Читать книгу Blind Date in Paris - Stefanie Gerstenberger - Страница 9
ОглавлениеMesdames et messieurs, lädies and dschentel-män … in wenigen Minuten erreichen wir Paris, Gare du Nord.«
Wie die anderen Fahrgäste nahm ich die Kopfhörer ab, packte meine Sachen zusammen und vergewisserte mich zum zehnten Mal, dass mein Koffer noch in dem Fach neben der Tür stand. Unruhig wippte ich hin und her. Die Taschen meiner Latzhose waren weit und tief, ich versenkte das Handy auf der einen und das Portemonnaie auf der anderen Seite, so musste ich es gleich am Taxistand nicht aus dem Rucksack hervorholen, den ich jetzt aufsetzte. Ich machte Platz für Ken, der aufgestanden war, um Barbie das Geschirr anzulegen. Interessiert schaute ich ihm dabei zu. Auch die anderen Reisenden beobachteten genau, wie bereitwillig der Hund mit dem Kopf in die Lederschlaufe schlüpfte und von dem blinden jungen Mann mit tastenden Händen den Bauchgurt umgelegt bekam. Jetzt hat Barbie einen Griff zum Anfassen, dachte ich.
»Das macht ihr aber toll, ihr beiden«, sagte eine Frau und drängte sich neben mich auf den Gang.
»Gelernt ist gelernt«, sagte Ken, doch ich ärgerte mich. Die Frau klang so von oben herab, als ob er nicht einmal fünf Jahre alt wäre und sich gerade alleine die Schuhe zugebunden hätte.
»Ein blonder Labrador! Ach, das ist eine so herrliche Rasse!« Die Frau streichelte Barbie, indem sie ihr auf dem Kopf herumklopfte. »Wie heißt du denn, mein Hübscher?«
»Sie heißt Barbie und es wäre schön, wenn Sie sie nicht streicheln, denn sie ist jetzt im Dienst!«
»Ach ja? Und davor hatte sie frei?« Die Frau lachte so hoch, dass es mir in den Ohren wehtat. Die soll Barbie in Ruhe lassen und Ken gefälligst auch, dachte ich.
»Ja. Und hat ihre Freizeit genutzt, um ordentlich Blödsinn zu machen, wie ein ganz normaler Hund … Entschuldige noch mal, Wandá. Jetzt hast du gar nichts zu essen bekommen.«
»Nicht schlimm.« Ich lächelte ihn an. Die Hose mit den Hosenträgern sah echt gut an ihm aus. Auch die weißen Tennisschuhe mit den schwarzen Sohlen waren …fancy, würde Carina sie nennen. Er hatte eine kleine schwarze Reisetasche, deren Riemen er jetzt lässig über seine Schulter warf. Beinahe tat es mir leid, dass ich mich in den letzten Stunden hinter meiner Musik und den Kopfhörern verschanzt hatte. Der Zug wurde langsamer, die Leute drängten dem Ausgang entgegen. Ich prüfte noch einmal, ob ich alles hatte: Rucksack, ordentlich verschlossen auf dem Rücken. Handy links, Portemonnaie rechts, Koffer vorne an der Tür. Im Kopf ging ich bereits durch, was ich als Nächstes tun würde: den Ausgang des vermutlich riesigen Bahnhofs finden, dann ein Taxi und mich in die Rue de … keine Ahnung, Nummer 9 fahren lassen. Très facile, alles easy also, ich musste nur auf meinem Handy in Tante Aurélies Nachrichten nach der richtigen Adresse schauen oder in mein Portemonnaie gucken. Papa hatte mir einen Zettel geschrieben und dorthinein gesteckt.
Ich schaute mich zu Ken um. Wie wollte er sich hier bloß zurechtfinden? Er sah die Waggontür nicht, den Bahnsteig nicht, jeder Mensch konnte ihn betrügen, ihm ein Bein stellen, ihn in die Irre schicken, er konnte ja nicht in die Gesichter schauen, um sie einzuschätzen …
Es dauerte noch ein paar Minuten, wir fuhren durch ein Meer von Gleisen, doch dann wölbte sich das Dach der Bahnhofshalle endlich über uns und der Zug hielt. Es wurde geschubst und gedrängelt, und sobald sie ausgestiegen waren, ließen manche Reisende ihr Gepäck fallen und blieben erst einmal stehen, wo sie waren. Ein Mann schob mich grob zur Seite, eine dicke Frau rannte in mich hinein, um möglichst schnell an mir vorbeizukommen, jemand trat mir von hinten in die Hacken.
Im Trubel des Aussteigens verlor ich Ken einen Moment aus den Augen, doch dann entdeckte ich ihn. Er stand da, das Kinn nach unten gerichtet, Barbie hielt sich dicht neben ihm und schaute aufmerksam zu ihm hoch. Es war laut, das Gemurmel Hunderter Menschen, Lautsprecherdurchsagen, das Geräusch des abfahrenden Zugs vom Nebengleis. Ich drängelte mich zu ihnen durch, Ken bemerkte mich nicht, dabei war ich nur noch einen halben Meter von ihm entfernt. Barbie beachtete mich mit keinem Blick, noch immer lag ihre Konzentration ausschließlich bei ihrem Herrchen. Ich räusperte mich und rief über den Lärm: »Äh, ja, also dann, ich muss los. Wollte mich nur verabschieden.« Ich streckte ihm die Hand hin, die er natürlich nicht sah. Wie sagte man das jetzt? Hallo, ich halte dir hier die Hand hin? Doch nun streckte er schon von selber seine Hand aus. »Au revoir«, sagte er in perfekt klingendem Französisch.
»Tschüss, und alles Gute für die Zeit ganz ohne Plan!«
»Merci! Bei der nächsten Olympiade werde ich dir vor dem Fernseher zujubeln und die Daumen drücken!«
»Danke!« Ich trat einen Schritt zurück und merkte, wie es in meinem Magen zog, und das lag nicht am Hunger. Na super, da traf ich mal einen echt tollen Typ, der auch noch süß aussah, aber dann musste der natürlich ausgerechnet blind sein! Wie ungerecht! Es war alles so kompliziert mit einem, der nicht sehen konnte, anstrengend, immer alles zu erklären, und nichts war selbstverständlich. Aber ich musste los, nicht dass er mich noch fragte, ob wir uns ein Taxi teilen wollten … Kaum gedacht, schämte ich mich für meine Gedanken.
Irgendjemand hinter mir lachte laut auf. Ich drehte mich um. Zwei Mädchen mit langen megablonden Haaren kamen den Bahnsteig entlang, sie zeigten auf uns, grinsten unser Dreiergrüppchen freundlich an und riefen »Ooh, là, lààà« und »Auf Wiedersehen, auf Wiedersehen!«. Sie wirkten sehr vertraut miteinander, beste Freundinnen oder sogar Schwestern. Um nicht mit mir zusammenzustoßen, ging die eine rechts, die andere links an mir und meinem Koffer vorbei. Sie trugen beide schwarze enge Jeans und ärmellose schwarze T-Shirts, ihre Stofftaschen waren bunt und schlugen ihnen an die Knie, in ihre ausgebleichten Haare waren mehrere Zöpfchen geflochten, in den Turnschuhen waren Löcher, daran erinnerte ich mich später noch. Die eine stieß trotz des Bogens, den sie machte, mit mir zusammen. »Oh, sorry!« Wieder lachte sie und griff entschuldigend nach meinem Arm, während sie mit mir einen kleinen Halbkreis vollführte. »Alles gut?«
»Jaja, nichts passiert«, sagte ich, ein wenig überrumpelt von so viel Nähe.
Die viel zu blonden Haare verströmten einen schweren Geruch nach Patschuliparfüm. Blondie Nummer zwei, die ihr Zwilling hätte sein können, schloss sich hinter mir wieder mit Blondie Nummer eins zusammen und legte ihr einen Arm auf die Schulter. »Hast du gesehen, der Typ war blind, oh nee, wie beschissen kann man dran sein!« Sie streckte die Arme aus, als wolle sie sich über den Bahnsteig tasten. Sie lachten, ich biss die Zähne zusammen und schaute nicht zu Ken, sondern ihren Hinterköpfen nach, die auf und ab wippend schnell in der Menge verschwunden waren. Mann, waren die rücksichtslos, sich so über ihn lustig zu machen, ich hätte vor Wut heulen können! Vielleicht hatte Ken ja nichts gehört? Doch das konnte ich nicht nachprüfen, denn nun kamen uns zwei junge Männer in braun gefleckten Tarnanzügen entgegen. Auf dem Kopf trugen sie schmale rote Käppis, vor den Oberkörpern hingen Maschinengewehre, keiner der beiden lächelte. Hinter ihnen schritten gleich noch zwei von dieser Sorte langsam und hoch konzentriert den Bahnsteig entlang, die Finger am Abzug des Gewehrs.
»Warum laufen hier so viele Soldaten rum?«, fragte ich Ken, ganz froh über die Ablenkung. »Mann, du müsstest deren Waffen sehen. Echt bedrohlich!« Na toll, ich konnte es echt nicht lassen, vor ihm über das Sehen zu reden.
»Na ja, seit den vielen Anschlägen herrscht in Paris eigentlich immer eine hohe Sicherheitsstufe. Ich verfolge das in den Zeitungen und Nachrichten.«
»Dann sollte ich mich wohl auch sicher fühlen.« Ich lachte, doch ich hatte nur noch den einen Wunsch, endlich aus dieser lauten Bahnhofshalle zu entkommen.
»Wo musst du hin? In welches Arrondissement?«, fragte Ken.
»Keine Ahnung, ich weiß nicht einmal, wie die Straße heißt, in der meine Tante wohnt, ich muss erst nachschauen.« Ich angelte in den Tiefen meiner Tasche, doch da war nichts, nichts, alles leer und viel zu leicht, ich wusste es schon, als ich mit den Händen unten ankam und trotzdem wie wild herumtastete. Man hatte mich beklaut!
Handy weg, Geld weg, Perso weg, alles weg! Das, wovor mein Vater mich schon so oft gewarnt hatte, war nun eingetreten. Die größte Katastrophe überhaupt! Taschendiebe! Wie hatte das passieren können?! »Ich hab das nicht gemerkt, ich hab das echt nicht gemerkt«, war alles, was ich immer wieder sagen konnte. Und völlig sinnlos an meiner Hose herumklopfen, das konnte ich auch noch. »Wer soll das gewesen sein? Im Zug hatte ich noch alles, das weiß ich! Und beim Aussteigen sind dann alle auf einmal so dicht an mir dran gewesen.«
Doch je länger ich darüber nachdachte, desto klarer sah ich es vor mir. »Es müssen die zwei blonden Mädchen gewesen sein, die so affektiert ›Ooh, là, lààà! Auf Wiedersehen, auf Wiedersehen!‹ gerufen haben, bevor sie an uns vorbeigegangen sind.«
»An das ›Ooh, là, lààà!‹ erinnere ich mich. Die eine hat auch noch ›Oh, sorry‹ zu dir gesagt. Und ›Alles gut?‹«
»Ja genau, und ich Depp sag noch: ›Jaja, nichts passiert‹, dabei hat sie mir in dem Moment das Portemonnaie aus der Tasche gezogen. Und gleichzeitig das Handy. Meine ganzen Fotos! Kontakte! Chats!«
»Ich habe sie gerochen«, sagte Ken und starrte mit seinem fernen Blick verträumt vor sich hin. »Sie duftete irgendwie so nach …«
»Kenneth! Sie roch nach billigem Patschulizeug, hatte Löcher in den Turnschuhen und hat mich bestohlen!«
»Jaja, ich weiß. Ich hab das zwar nicht gesehen, aber jetzt ist mir alles klar. Sie ist mit dir zusammengestoßen, oder? Ganz unabsichtlich natürlich. Die alte Masche.«
»Wir müssen zur Polizei! Ich muss meinen Vater anrufen, ach Mist, ich habe ja kein Handy mehr!«
»Kannst meins haben!« Ken bückte sich und streichelte Barbie. »Geht gleich los, meine Kleine.«
»Aber ich kann seine Nummer ja gar nicht auswendig.« Ich schlug mir mit der Hand an die Stirn, nicht zu doll, die Nase nahm alle Berührungen noch ziemlich übel.
»Dann ruf deine Mutter an oder irgendjemanden, dessen Nummer du weißt.« Er hielt mir sein Handy hin. Oh nein, jetzt musste ich auch noch seine Hilfe annehmen, Hilfe von einem Blinden, toll.
»Die von meiner Mutter weiß ich auch nicht. Irgendwas mit 0178. Außerdem ist die jetzt sowieso nicht zu erreichen. Die sitzt in einem Flugzeug nach Los Angeles.«
»Ach echt? Was macht sie da?«
»Sie spielt. Cello. In einem Orchester!« Meine Stimme wurde immer lauter. »Sorry, Ken, aber das ist doch jetzt echt egal, ich weiß gerade wirklich nicht, was ich tun soll!« Ich ging auf und ab und schlug die Hände gegen die leeren Taschen meiner weiten Latzhose. Der Bahnsteig hatte sich geleert, nur Polizisten standen noch herum und auch die bewaffneten Soldaten kamen langsamen Schrittes wieder zurück. Wen sollte ich um Hilfe fragen? Musste ich jetzt nicht zur Polizei? Was hätte Papa in so einem Fall gemacht?
»Zu Hause! Du kannst zu Hause anrufen«, fiel Ken in diesem Moment ein. »Seine eigene Festnetznummer weiß man doch!«
Ja, das stimmte. Unsere Nummer in Bremen wusste ich natürlich. Aber wollte ich Papa überhaupt anrufen? Er würde mir nur Vorwürfe machen, warum ich nicht besser aufgepasst hätte.
»Nee. Das kann ich jetzt nicht.«
»Warum nicht? Kostet mich nichts. Und dann weißt du wenigstens die Adresse deiner Tante. Könnte das in einer Stadt wie Paris nicht irgendwie ganz nützlich sein?« Er grinste in meine Richtung. Von Weitem würde man sicher nicht denken, dass er blind ist, dachte ich, doch ich war zu nervös, um mich an seinem Humor zu erfreuen.
»Dann fragt er nur, warum ich die Adresse nicht auswendig kann und warum ich mich nicht besser vorbereitet habe … Ach Scheiße!« Ich schlug mit der Faust auf meinen Koffer und drehte eine frustrierte Runde um ihn herum. »Ich bin so blöd!«
Ich schaute zu Ken, doch was war mit dem denn jetzt los? Seine geschlossenen Augenlider zuckten mit einem Mal, er presste sie fest zusammen, wie jemand, der Schmerzen hatte, seine Stirn war vor lauter Anstrengung in Falten gelegt. Oh Gott, bekam er hier gerade einen Anfall oder was? Erst beklaute man mich und dann auch das noch … Ich schaute hektisch auf seinen Hund, los, tu doch was, sagte ich in Gedanken. Ken schien zu spüren, dass es beängstigend aussah, denn nun setzte er seine Sonnenbrille auf und seine Stirn entspannte sich wieder.
»Gibt es ein Problem, Mademoiselle, Monsieur?«, fragte ein Polizist auf Französisch und trat an uns heran. Über seiner blauen Uniform trug er eine schusssichere Weste.
»Oui«, antwortete Ken mit der normalsten Stimme der Welt. Ich atmete auf.
»Man hat meiner Freundin gerade das Portemonnaie und das Handy gestohlen. Zwei Mädchen, Taschendiebe, vermutlich mit uns aus dem Zug gestiegen, mitten auf dem Bahnsteig!«
Ich hätte diesen Umstand nie so schön auf Französisch ausdrücken können, doch ich war froh, dass ich alles verstanden hatte.
»Kannst du die Personen beschreiben?«, übersetzte Ken die Frage des Polizisten für mich. »Ich kann es nämlich nicht so gut«, sagte er mit einem Grinsen zu dem Beamten. »Bin blind.« Aha, blind hieß also auf Französisch aveugle, registrierte ich, brachte aber nicht mehr als ein schüchternes Nicken für den Polizisten zustande. Was würde mein Vater sagen?, ging mir wieder durch den Kopf. Woher sollte ich jetzt Geld bekommen? Wie Tante Aurélie benachrichtigen? Und wie sollte ich, falls ich wirklich zu feige war, ihn anzurufen, jemals alleine die Straße finden, in der Aurélie wohnte? Ich hatte nur noch wenige Erinnerungen daran, schließlich war ich erst acht gewesen, als ich das letzte Mal mit den Eltern bei ihr zu Besuch war. Es war ein Eckhaus, das von zwei Straßen eingerahmt wurde, vorne war ein kleiner Platz, im Hof gab es ein Fotoatelier, man musste durch eine Einfahrt gehen, um zu dem Eingang zu gelangen. Der Hof war mit buckeligen Steinen ausgelegt und überall hatten Tontöpfe mit rankenden Pflanzen herumgestanden und Frangipani- bäumchen, diesen lustigen Namen hatte ich nie vergessen. Sie blühten wie wild und schickten einen süßen Duft in die offenen Fenster der Wohnung darüber. Daran konnte ich mich noch erinnern. Etwas schwierig nur, mit diesen Erkennungsmerkmalen auf die Suche zu gehen. Wie viele Eckhäuser, wie viele Hinterhöfe mit Frangipanibäumchen und anderen Topfpflanzen, die die Wände bis zum ersten Stock hochrankten, mochte es in Paris geben?
»Komm! Wir gehen mit zur Polizei und geben eine Anzeige auf«, sagte Ken in diesem Moment. »Barbie, voran«, sagte er leise und ging neben dem Polizisten her, ganz normal, sogar richtig schnell, ich kam mit meinem Koffer kaum hinterher. »Warte«, rief ich, »musst du nicht irgendwohin, also, wirst du nicht erwartet? Holt niemand dich ab?«
»Nö«, sagte er, »ich habe Zeit. Ich bin frei. Die Leute, die ich vielleicht besuchen will, wissen noch gar nicht, dass ich in der Stadt bin. Das eilt also nicht. Dich bei der Tante abzuliefern, ist doch wichtiger. Nicht dass sich dein Vater Sorgen macht!«
Ich rollte mit den Augen. Was hatte er bloß mit meinem Vater? Genügte es nicht, dass ich herumtrickste, um Papa nicht sagen zu müssen, was passiert war? Musste Ken, eine zufällige Zugbekanntschaft, mich auch noch ständig darauf aufmerksam machen?
Auf der Wache machte ich, so gut es ging, Angaben zu meiner Person, man befragte mich zu den beiden Mädchen, über den Inhalt des Portemonnaies, 200 Euro in bar, und die besonderen Kennzeichen, die mein Handy aufwies. »Es steckt in einer weißen Hülle, hintendrauf ist der Scherenschnitt eines Mädchens abgebildet, das mit einem Reifen tanzt. Es steht mit einem Bein auf den Zehenspitzen und hat den anderen Fuß weit über den Kopf gestreckt und hält ihn mit beiden Händen fest.« Je genauer ich die Figur beschrieb, desto eher würde man mir das Handy wiederbringen können, hoffte ich.
Ken übersetzte. Der Polizist schaute mich verwundert an: »So etwas geht wirklich?«, fragte er auf Französisch. »Ich habe mich immer gefragt, was man mit dieser Fähigkeit anfangen kann.«
»Être belle?«, schlug Ken vor.
Was? Schön aussehen? Na danke! Wenn du wüsstest, wie viel Training dazu notwendig ist. Ich schaute ihn wütend an.
»Medaillen gewinnen!«, fiel ihm dann noch ein. »Bei der nächsten Olympiade!«
»Meinen Sie, Sie können die Mädchen finden?«, fragte ich den Beamten mit zitternder Stimme. »Ich brauche mein Geld und mein Handy! Dringend!«
Irgendwann standen wir wieder vor der Wache. Ich schaute zurück auf die milchige Glaswand, auf der in großen Lettern das Wort POLICE zu lesen war. »Hier ist alles videoüberwacht bis auf diesen blöden Bahnsteig!« Ich war immer noch verzweifelt. »Ob sie die kriegen? Eher nicht, oder?«
»Wenn die beiden das hauptberuflich betreiben und sich erwischen lassen, dann hast du vielleicht eine Chance.« Ken war die Ruhe selbst. Kein Wunder, ihm hatte man ja seinen Besitz nicht direkt vom Körper weggeklaut. Nein, das war nur mir passiert, mir, die sehen konnte. Wie peinlich war das denn?
»So. Hast du dich nun entschieden? Papa informieren? Ja oder nein?«
»Nein. Also, lieber wäre mir, ich würde es so schaffen.« Mir kamen die Tränen, plötzlich vermisste ich Mama so sehr wie noch nie. Mit ihr hätte ich darüber reden können, aber sie war ja immer noch in der Luft. Ich wischte mir die Nässe aus den Augen. Gott sei Dank sah Ken mich nicht.
»Jetzt sei mal nicht traurig, wir kriegen das hin!«
Mist, ich hatte nicht leise genug geschnieft.
»Wie heißt deine Tante denn mit Nachnamen? So wie du? Wie heißt du überhaupt mit Nachnamen?«
»Canet.«
»Und die Tante auch?«
»Nein, ich glaube nicht. Tante Aurélie war mal verheiratet, hatte sich aber damals auch schon einen Künstlernamen zugelegt. Papa hat sich tierisch darüber aufgeregt.«
»Und der lautete?«
»Keine Ahnung, irgendwas, was gut zu Aurélie und einer Fotografin passte, das ist sie nämlich.«
»Ich google das mal. Vielleicht finden wir ja was.« Er holte sein Handy hervor und ich sah ihm neugierig zu. Wie wollte er das denn machen? Er sah doch nichts! Mit dem Zeigefinger strich er schnell über den schwarzen Bildschirm, eine Stimme rappelte in Windeseile »Wetter, Kalender, Whats- App, Kamera, Wecker, Google« herunter. Er hörte zu, tippte dann zweimal auf den Bildschirm und sprach »Aurélie, Paris, Fotografin« hinein.
Und richtig, die Stimme schlug ihm in rasender Geschwindigkeit mehrere Optionen vor.
»Was? Ich habe nichts verstanden«, sagte ich und fühlte mich schon wieder saublöd.
»Aurélie Pipitou, Aurélie Facebook, Aurélie Babybauchfotos Eiffelturm«, wiederholte Ken.
»Wie kannst du das verstehen? Das hört sich an, als ob man Mickymaus viel zu schnell vorspult. Das ist doch unmöglich!«
»Gewöhnung!« Er grinste, na ja, eher war es ein Lächeln. Ich fand sein Lächeln immer noch superschön, und obwohl es mir nicht weiterhalf, wärmte es mein Herz doch ein wenig.
»Ich bin nicht der Typ für schnell-schnell, hast du vielleicht ja schon gemerkt, aber die Vorleserei in normaler Geschwindigkeit nimmt viel zu viel Zeit in Anspruch, also habe ich sie schneller eingestellt. Machen wir alle so.«
»Aha … Also Pipitou heißt sie nicht, daran würde ich mich erinnern.«
Ken seufzte und steckte das Handy in die Hosentasche. »Dann müssen wir es anders probieren. Wollen wir rausgehen, hier ist es so schattig. Und laut.«
Ich stimmte zu. Doch Ken blieb erst mal stehen. »Wo geht es lang? Wo ist der nächste Ausgang?«, fragte er.
»Ziemlich geradeaus.« Ich zeigte auf den hellen Bogen am Ende der Halle, wo ich Sonnenlicht sah. Wieder hatte ich vergessen, dass er mich ja nicht sehen konnte, doch Ken schien meine Angabe zu reichen, er gab seinem Hund einen Befehl, »Barbie, such Eingang!«, und gemeinsam machten wir uns auf den Weg. Barbie führte ihr Herrchen mit Umsicht zwischen den Menschenmassen hindurch, sehr oft stoppte sie, wenn Leute mit ihren Rollkoffern dicht vor ihr einscherten oder eilig ihren Weg kreuzten. Ich wunderte mich. Wie rücksichtslos die waren! Die hatten doch zwei Augen, die sahen doch, dass Ken nicht sehen konnte und auf seinen Hund angewiesen war.
Vor dem Bahnhof war es noch lauter. Der Lärm war unbeschreiblich, das Gelaber der Leute auf Französisch, Hundegebell, Autos, knatternde Motorroller und sich leise anschleichende Elektroscooter, deren Fahrer die Passanten mit hektischem Klingeln aus dem Weg trieben. »Ganz schön was los, oder?«, sagte Ken. Er streckte sein Gesicht in die Sonne und grinste glücklich. »Paris, je suis revenu!«
Ja prima, dass du zurück bist. Paris freut sich und macht ’ne extralaute Party für dich. Ich fühlte mich verlorener als je zuvor.
»Lass uns in ein Bistro gehen!«, rief Ken mir über den Lärm zu. »Da können wir in Ruhe überlegen. Sind wir am Südausgang?«
»Keine Ahnung.«
»Ich glaube, wir sind am Südausgang. Da vorne quer über die Straße müsste eigentlich das Chez Gustave sein.«
Ich suchte die Hausfassaden ab. »Wo soll das sein? Hier gibt es mehrere Straßen, die kreuzen sich alle!« Doch über den tausend Rollern und den vielen Autos entdeckte ich tatsächlich nach einiger Zeit das Schild des Bistros.
»Du kennst dich aber echt aus!«
»Na ja, geht so. Früher gab es ganz in der Nähe noch ein altes Kino, in dem habe ich am Sonntagmorgen oft Filme gesehen.«
»Oh, das tut mir leid …«
»Wieso?« Er sah genervt aus. »Ich gehe immer noch ins Kino, viele Blinde gehen gern ins Kino, wenn du wüsstest, was ich alles sehen kann … ach, vergiss es!«
»Sorry, hab nicht nachgedacht!« Verdammt, bei ihm musste man echt höllisch aufpassen. »Warst du alleine im Kino?«
»Nein. Mit … ach egal, mit meinem Vater. Zu der Zeit war der noch ein richtig guter Typ.«
Hört sich nach einem kleinen Problem zwischen den beiden an, dachte ich. Aber na ja, Väter waren eben manchmal anstrengend.
»Danach sind wir immer in das Bistro gegangen und haben croque monsieur gegessen. Kino schmeckt für mich noch heute nach überbackenem Toast …«
Aha. Ich wollte mit ihm keinesfalls noch weiter über seine Zeit als sehendes Kind reden. Mein Koffer rumpelte über das Trottoir. Neben mir, vor mir, hinter mir, überall waren Menschen. Und dieser Verkehr erst! Mir lief der Schweiß über den Rücken. Wie sollte ich in diesem Gewühl vorwärtskommen, noch dazu mit Ken im Schlepptau? »Da vorne ist ein Zebrastreifen, wollen wir da rüber?«
»Klar. Barbie kann das.«
Ich beobachtete, wie die Hündin ihr Herrchen umsichtig an Pollern und Mülleimern vorbeiführte, die im Weg standen. Sie hielt brav am Zebrastreifen, bevor er dann wieder mit ihr losging, und wich schlecht geparkten Motorrollern und sonstigen Hindernissen aus. Die Tische draußen waren alle besetzt, wir entschieden uns hineinzugehen. Kurz darauf saßen wir im Inneren des leeren dunklen Bistros und tranken eine eiskalte Cola.
»Gute Barbie, fein, ganz fein gemacht«, sagte Ken und steckte dem Hund etwas aus seiner Hemdtasche zu.
Ich schüttelte langsam den Kopf und lächelte. Unglaublich, wozu Barbie in der Lage war … Er konnte sich wirklich auf sie verlassen.
»Alors, was wissen wir über die Umgebung, in der deine Tante wohnt?«
»Äh. Nichts. Paris eben.«
»Gab es irgendwas Auffälliges in der Nähe, einen Park, eine Kirche, ein Sportstadion?«
»Keine Ahnung. Ich war acht!« Ich legte meine Hände auf den Tisch und den Kopf darauf. Mein Gesicht war heiß. Trotz der Cola war ich müde, ich war erschöpft, ich war beklaut worden. Niemals hätte ich gedacht, dass sich dieser Zustand so furchtbar anfühlte. Was diese Mädchen getan hatten, hatte mich gedemütigt, ich fühlte mich schmutzig, ausgelacht, aus der Bahn geworfen.
»Ein Friedhof, Bahngleise, eine Feuerwache, ein …«
»Ein Friedhof?« Ich hob den Kopf und setzte mich wieder aufrecht hin. »Ja, wir waren mal auf einem Friedhof.«
»Der in der Nähe lag?«
»Ich glaube schon.«
»Hmm. Gut. Es gibt im Pariser Stadtgebiet nur drei große Friedhöfe, die man im Allgemeinen besucht. Es waren doch keine lieben Haustiere dort begraben, sondern Menschen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Keine Tiere.«
»Nichts Unterirdisches? Nicht die Katakomben mit aufgereihten Schädeln an den Wänden?«
»Nein.« Wer machte denn so was?
»Ihr habt keine kleinen Kiesel auf die Grabsteine gelegt?«
»Nein. Wieso sollten wir?«
»Sonst wäre es der jüdische Friedhof gewesen. Das mit den Steinen machen die Juden, wenn sie ihre Toten besuchen. Alte Tradition. Möchtest du wissen, warum?«
»Wenn du nichts dagegen hast, jetzt gerade nicht.«
Mann, dieser blinde Typ weiß ja verdammt viel, dachte ich. Na ja, aber dafür weiß ich alles über meinen Sport, das ist eben meine Welt. Und was sagt Papa immer? Man muss im Leben Prioritäten setzen.
»Dann sprechen wir von einem der großen drei: Père Lachaise, Montmartre, Montparnasse. Irgendein berühmter Toter, eine Persönlichkeit, an die du dich erinnerst?«
»Ich war acht!«, wiederholte ich.
»Na und? Ich erinnere mich noch an alles Mögliche, als ich acht war.«
»Kann ja sein, aber doch nicht an Tote auf dem Friedhof, oder?«
»Tote zu Hause. Mein Opa; ganz kalt war er, aber er lächelte. Hat er sonst nie gemacht.«
Ich holte tief Luft. Ob Ken seine sehenden Erinnerungen wie einen wertvollen Schatz hütete? Und was tat er, um diesen Schatz zu erhalten?
»Hast du schon Gesichter von früher vergessen? Sorry, wenn ich so neugierig bin.«
»Ja, manche verblassen, das ist Mist.« Er lachte. »Also. Was haben wir noch?«
»Nichts.« Ich sah in mein leeres Colaglas.
»Doch! Du musst dich nur erinnern. Alles kann wichtig für uns sein. Was hat deine Mutter auf dem Friedhof gemacht oder dein Vater? Und auch nicht unbedingt dort, sondern auf dieser Reise, hier in Paris, überleg!«
»Wir haben Schnecken gegessen.«
»Okay, das kann man in dieser Stadt leider überall.«
»Und Papa hat Rotwein auf Aurélies Sofa geschüttet, aber das war dunkelgrün, den Fleck sah man gar nicht.«
»Schöne Geschichte, bringt uns aber nicht wirklich weiter.« Ken tastete vorsichtig nach seinem Glas und trank einen Schluck.
»Und Mama hat immer ein Lied gesungen, das hat sie dann nachher auch auf dem Cello gespielt. Aurélie hat dazu ganz übertrieben getanzt. Das war echt lustig.«
»Wie ging das?«
»Ich weiß nicht, das gab es auf Französisch und auch auf Deutsch. Irgendwas mit achtzehn Jahr!«
»Dalida! Il venait d’avoir dix-huit ans …« Ken sang den Text, laut und erstaunlich melodiös, als ob er sein Leben lang darauf gewartet hätte.
»Ja, das war es! Er war gerade achtzehn Jahr, fast noch ein Kind …«, sang jetzt auch ich.
»Ich wusste, du würdest dich an etwas Besonderes erinnern! Dalida war eine berühmte Sängerin, sie liegt auf Montmartre, auf ihrem Grab steht eine lebensgroße Statue von ihr. Total schön ist die!«
»Aha. Und das bringt uns weiter?«
»Wenn ihr wirklich zu Fuß dorthin gegangen seid, grenzt das auf jeden Fall unser Gebiet ein! Montmartre selbst oder ein Stück um Pigalle herum oder das Batignolles-Viertel, da habe ich übrigens gewohnt, damals mit meinen Eltern.«
»Es ging immer bergauf, daran erinnere ich mich auch noch. Papa hat mich für meine Ausdauer gelobt und dass ich nicht gemeckert habe.«
»Bergauf! Super! Richtung Montmartre geht es bergauf und hinten Richtung Clignancourt auch wieder hinunter. Wir sind auf der richtigen Fährte.« Er schwenkte sein Handy vor meinem Gesicht herum. »Ich geb mal Aurélie, Fotografin, Galerie, Montmartre oder einen der anderen Stadtteile ein, und zwar am besten auf Französisch. Vielleicht spuckt Google uns was aus.«
Wieder bewunderte ich, mit welcher Schnelligkeit er sein vor sich hin redendes Handy bediente, dem er durch weitere Wischer allerdings immer wieder das Wort abschnitt.
Google spuckte einige Sekunden später tatsächlich etwas aus, in eiligem Französisch ratterte es die Einträge herunter. Wieder verstand ich kein Wort, doch Kens Miene erhellte sich: »Galerie Le Chat, Rue Legendre Nummer 4, in Batignolles, meinem alten Viertel! Da stellt eine Aurélie Schneider aus, im Katalog gibt es drei Einträge.«
»Schneider! Das ist sie, Aurélie liebt die Schauspielerin Romy Schneider. Wie konnte ich das nur vergessen! Mein Vater hat sich tierisch aufgeregt über den deutschen Künstlernamen, aber Mama fand’s gut!«
»Mama findet öfter mal gut, was Papa blöd findet, oder?«
»Manchmal. Aber sie streiten eigentlich sehr selten. Das ist echt schön bei uns.«
Ken hob die Hand und machte ein kurzes Zeichen, als ob er zahlen wollte.
»Woher weißt du, dass der Kellner dort steht?«, flüsterte ich.
»Na, der trocknet Gläser ab, das hör ich doch«, war seine Antwort.
Er bezahlte und ich musste mich zurückhalten, um nicht zu fragen, wie er die Euroscheine voneinander unterscheiden konnte. »Ich leihe mir von Aurélie Geld und dann gebe ich dir alles, was du jetzt für mich ausgibst, sofort zurück!«
»Ja klar. Kein Problem.«
Er war so verdammt nett, er sprach Französisch, ich musste mich nicht schlecht fühlen, weil ich kein Geld hatte. Und das alles, obwohl er mich nicht sehen konnte. Oder vielleicht gerade deswegen? Ich tastete mal wieder an meiner verpflasterten Nase herum, das hatte sich in den letzten Tagen zu einer echten Manie entwickelt. Was blieb von mir, wenn er nicht meine schmale, durchtrainierte Figur wahrnahm, um die mich fast alle Mädchen in der Klasse beneideten? Wenn mein langes, etwas welliges Haar für ihn unsichtbar blieb, meine dunkelbraunen Augen ihn vergebens anblitzten, der Mund, mit dem ich recht zufrieden war, und überhaupt mein ganzes Gesicht, keine Rolle für ihn spielte? Wer war ich dann noch? Auch meine Erfolge in der RSG waren für ihn unbedeutend. Er würde mich nie sehen und bewundern können, auch wenn er das mit Olympia erzählt hatte … Ich zuckte mit den Schultern. Es blieb also nicht viel. Er würde sich nie in mich verlieben oder so, obwohl ich das ja gar nicht wollte. Wollte ich nicht? Quatsch, wirklich nicht. Ich war nur irgendein Mädchen, das im Moment auf ihn angewiesen war, so viel stand fest.
Ich sah auf die Uhr über der Theke, es war schon nach fünf, Papa machte sich bestimmt schon Sorgen, weil er nichts von mir hörte, ich musste ihn sofort anrufen. Ich lieh mir Kens Handy, ging ein paar Schritte Richtung Toiletten und wählte die Nummer. Papa war nicht zu Hause, nach einigem Klingeln sprang der Anrufbeantworter an. Manchmal hatte selbst ich Glück! Ich hinterließ eine Nachricht, dass mein Handy keinen Akku mehr hatte, dass bei Aurélie alles in Ordnung sei, dass wir schon in einem typischen Café säßen und ich nur noch Französisch quatschen würde.
»Geschafft«, sagte ich zu Ken und gab ihm sein Handy zurück.
Wir machten uns auf den Weg nach draußen. Wieder führte Barbie Ken durch Tische und Stühle, ohne ihn irgendwo dagegenrennen zu lassen. Gar nicht so einfach, in dem vollgestellten Café.
»Und nun? Wie kommen wir dahin?« Eigentlich müsstest du als Sehende ja jetzt die Führung übernehmen, Wanda, dachte ich, aber ich hatte schon in Bremen Schwierigkeiten, den Stadtplan zu lesen, wenn ich mich nicht auskannte. Ich benutzte selten Bus oder Bahn, und wenn ich irgendwohin musste, fuhr Papa mich meistens.
»Ganz einfach, mit der Métro eine Station mit der 2, dann mit der Linie 4 in Richtung Porte Dauphine und dann steigen wir am Place de Clichy aus«, sagte Ken. »Von da aus sind es nur noch ein paar Hundert Meter.«
»Woher weißt du das noch so genau?«
»Die Tour habe ich ganz oft machen müssen, mein Zahnarzt war hier in der Nähe. Irgendwann auch alleine nach der Schule, meine Eltern haben beide gearbeitet. Ich bekam schon ziemlich früh eine Zahnspange und dazu dann die immer dicker werdenden Brillengläser, weil ich ja immer weniger erkennen konnte. Ich sah super aus. Stell dir eine Eule mit schiefen Zähnen vor, dann hast du mich vor Augen. Oder besser, stell dir eine kleine, nasse Eule vor. Mit elf hatte ich den Tick, mir literweise Gel in die kurzen Haare zu schmieren.« Er grinste mich an, während er neben mir herlief.
»Kleine, nasse Eulen haben doch keine Zähne«, protestierte ich lachend. Auf einmal fühlte es sich ganz gut an, mit ihm zusammen über die Straßen zu laufen, obwohl er blind war.
»Ein bisschen Fantasie bitte, Madame!«
Wir hatten den Eingang des Gare du Nord erreicht. »Bevor wir uns jetzt wieder durch diesen vollen, lauten Bahnhof schlagen, um unten in die Métro zu gelangen, lass uns hier den Boulevard de Magenta noch ein Stück weiter hinuntergehen bis zur nächsten Station, da sind wir gleich auf der richtigen Linie.« Er zeigte in eine Richtung. Ich schaute mich irritiert um, bis ich einen Straßennamen entdeckte. Boulevard de Magenta stand an einem Schild an der Hauswand. »Wow. Wie kannst du denn wissen, wo wir sind?«
»Ach, ich habe immer noch einen ganz guten Orientierungssinn, weil ich erst spät blind geworden bin. Darüber bin ich echt froh! Geburtsblinde haben es da schon ein bisschen schwerer.«
Geburtsblinde … Ich schüttelte den Kopf, aber das sah Ken ja nicht. Wir liefen den Boulevard unter dem Schatten der Bäume entlang und mit uns unheimlich viele andere Menschen. Überall waren Geschäfte, neben uns knatterten Motorroller, Autos und große Lieferwagen über die breite Straße. »Ist Paris immer so voll?«
»Cool, oder? Ist was los.«
»Die Häuser sind hier so schön«, sagte ich andächtig, während ich nach oben schaute. »So hoch und weiß mit diesen Borten, Gittern und kleinen Balkonen, die fand ich als Kind schon so toll. Nur die vielen Leute stören ein bisschen.«
Wir kamen langsam voran, das heißt, es wäre schon schneller gegangen, wenn Barbie nicht immer wieder Hindernissen hätte ausweichen müssen. Ein Pulk von Menschen, der ihnen keinen Platz machte, Mülleimer, Briefkästen, Caféstühle, die weit auf den Bürgersteig ragten.
An der Métrostation blieb Ken direkt vor dem Automaten stehen. »Die Pariser Métro ist für französische Blinde umsonst, aber nicht für Touristen aus dem Ausland.«
Ich hatte schnell verstanden, wie der Automat funktionierte, und war froh, dass ich diesmal selber etwas tun konnte. Bezahlen musste Ken dennoch für mich.
»Wo müssen wir hin?«
»Nach unten, die Linie 4 fährt oben, aber wir müssen runter, Linie 2, Richtung Porte Dauphine.« Er passierte das Drehkreuz, Barbie quetschte sich neben ihm hindurch, blieb dann aber seitlich, direkt vor der Rolltreppe stehen.
»Was ist? Möchte sie nicht, dass du Rolltreppe fährst?« Ich hatte Mühe, mit meinem Koffer nicht im Drehkreuz stecken zu bleiben und gleichzeitig das Ticket wieder an mich zu nehmen, das neben mir durch einen Schlitz hochflutschte.
»Nein, das muss sie mir verbieten, siehst du, sie sperrt mich! Rolltreppen sind nicht so toll für einen Blinden, aber für sie ist es einfach zu gefährlich, wegen ihrer Pfoten.«
Barbie hatte sich quer vor Kens Knie gestellt, sie schaute ihn treuherzig an, ließ das Herrchen aber nicht durch.
»Feiner Hund«, lobte Ken. »Na komm, hinter uns warten schon die Leute, wo ist die Treppe, such, Barbie! Such Treppe abwärts, Treppe ab!«
Barbie führte ihn zu der schmalen Treppe, blieb aber wiederum oben an der ersten Stufe stehen. »Ich fahre mit meinem Koffer Rolltreppe«, rief ich, »ist das okay? Schafft ihr das alleine?«
»Absolut! Wir sind Reisende, wir machen das schon etwas länger zusammen.«
Ich biss mir auf die Lippen. Wie dumm von mir, jetzt behandelte ich ihn auch schon so von oben herab wie die Frau aus dem Zug.
Am Place de Clichy kamen wir wieder ans Tageslicht. »Mein altes Viertel!« Wieder kniff Ken seine Augen für einen Moment fest zusammen, dann aber suchte er mit seinem Gesicht die Sonne, die langsam hinter den Häusern verschwand, und tat, als ob er diesen Moment genießen würde. Was machte er hier? Meditieren oder was?! Ich schaute mich um und seufzte tief. Vor mir lag ein großer Verkehrskreisel, von dem mindestens fünf Straßen abgingen. Blumenläden, Cafés, altmodische Straßenlaternen, Starbucks, Restaurants mit tief herabgezogenen roten Markisen, ein mächtiges Kriegerdenkmal in der Mitte. Paris war riesig, ob wir Tante Aurélie hier jemals finden würden?
»Warum der Seufzer?« Ken war aus seiner Tiefenentspanntheit erwacht. »Ein gigantischer Platz, oder? Da vorne scheint es immer noch die boulangerie zu geben, riechst du das? Mhmm, frisches Baguette!«
Ich schnupperte, roch aber nur Abgase. »Es gibt Hunderte solcher Plätze in Paris, Tausende Bäckereien, eine Million Straßen …«
»Stimmt, ist aber nicht so tragisch, von den Millionen Straßen brauchen wir nur die kleine Rue Blot, da schlüpfen wir rein und gehen immer geradeaus, bis wir die Rue Legendre kreuzen, da muss dann irgendwo die Galerie Le Chat sein.«
Google Maps fand die schmale Straße und sagte uns auf Französisch, wie wir zu gehen hatten, Ken übersetzte Barbie die Anweisungen in »Voran! Barbie, such Weg!« und schon fünf Minuten später standen wir vor einem alten Haus mit zwei großen Bogenfenstern, die bis zum Boden reichten.
Ich war unsicher, sollte ich Ken jetzt beschreiben, was ich sah? Ich zögerte einen Moment, doch dann trat ich näher an die Fenster heran und tat es einfach: »Also, die Galerie ist ziemlich groß, dahinten scheint es noch weiterzugehen, sie ist aber auch ganz schön leer, von der Decke hängt ein Kronleuchter, der mit Fotos in Postkartengröße behangen ist, soll wohl ein modernes Kunstwerk sein. Die Wände sind weiß und kahl, aber Moment – also dahinten hängt noch was, zwei Fotos in Schwarz-Weiß. Keine Ahnung, ob die von Aurélie sind.«
»Gehen wir rein?«
»Äh. Ich sehe aber niemanden. Vielleicht haben die ja gar nicht auf.«
»Irgendwer wird dadrin schon rumsitzen. Wir suchen doch nur nach Aurélie Schneider, keine große Sache. Such Eingang!« Ken, besser gesagt, Barbie übernahm die Führung. So von hinten sieht er richtig cool und selbstbewusst aus, dachte ich, bevor ich ihm durch die Tür folgte.
In der Galerie war es still. Ich schaute mich verlegen um.
»Hallo, ist jemand zu Hause?«, rief Ken auf Französisch gegen das hohe Deckengewölbe, so laut und überraschend, dass ich zusammenschreckte. Selbst das schien Ken gehört zu haben, denn er sagte: »Sei ganz cool, wir finden sie. Falls wir es nicht anders hinbekommen, könntest du aber auch anfangen zu weinen. Ist nur ein Vorschlag.« Er lächelte.
»Pff. Ich werde hier doch nicht losheulen!« Ich sah ihn empört an und marschierte weiter in die Galerie hinein.
»Bonjour!« Aus dem Nichts tauchte ein kleiner Mann in einem sommerlichen Anzug auf. Seine wenigen Haare waren grau, lang und aus der Stirn gekämmt, er sah mich über seine randlosen Brillengläser vorwurfsvoll an, empfindlich gestört in seinem Frieden.
Klar, wir sehen ja auch seltsam aus, dachte ich sofort. Ich mit meiner Nase und dem Koffer, Ken mit Reisetasche und seinem Hund. Wir sind ganz bestimmt nicht zum Bilderkaufen hier …
»Bonjour, Monsieur! Wir suchen eine Künstlerin, die bei Ihnen ausstellt«, sagte Ken in seinem lässigen Französisch. »Madame Aurélie Schnai-dèrr?« Er sprach den Namen so falsch aus, wie die Franzosen es wahrscheinlich alle taten.
»Madame Schnai-dèrr?«, gab der Mann jetzt ebenso zurück. »Ah, oui …?«
Ken redete eine Weile mit ihm, zeigte auf mich (woher wusste er schon wieder so genau, wo ich stand?) und schilderte in wenigen Worten, dass mir am Bahnhof alles gestohlen worden sei und wir nun unbedingt Aurélies Adresse bräuchten.
Ich lächelte den Galeristen so überaus freundlich an, dass meine operierte Nase wehtat, doch der Typ schüttelte nur irgendwann den Kopf. »Non, ce n’estpaspossible!« Es täte ihm leid.
»Datenschutz«, sagte Ken grinsend zu mir, doch ich merkte, dass er genervt war, so gut kannte ich ihn nun schon. »Von wegen Datenschutz! Das Wort hat der gestern zum ersten Mal gehört.«
»Genau! Außerdem stellt meine Tante doch hier aus!« Meine Stimme wurde immer lauter. »Sie stellt aus, man kann ihre Bilder kaufen, man kann in ihr Atelier gehen und sich dort eins aussuchen! Das habe ich selbst gesehen. Früher. Also was soll das? Frag ihn bitte!«
»Gern«, sagte Ken und übersetzte Wort für Wort, was ich gesagt hatte.
»Ce n’est pas possible!«, kam es leise und arrogant von dem Galeristen-Typ. »Das ist nicht möglich, sie möchte keine Kunden mehr empfangen.«
»Wie soll ich sie denn sonst finden!?« Plötzlich schlug eine Welle von Selbstmitleid über mir zusammen, ich war nicht zum Spaß hier, ich war bestohlen worden, das hatte der Idiot wohl noch nicht verstanden! Am liebsten hätte ich ihn angeschrien. Er war meine einzige Chance, wenn ich nicht die Straßen im Umkreis von mehreren Kilometern absuchen und dabei in jeden Hinterhof schauen wollte. Mit einem Blinden neben mir, der absolut keine Eile kannte, mit dem es – sorry, Barbie! – ja doch verdammt viel langsamer als normal ging! Der Galerist schaute mich von oben bis unten an, als ob ich einen besonders fiesen Geruch verströmen würde. Die Worte tropften so langsam aus seinem Mund, dass ich ihnen folgen konnte: »Die Tante, ja? Was ist mit Ihren Eltern? Wissen die nichts?«
Verdammt, jetzt kamen mir wirklich die Tränen. Natürlich konnte ich bei Papa nachfragen, aber ich hatte einfach nicht die Kraft, mir seine blöden Fragen und Vorwürfe anzuhören. Ich würde mich stundenlang rechtfertigen müssen, für eine Sache, an der ich keine Schuld hatte. Oder zumindest nicht viel. Wie vor zwei Wochen mit dem blöden Nasenbeinbruch und dem Likör. Nie glaubte er mir was! Mir war schwindelig, ich war müde und plötzlich so schwach – keine Minute länger würde ich mich auf den Beinen halten können. Ich ließ mich einfach auf einen Hocker fallen, der mitten im Raum stand, und weinte dort weiter.
»Mon dieu! Mademoiselle!« Er sagte noch mehr, das nicht wirklich begeistert klang.
»Er findet dein Verhalten nicht angemessen, soll ich dir ausrichten. Und der Hocker sei ein Kunstwerk.«
»Echt? Das alte Ding?« Ich schoss hoch. Nachher verklagte er mich noch auf eine Million Schadenersatz, bei meiner Glückssträhne heute. »Er soll mir die Adresse sagen! Das Atelier ist doch nicht privat, da kann doch jeder hin! Scheiß Datenschutz!«
»Wandâ.«
Ich schielte zu ihm hinüber. Ken sah aus, als ob er auf die Straße schaute. »Ich glaube, Monsieur möchte irgendwas loswerden.«
Das wollte Monsieur allerdings, denn er ließ einige zornige Sätze vom Stapel, in denen auch mehrere Straßennamen vorkamen. Durch meinen Tränenschleier sah ich, dass Ken mehrmals nickte, woraufhin der kleine Herr sich auf quietschenden Ledersohlen umdrehte und in den Tiefen seiner Galerie verschwand.
»Was hat er gesagt?« Ich wischte mir vorsichtig die Nase ab, ein Taschentuch hatte ich natürlich nicht zur Hand. »Und wo ist er hin?« Ich lief ein paar Schritte hinter dem Typ her, kehrte aber sofort wieder um.
»Siehst du? Weinen hilft!« Ken grinste in die Ferne. »Lass uns rausgehen, der ist echt sauer auf dein Tantchen, aber wenigstens weiß ich, wo sie wohnt!«
Oh, wie cool! Am liebsten hätte ich seine Hand genommen und kurz gedrückt, aber das wäre komisch gewesen, also ließ ich es.
Auf dem Weg zu Aurélie erzählte Ken mir, was er erfahren hatte. »Offenbar hat sie ihn mit ein paar Auftragsarbeiten hängen lassen, für die sie schon einen Vorschuss kassiert hat, ja, die sogar schon verkauft sind! Sie fotografiert nicht mehr, liefert ihre Sachen nicht, das Atelier ist angeblich zu.«
»Für immer? Sie schrieb mir, sie sei heute krank geworden und könne das Haus deswegen nicht verlassen.« Ich zuckte innerlich zusammen, zu diesem Zeitpunkt hatte ich mein Handy noch gehabt. Und mein Portemonnaie.
Ken imitierte gekonnt die empörte Stimme des Galeristen: »Sie ist unmöglich! Und benimmt sich wie ein kopfkranker Flamingo im Hungerstreik.«
»Ein kopfkranker Flamingo? Das hat er nicht gesagt!«
»Doch.« Ken lachte laut auf. »Und dass sie ihm Geld schulde, zu viel trinken würde und keine Kunden mehr bei sich im Atelier haben wolle und mit Männern nicht klarkäme. Das nenn ich mal Datenschutz!«
Er zog sein Handy hervor und sagte »Rue Brochant« zu ihm. »Voran, Barbie, such Weg. Braver Hund!«
»Hier muss es jetzt irgendwo sein«, sagte er ein paar Minuten später.
»Ich weiß, ich weiß, ich erinnere mich!« Vor Freude lief ich so schnell in den Eingang des Hinterhofs, dass die Räder meines Koffers über die buckligen Pflastersteine sprangen. »Hier ist es, das ist das Atelier, das kenne ich alles, da unten geht es zur Dunkelkammer in den Keller!« Ich ließ den Koffer stehen und drehte mich einmal um mich selbst. »Und die Töpfe mit den Pflanzen und die Fenster der Wohnung, da oben, dieselben roten Vorhänge wie früher!« Ich hielt inne. »Vielen Dank, Ken! Ohne dich und Barbie hätte ich das niemals geschafft. Ich hol schnell das Geld, das ich dir schulde, und dann kannst du weiterziehen, du willst ja auch sicherlich in dein … Hotel?«
Er schüttelte langsam den Kopf. »Wie gesagt, ich bin frei, ich hab Zeit. Soll ich dich nicht noch hochbringen? Wer weiß, ob sie da ist. Vielleicht kannst du meine Hilfe ja weiterhin gebrauchen.«
Bloß nicht, dachte ich. Das war zwar alles ziemlich toll von dir, aber die Tour war schon echt grenzwertig. Du hast mich weinen gesehen, äh, gehört. Du hast mich so hilflos und irgendwie schusselig erlebt, etwas, das Papa unerträglich findet. »Na ja, vielleicht … ach, ich weiß nicht.«
»Wenn sie nicht mehr hier wohnt, müssen wir weitersuchen.«
»Na gut, das ist nett von dir«, gab ich nach. »Mein Französisch ist so schlecht, es würde Stunden dauern, bis ich Aurélie erklärt hätte, was passiert ist.«
Ich sah an der Fassade hoch. Es war Hochsommer, aber die Kletterpflanzen standen nicht in voller Blüte, sondern welkten kümmerlich vor sich hin. Offenbar waren sie schon seit geraumer Zeit nicht gegossen worden. »Hier geht es rein, da ist die Klingel. Vorsicht, die Treppe ist schmal.«
Die Tür sprang auf. Ich schleppte mit letzter Kraft meinen Koffer die Stufen empor. Hinter mir hörte ich Barbies Pfoten auf dem Holz und Kens Schritte. Wieder schloss ich einen Moment die Augen. Was musste es für ein Gefühl sein, den dunklen Treppenaufgang mit den vielen Fotos an den Wänden nicht zu sehen, das hier alles nicht zu sehen? Furchtbar. Beklemmend. Ausgeliefert. Ich öffnete die Augen, gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie Aurélies Kopf oben an der Tür auftauchte.
»Oh, merde.« Die Tante sprach leise und wandte sich mitten im Satz um, dennoch verstand ich die beiden französischen Sätze, die jetzt folgten: »Jetzt ist sie hier. Sie ist tatsächlich gekommen.«