Читать книгу Blind Date in Paris - Stefanie Gerstenberger - Страница 10

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Das war früher mal schöner«, wisperte ich Ken zu, als wir oben in der geräumigen Wohnküche standen. »Jetzt sieht es aus, als hätte jemand zehn Säcke Müll über allem ausgeschüttet.« Aurélie war nicht mehr zu sehen.

»Ja, so riecht es auch. Nach altem Essen. Und nach schon seeehr lange eingeweichten Töpfen.«

Tatsächlich erspähte ich aus den Augenwinkeln ein übervolles Spülbecken. Schwamm da etwa was Grünes, Flauschiges in der obersten Pfanne?

Ken hob sein Kinn und schnupperte. »Alle Fenster sind zu, oder? Schade, mit ein bisschen Durchzug könnte man sich wie am Strand fühlen. Unter meinen Füßen knirscht es jedenfalls schön sandig.« Wieder folgte einer seiner belustigten Nasenschnauber.

»Ich weiß nicht, was passiert ist«, sagte ich, bevor er weitere Vergleiche anstellen konnte. »Warum ist sie aus der Küche gelaufen? Sie hat uns doch gesehen, das ist echt komisch.«

»Allerdings. Aber das ›merde‹ war eindeutig.«

Ich nickte. Tante Aurélie war ziemlich viel jünger als Papa. Zehn Jahre mindestens, also vielleicht fünfunddreißig? Sie war immer schon anders gewesen als er, aber so anders? Wusste Papa davon? Was hatte er mir nicht alles vor der Abfahrt gepredigt, wie fleißig und zielstrebig seine Schwester in den vergangenen Jahren geworden sei, wie gut organisiert und dass sich ihre Kunst nun auch endlich »rentieren« würde. Hieß das nicht, sie würde damit Geld verdienen?

»Spricht sie Deutsch?« Ken streichelte Barbie und nahm ihr das Geschirr ab.

»Nur drei Worte.« Sie wird dir dein grausiges Französisch schon austreiben können, hatte Papa gesagt, in drei Wochen sollte sich da Grundlegendes bessern!

Barbie schnüffelte neugierig in der Küche herum, besonders interessant schien der übervolle Abfalleimer zu sein. Wir hörten Aurélie hinten im Flur rumoren, irgendetwas Schweres fiel mit einem dumpfen Knall hinunter. »Alors, Kinder!«, rief sie, ihre Schritte kamen näher.

Ich stieß Ken sanft an. »›Kinder‹ ist eines der drei Worte.«

Auch Barbie schaute hoch, als Aurélie nun hereinkam. Sie trug einen bunten Kimono und an den Füßen trotz der drückenden Wärme, die in der Küche herrschte, grellgelbe Socken, in denen die Zehen einzeln steckten. Sie sah jung aus, wie ein zu großes, zu dünnes Kind, das sich als Erwachsene verkleidet hatte. Ihre langen, fast schwarzen Haare waren wohl einige Zeit nicht mehr gekämmt worden, sie drehten sich nämlich schon zu verfilzten kleinen Rastalocken zusammen. Das zu hoch aufgeschossene, zu dünne Kind blieb stehen, verschränkte seine Arme vor der schmalen Brust, als ob es sich festhalten wolle, und schaute uns erwartungsvoll an.

»Aurélie, ça c’est mon ami Ken …«, begann ich, gab aber schnell wieder auf. »Ach, erzähl du das bitte auf Französisch«, bat ich ihn. »Und auch, dass ich dir Geld schulde und sie es mir vorstrecken muss, damit du endlich gehen kannst. Also, damit du dich endlich auf den Weg machen kannst, meine ich, du hast mir schon so viel geholfen!«

»Désolée, désolée, entschuldigt misch, ich bin dursch-einander, ich bin nicht présentable!« Aurélie entfaltete ihre Arme wieder und rauschte mit ihrer langen, dünnen Gestalt auf mich zu, die Ärmel flatterten wie bei einer bunten Fledermaus. »Was ist passiert mit deine Nase, kleine Nischte?« Sie wollte die Antwort aber offenbar nicht hören, denn sie umarmte mich und gab mir zwei vorsichtige Küsse auf die Wange. »Das Leben macht misch ein wenig unglücklisch, désolée. Désolée.«

»Seit wann sprichst du Deutsch, Aurélie?«

Doch Aurélie hörte mich nicht, denn sie wandte sich Ken zu: »Und deine Freund mit kleine ’ünd ’ast du gleich mitgebracht. Und isch? Mach ich schlechten Empfang pour vous … « Sie küsste auch ihn, der sie nur knapp überragte, umarmte ihn, stützte sich mit der Stirn an seinen Oberkörper mit dem wild gemusterten Hemd und ließ ihn gar nicht wieder los.

Ken blieb stehen und klopfte ihr sanft auf den Rücken. »Ich kenn das«, murmelte er. »Das Leben kann echt merde sein!«

Aurélie lachte an seiner Brust auf. »Oh, das gefällt mir! Das Leben kann echt merde sein.« Sie hob den Kopf. »Ach, Kinder, aber jetzt wir machen es uns erst mal gemütlisch! Ist noch Wein da? Wollt ihr nicht Wein kaufen gehen? Le petit chien kann bei mir bleiben. Ich gehe ja nicht mehr raus.«

»Das ist toll, du sprichst ja richtig gut, Aurélie!« Ich zog erstaunt die Augenbrauen hoch. »Weiß Papa das? Vor ein paar Jahren konntest du noch gar nichts.«

»Oh, oh, lange, traurige Geschichte. Ein Mann natürlisch! Triste, sehr triste!« Sie räumte ein paar leere Weinflaschen vom Tisch und wischte Brotkrümel und sonstigen Dreck mit der flachen Hand auf den Boden.

»Setzt euch, setz du disch auch, mein kleine Nischte!«

Kleine Nischte. Das hörte sich lustig an, ich sah zu, wie Ken Barbie von ihrem Geschirr befreite und wie Aurélie Klamottenberge von den Stühlen zusammenklaubte und auf andere Stühle warf: »Ich erzähle euch, ich erzähle euch die Geschichte von die Verrat und die Luge!«

»Oh, das hört sich gut an«, sagte Ken. »Ich sammele nämlich solche Geschichten und schreibe sie manchmal auf.«

Ich schaute mich in der Küche um und näherte mich dem großen alten Kühlschrank, der in einer Ecke vor sich hin brummte. Wenn Aurélie es nicht machte, sollte nicht wenigstens ich Gastgeberin spielen und Ken etwas anbieten? Barbie hatte bestimmt auch Durst. Barbie?! Die Hündin hatte irgendetwas entdeckt, auf dem sie mit Hingabe herumkaute.

»Äh, Ken? Barbie hat da was, ich weiß nicht, ob das gut für sie ist.«

Tante Aurélie schaute erst zu dem Hund, dann auf Ken. »Oh non, non, non, ich ’abe nicht gesehen, dass du bist aveugle, mein Guter, wie ’eißt auf Deutsch?«

Da war es wieder, das aveugle. Ich sprach das Wort in Gedanken nach. Awögle. Awögle. Ich würde nach drei Wochen bestimmt viel besser sprechen können und Papa stolz machen.

»Blind.« Ken grinste.

Da steht er einfach so in der dämmrigen Küche, dachte ich. So selbstbewusst und sicher, niemand würde denken, dass er in diesem Moment überhaupt nichts von dem sehen kann, was um ihn herum ist.

»Moment, ich nehme es ihr weg, was ist es denn? Barbie, komm her!« Ken bewegte sich mit kleinen Schritten auf Barbie zu, die sich mit ihrer Beute sofort unter den Tisch verzog.

»Ich glaube, eine Socke. Oder vielleicht eine Schuhsohle?« Ich bückte mich, um unter den Tisch schauen zu können.

»Oh je sais, ich weiß, ist altes Steak, ’abe ich gebrannt und weggeworfen in die poubelle.«

Wahrscheinlich eher neben den Mülleimer, dachte ich, während ich versuchte, so viel wie möglich von Aurélies deutsch-französischem Wortschwall zu verstehen und Ken bei seiner Jagd auf Barbie zu helfen.

»Sie ist der besterzogene Hund überhaupt, aber wenn sie nicht im Dienst ist, also sobald ich sie von ihrem Geschirr befreie, ist sie so verfressen, das ist unglaublich. Sie beißt wahllos in alles rein und versucht, es hinunterzuschlucken, es ist furchtbar.«

»Aber verträgt sie die Sachen denn?«

»Nein. Das meiste würgt sie wieder aus. Manchmal muss ich ihr auch Sauerkraut geben, damit … ach, ich erspare euch die Details.«

»Danke.«

»’endrik machte immer Steak. Die besten verdammten Steaks von die Welt machte er, diese Drecksack!«

»’endrik ist der Grund für …?«

»… für meine gute Deutsch und meine große Kümmer, oui!«

Ken lachte. »Ich verstehe dich gut. Die Liebe kann einen echt runterziehen.«

Aha. Ich horchte auf. Was wusste Ken denn schon von der Liebe? Hatte er etwa eine Freundin? Ob die auch blind war? Er soll keine Freundin haben, das wäre echt blöd, dachte ich und wunderte mich sofort über meine Gedanken. Was ging mich das überhaupt an?

»Oui! Die Liebe ist echt merde!« Aurélie lachte auf, doch es klang, als ob sie jeden Moment losweinen wollte. »Wir brauchen was zu trinken, Kinder!«

Ich öffnete den Kühlschrank. Leer – außer einer an die Wand gedrückten Flasche Gin, in der noch eine Handbreit der klaren Flüssigkeit übrig war, ein bisschen kariertem Einwickelpapier und zwei völlig eingeschrumpelten Zitronen. »Hier ist nichts drin.«

»Oh non. Ah, oui. Ich weiß. Ich bin schrecklisch. Ich bin seit Tagen nicht rausgegangen, weil will ich die Welt nicht sehen. Der blaue Himmel erinnert mich an ihn, an alles, an die Gluck, ich ertrage das nicht!« Sie kam zu mir, machte den Kühlschrank nun auch auf und sofort wieder zu. »Die Bank gibt mir nichts. Eine Künstlerin wie ich! Kein Kredit!«

»Kein Problem«, sagte Ken, »wir können doch einkaufen gehen!«

»Er ist nämlich der Einzige, der noch Geld hat, Aurélie.« Ich zeigte auf Ken, fast war ich ein bisschen stolz auf ihn. »Man hat mich beklaut am Bahnhof, alles ist weg. Mein Portemonnaie, mein Handy, einfach nicht mehr da!«

»Oh, verflixte Taschendiebe! Es ist schrecklisch!«

Ich wollte Ken einen verschwörerischen Blick zuwerfen, aber meine Augen trafen nur auf zwei grüne Pupillen, die zwar schön aussahen, aber leider nicht auf meine hochgezogenen Augenbrauen und gerunzelte Stirn reagierten. Oh Mann! Es war so mühsam mit ihm. Er konnte ja nichts dafür, aber er lähmte mich, weil alles so umständlich war und langsam ging. Einkaufen? Mit Ken? Da lief ich doch lieber alleine los. Aber wohin? Ich kannte mich doch nicht aus. Oder sollte ich ihn etwa losschicken und währenddessen in der Küche Ordnung machen? Es kribbelte mir in den Fingern, die Fenster aufzureißen. Ich würde sogar den Müll runterbringen, um den Geruch loszuwerden, und den Boden fegen, aber mir mit ihm auf diese Weise die Arbeit zu teilen, ging ja nicht. Er sah nichts, war also weder hier noch draußen auf der Straße richtig zu gebrauchen. Immerhin hat er dich hierhergebracht, widersprach ich mir sofort selbst und seufzte unhörbar auf. Jaja. Aber jetzt soll er gehen und seinen Hund am besten gleich mitnehmen. Ken und Barbie hatten mir zwar geholfen, konnten aber nur »weitere Multiplikatoren meiner Probleme« sein. Ich hörte Papas Worte förmlich in meinen Ohren.

»Wenn Ken mir Geld gibt, gehe ich was kaufen, was soll ich denn mitbringen?« Ich sah Aurélie ratsuchend an, doch ich war skeptisch. War von der Tante überhaupt etwas Vernünftiges zu erwarten? Würde sie Ken meine Schulden zurückzahlen können? Vermutlich nicht, wenn die Bank ihr nichts mehr gab. Wo hast du mich da bloß hingeschickt, Papa? Und du, Mama? Hast du nicht behauptet, Aurélie sei momentan die Lustigere in der Familie? Na danke, es sieht gerade nicht danach aus.

»Vin blanc!«, kam es von Aurélie. »Auf die Ecke Rue Brochant und Rue Legendre ist kleine Laden, Mahmoud ’at erstaunlischerweise sehr gute Weißwein, nur 6 Euro das Stück. ’endrik ’at immer gekauft diese Wein. Toujours. Toujours.« Sie hockte schniefend auf der Vorderkante des Stuhls und stützte ihr Kinn auf der Tischplatte ab. Sie sah aus, als ob sie zehn wäre und um ihren toten Hamster weinte.

»Und Brot!«, rief Ken von unter dem Tisch. »Käse. Feigen, wenn es gibt. Oder Weintrauben? Dafür ist es wahrscheinlich noch etwas früh im Jahr.« Er hatte Barbie inzwischen die Steakschuhsohle entrissen und schimpfte nun leise, aber streng mit ihr. »Geld ist in meinem Portemonnaie, vorne im Rucksack.«

»Soll ich wirklich …?« Es war ein komisches Gefühl, in seinen Sachen herumzuwühlen.

»Na klar, solange noch was da ist!«

»Und kannst du Papa anrufen, dass wir gut angekommen sind, Aurélie?«, bat ich. »Ich habe ihm nur auf den Anrufbeantworter gesprochen, aber nicht verraten, dass du mich nicht abgeholt hast.«

»Matthieu? Mais bien sûr!« Die Tante schaute sich suchend nach dem Telefon um, aber ich ahnte schon, dass sie es im nächsten Moment vergessen würde.

»Ich nehme mir einen Zwanziger, okay?« Ich zupfte einen der zahlreichen blauen Scheine aus dem Portemonnaie, dabei entdeckte ich seinen Ausweis und schaute schnell auf das Geburtsdatum. August. Er war Löwe und schon neunzehn, bald zwanzig! Eben hatte ich noch gedacht, er solle lieber gehen, aber was wäre, wenn er nicht blind wäre? Dann würde ich hoffen, dass er noch bleiben würde oder dass wir uns ganz bald wiedersähen. Ich würde nach den Ferien in der Klasse und beim Training mit ihm angeben. So süß war der! Und cool. Er war alleine unterwegs und ist schon überall rumgereist und wir haben uns supergut unterhalten und sind durch Paris gelaufen, und sein Hund erst! Voll sweet. Ich schämte mich für meine Gedanken, das wurde mir hier gerade alles zu viel. Vielleicht würde ja ein Wunder geschehen und Ken wäre samt sweetem Hund wie durch Zauberhand einfach nicht mehr da, wenn ich wiederkäme. Und die Küche sollte sauber sein, mein Bett gemacht und das Abendessen (Fischstäbchen, Bratkartoffeln und Mayonnaise, bitte) auf dem Tisch stehen!

Doch meine Wünsche gingen nicht in Erfüllung. Als ich, bepackt mit drei Plastiktüten, wieder die Treppe hinaufgestapft kam und meine Beute auf dem Küchenboden abstellte, war die Küche noch ebenso dreckig wie zuvor, aber leer. Verdammt, ich biss die Zähne zusammen. Wo waren denn alle? Am Ende des langen Flures hörte ich Reden und Lachen. Vorsichtig ging ich darauf zu. Auf dem Boden und entlang der Wände standen unbeschreiblich viele Dinge herum. Kartons stapelten sich in allen erdenklichen Größen, mehrere Farbeimer, ein altes Fahrrad und viele blaue Müllsäcke, teilweise aufgerissen, grüne Holzwolle quoll daraus hervor, als ob jemand gigantische Osternester damit füllen wollte.

»Bin wieder da!«

Erneutes Gelächter. Irgendetwas zog sich in meiner Brust zusammen und ich fühlte mich plötzlich wie in meiner Klasse, wenn alle über eine witzige Anspielung lachten, die ich nicht verstehen konnte, weil ich statt im Unterricht mal wieder auf einem Turnier gewesen war. Ich ging an mehreren Zimmeröffnungen vorbei und schaute in jede hinein. In einem stand ein Klavier und sonst nichts, in einem anderen tanzte der Staub in einem verspäteten Sonnenstrahl über der altbekannten samtgrünen Polstergarnitur mit dem Rotweinfleck. Ein weiteres großes Zimmer, zwei überhäufte Tische, Papiere, Bücher, Aktenstapel, an der Wand unzählige Glaskästen mit aufgespießten Schmetterlingen. Die Wohnung war riesig! Wo hatten wir damals geschlafen, ich konnte mich nicht mehr erinnern. Ich hörte Barbie kurz aufbellen und blieb in der nächsten offenen Tür stehen. »Ich bin wieder da. Mit …«

… dem Essen, hatte ich sagen wollen. Das Zimmer kannte ich. Dort stand das Bett mit den vier Pfosten und dem wunderschönen, altmodischen Stoffbaldachin, der kleine Schreibtisch, der abgewetzte Teppich auf dem Boden. Unser Zimmer von damals, der Teppich war da noch farbiger gewesen, in das Bett hatten wir alle drei nebeneinander gepasst. Mama, Papa und die kleine Wanda! Und wer lag nun darin und streckte ihre vier Pfoten in die Luft? Barbie!

Ken hatte die schweren Fenstervorhänge ein wenig auseinandergeschoben und tat, als ob er hinausschaute.

»Ah, le vin! Perfekt, mon amour!« Aurélie kam auf mich zu und lachte das erste Mal fröhlich auf, seitdem wir die Wohnung betreten hatten. »Er und du, ihr werdet mich ablenken. Von der schrecklich ’endrik!«

»Wie? Ablenken?«

»Ja. Er bleibt hier! Dein Freund und le petit chien bleiben hier.«

Blind Date in Paris

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