieraugengespräch mit dem Apotheker, »es hat besser geklappt, als ich befürchtet hatte. Nur der Rückweg war sehr beschwerlich. Ich hoffe, der Herrgott wird uns verzeihen.«
»Mit Sicherheit, Hochwürden. Danke für Eure Hilfe. Ich werde mein Wort halten. Die St. Georgskirche soll ihre Seitenorgel bekommen, wie Ihr es euch gewünscht habt. Und ich hab einen Erben und jemanden, der sich um mich kümmert, wenn ich alt und krank bin. Ach, noch etwas, Hochwürden. Ich brauche ja nicht zu betonen, dass unsere Unterhaltung hier nie stattgefunden hat. Und das Kindlein hat ein grausamer Mensch einfach in der Kälte vor der Kirche abgelegt.«
»Ich unterliege der kirchlichen Schweigepflicht. Das versteht sich doch von selbst, werter Riesinger. Gehabt Euch wohl!«
4 Werkstatt, Arbeitsraum mit angeschlossenem Verkaufsraum.
5 Unmündige Person, die eines Vormundes bedarf.