Читать книгу Blind Date in Paris - Stefanie Gerstenberger - Страница 6
ОглавлениеIch hatte hingeschaut!
Es war nur ein Versehen, aber es war nun mal passiert.
Völlig in Gedanken war ich am Zug entlanggelaufen und hatte einen Blick in die verspiegelte Fensterscheibe geworfen. Oh, bitte nicht! Sofort hatte ich den Blick wieder abgewandt. Ich sah immer noch so schrecklich aus wie an diesem Morgen, als ich in Bremen in den Zug gestiegen war. Natürlich. Was hätte sich auch ändern sollen?
Ich biss die Zähne zusammen und sah mich hektisch um. Gleis 6! Wo war Gleis 6? Wenn der Zug nur nicht diese verdammte Verspätung gehabt hätte. Nun wurde es knapp. Meine Augen irrten über den Bahnsteig auf der Suche nach dem blauen Schild mit der verdammten Zahl darauf. Endlich entdeckte ich es. 10! Der Zug war auf Gleis 10 eingelaufen, ich musste also erst einmal die Treppe hinunter. Wo war die Treppe? Da vorne vermutlich, wo die Menschenmenge sich staute. Noch sieben Minuten, das schaffst du, beruhigte ich mich. Du bist schon in unzähligen Städten gewesen, du bist viel gereist, kein Grund, so nervös zu werden. Einen kleinen Moment kam ich mir dennoch verloren vor, so allein in dieser riesig hohen Halle mit den vielen Menschen um mich herum, die alle zielstrebig aussahen und irgendwohin wollten. Der rote Koffer rollte neben mir, der Rucksack drückte auf meinem Rücken. Alles in Ordnung, alles richtig gemacht, Gleis checken, wissen, wo man hinwill, Gepäck immer schön dicht bei sich halten, wegen der Taschendiebe, hörte ich Papas Stimme in meinem Kopf. Unzählige Städte, unzählige Turnhallen, ebenso viele Pokale – und dennoch hatten wir immer Zeit gehabt, die Sehenswürdigkeiten zu besichtigen und uns umzuschauen. Meine Trainerin legte viel Wert darauf, dass wir in der Gruppe zusammenhielten, gleichzeitig sollten wir aber auch selbstständig sein. So ein Sport ist doch die beste Vorbereitung auf das Leben, sagte Papa immer. Der Koffer schlug schwer gegen mein rechtes Bein, als ich ihn die Stufen hinunterwuchtete, ich heftete meinen Blick auf meine Füße in den Nikes. Jetzt bloß nicht umknicken oder an den Kanten abrutschen, nicht noch ein Unfall!
Die Leute, die mir auf der Treppe entgegenkamen, sahen mir ins Gesicht – auch ohne hinzuschauen, bemerkte ich das. Ja, glotzt nur. Sieht blöd aus, ich weiß! Nein, es war keine Schönheits-OP! Gott sei Dank waren Sommerferien, in die Schule musste ich also nicht mehr. Aber da, wo ich hinfuhr, würde es auch nicht besser sein.
Tante Aurélie hätte mich eigentlich am Hauptbahnhof treffen sollen, weil sie zufällig an diesem Tag in Köln etwas zu tun hatte, zusammen wären wir dann in den Thalys nach Paris gestiegen. Das war der Plan, aber dazu würde es nicht kommen. Auf der Höhe von Hagen hatte ich eine endlose und wirre Nachricht erhalten, die mit Ma chérie! begann. Ich hatte nicht alles verstanden, warum war mein Französisch denn auch so verdammt schlecht? Was ich kapiert hatte: Tante Aurélie war noch in Paris, würde also nicht vor dem Dom stehen. Mais oui, bien sûr, hatte ich in meinem miesen Französisch zurückgeschrieben, schaffe ich auch so, die Tickets habe ich ja. Warum hatte ich Papa eigentlich nie geantwortet, wenn er als Kind mit mir Französisch gesprochen hatte? »So eine verpasste Chance«, sagten die neuen Mütter beim Training, wenn sie an Papas Akzent erkannten, dass er Franzose war. Tja, diese Chance hatte ich also auch verschwendet. Irgendwann hatte er das mit der Zweisprachigkeit dann bei mir aufgegeben.
Mein Herz klopfte schneller, jetzt war ich doch ein bisschen aufgeregt. Noch sechs Minuten bis zur Abfahrt. Wenn ich doch erst im Zug auf meinem reservierten Platz saß, ab da würde alles gut! Vom Gare du Nord sollte ich ein Taxi nehmen, in die Rue … keine Ahnung. Aurélie hatte mir die genaue Adresse per WhatsApp geschrieben, sie liege krank in ihrer Wohnung, unfähig, auch nur einen Schritt nach draußen zu machen. Schaffst du das? »Klar, schaffe ich das«, sagte ich vor mich hin. Erzähl es aber nicht Matthieu, hatte die Tante mich gebeten.
Ich kannte Aurélie nicht besonders gut, das letzte Mal hatte ich sie mit acht Jahren gesehen. Sie schien aber ebenso viel Respekt vor ihrem älteren Bruder zu haben wie ich vor meinem Vater. Kein Wunder, er konnte sich wirklich ganz schön aufregen. Unnötig also, ihm die Sache mit dem Alleine-Umsteigen in Köln zu erzählen. Nicht dass er es mir nicht zugetraut hätte, er mochte es einfach nicht, wenn Verabredungen nicht eingehalten wurden.
Endlich, Gleis 6! Keuchend wuchtete ich den Koffer die Stufen empor. Meine Nase und der ganze Kopf taten bei jedem Aufwärtsschritt weh, aber das war egal, denn hier stand er ja schon! Erleichtert lief ich auf das Dunkelrot des Zuges zu, der ganz vorne am Gleis stand. Es sah fremd, französisch und gleichzeitig abenteuerlich aus. Ich kontrollierte zur Sicherheit noch einmal die Anzeigetafel. Paris. Gare du Nord. Abfahrt 12: 20, stand dort oben. Ich war richtig, hatte es geschafft. Das erste Mal seit dem Unfall durchzuckte mich so etwas wie Freude. Ich fuhr nach Paris!
Die letzten Wochen waren echt … schwierig gewesen. Papa hatte sich erst totale Sorgen um mich gemacht, aber nur kurz, dann getobt und gebrüllt und später kaum noch mit mir gesprochen. Das hatte ich anscheinend (wie auch seine dunklen Augen) von ihm geerbt: Wenn eine Enttäuschung richtig fett und groß war, schnürte sie mir einfach die Worte ab. Ich hastete am Zug entlang, mein Blick huschte über die Waggons.
»Immer langsam, Mademoiselle, wir nehmen Sie schon noch mit! In welchen Wagen müssen Sie denn?«
Ach typisch, ich rannte hier wie ein kopfloses Huhn herum und wusste noch nicht mal die Wagennummer. Hastig nahm ich den Rucksack ab, holte die ausgedruckte Seite hervor und reichte sie dem Schaffner, ohne ihn dabei anzuschauen. Vielleicht fiel ihm dann nicht so auf, wie entstellt ich war. Der Typ räusperte sich nur und tat so, als bemerke er nichts: »Zwei Plätze im Waggon nümmero 28, da sind Sie schon dran vorbei!« Plötzlich schob er das Kinn vor und fragte mit seinem französischen Akzent: »Und Maman oder Papa kommen noch?«
»Nein.« Ich schaute noch immer auf den grauen Boden. Neben meinem Fuß flatterte eine Papiertüte von McDonald’s davon. »Hat nicht geklappt.«
»Aber alleine fahren dürfen wir doch schon, oder?«
Aha, kaum schaute er mich näher an, schon war es vorbei mit der Siezerei, dafür gab es ein gemeinschaftliches Wir. In der übergroßen Jeanslatzhose wirkte ich für ihn wahrscheinlich wie ein Kind. Ein dünnes Kind, mit einem Gegenstand im Gesicht, der da nicht unbedingt hingehörte. Pff. Ich stemmte meine Daumen gegen die Träger, diese Hosen sind jetzt in, du Otto, hätte ich ihm am liebsten gesagt. Bei der Hitze waren sie außerdem schön luftig. »Ja, ich bin sechzehn!«
»Voilà!«
»Merci!« Ich schnappte mir das Ticket, ratterte mit dem Rollkoffer zurück und bestieg das Abteil. Puuh. Ich atmete tief ein und aus. Hier war alles schön plüschig, samtig rot, stellte ich mit einem Blick fest. Mit letzter Kraft bugsierte ich den Koffer in das Fach vorne neben der Tür. Wenn er nun geklaut wurde? Papa würde sich aufregen. »Hast du ihn etwa nicht ständig im Blick gehabt?«, würde er fragen. Ich zuckte mit den Schultern. Erst einmal den Platz finden, die beiden Plätze besser gesagt, die Papa für mich und auch Tante Aurélie gebucht hatte. Jedenfalls konnte niemand neben mir sitzen und mich von der Seite neugierig anstarren. Wenn die Leute wenigstens nachfragen würden, aber nein, sie glotzten nur. Egal. Ich würde französische Vokabeln üben, ab und zu nach meinem Koffer schauen und meine Ruhe haben.
Der Gang war eng, rechts und links von mir machten sich die Leute breit, verstauten ihr Gepäck in den schmalen Fächern über den Plätzen, einige packten sogar schon ihren Proviant aus. Ich suchte meine Sitznummern und blieb schließlich stehen.
Och nee! Ein Viererplatz, mit Tisch in der Mitte. Und beide Fensterplätze belegt. Unverschämtheit, einer davon, nämlich Platz 56, gehörte mir! Auf dem saß aber ein Hund, durfte der das? Das durfte der doch gar nicht! Er war ziemlich groß mit einem dicken Kopf und Augen, die zu lachen schienen, denn er kniff sie ein bisschen zusammen. Sein Fell war kurz und hell, ungefähr die Farbe von – keine Ahnung, einem Lamm? Einem sehr großen Lamm. Und das saß da, total zufrieden, als ob es absolut dorthin gehörte. Sein Herrchen schien nichts dagegen zu haben, er schaute kurz hoch, sah mich gar nicht richtig an, sondern grinste nur nickend, dann wandte er sich wieder seinem Smartphone zu, auf dem er wie wild herumwischte.
Ich hielt die Luft an und ließ mich zögernd neben dem Hund nieder. Der hob interessiert den Kopf und beschnupperte meine Haare, die ich, wie immer, in einem großen Knoten im Nacken trug, und dann meinen Rucksack. Wahrscheinlich roch er das letzte Salamibrot. Dass der Typ nicht merkte, wie sein Hund mich belästigte! Konnte er ja nicht, denn er hatte auch noch einen Kopfhörer im Ohr, der andere hing an seiner Schulter herunter. Ich traute mich nicht, etwas zu sagen, denn ich hatte ein bisschen Angst vor Hunden. Vor solchen großen allemal.
Ich rettete meinen Rucksack vor dem lammfarbenen Monster, indem ich ihn auf den Boden legte, mein Kopf tat weh und ich bekam immer noch nicht gut Luft durch die Nase. Nach den drei Stunden von Bremen nun also noch drei nach Paris, die es zu überstehen galt. Reiß dich ein bisschen zusammen, hörte ich die Stimme meines Vaters. Er hatte ja recht, drei Stunden, was war das schon? Die würde ich nach dem Unfall, der OP und den blöden Tagen im Krankenhaus auch noch aushalten! Selbst neben einem unerzogenen Hund wie diesem. Und einem Gegenüber, das mich nicht mal anschaute und grellbunte Sachen trug, die er wahrscheinlich »richtig geil Achtziger« fand. Sein Hemd war nicht nur ein viel zu farbiges Durcheinander, sondern auch noch komisch weit geschnitten, und waren das etwa Hosenträger? Nicht dein Ernst, sagte ich in Gedanken zu ihm, du bist doch höchstens achtzehn. Ich war froh, dass er so sehr von seinem Handy in Anspruch genommen wurde und mich nicht beachtete, denn ich sah immer noch furchtbar aus, das wusste ich selbst. Stattdessen starrte er ausdruckslos, mit glasigen Augen in die Luft und hörte gebannt dem zu, was aus dem einzelnen Kopfhörer über sein Ohr in sein Hirn drang. Gut, er machte auf schwer beschäftigt, umso ungestörter konnte ich mich etwas strecken und ihn dabei richtig in Augenschein nehmen. Wow, sagte ich mit einem kurzen Blick zu dem Hund neben mir, dein Herrchen sieht eigentlich echt gut aus, aber das weiß er auch. Die dunklen Haare waren vorne etwas zu lang, sodass sie ihm links etwas über die Augen hingen, aber ziemlich cool geschnitten, wie frisch vom Friseur gestylt, damit es aussah wie absolut nicht gestylt. Schöner Mund, gerade Nase und irgendwie sehr selbstbewusst. Sogar das blöde Hemd passte perfekt zu ihm, musste ich zugeben. Ist der ein Schauspieler oder Sänger oder so was? Sag doch mal! Der Hund sah immer noch so aus, als ob er lachte. Ihm war zu heiß, er hechelte, hatte die Vorderpfoten brav nebeneinander auf dem roten Polster und schaute nun weg von mir, aus dem Fenster, denn der Zug setzte sich in Bewegung.
Das Tier war also keine Hilfe. Und ich hatte keine Ahnung von Stars, denn ich war schon ewig nicht mehr im Kino gewesen, ich sah keine Serien und kannte mich überhaupt nicht mit YouTubern aus, ich hörte zwar oft Musik, ging aber nicht in Konzerte. Und gut aussehende Jungs kannte ich auch nicht näher. Warum nicht? Nicht weil es mich nicht interessierte, oh doch, ich hatte nur einfach keine Zeit!
Ich rutschte vor und zurück auf meinem Platz. Meine Beine sehnten sich danach, gedehnt zu werden. Es war ein dringendes Bedürfnis, wie bei manchen Menschen, die von Zeit zu Zeit mit den Fingergelenken knacken mussten. Hier im Zugabteil konnte ich dem aber nicht wirklich nachgeben. Hyperflexibilität nannte man das; Bänder und Gelenke waren bei mir viel beweglicher als bei normalen Menschen. Für meinen Sport war das natürlich superpraktisch. Ich streckte das rechte Bein aus und ließ es so weit wie möglich über den Gang grätschen. Die Leute vom Nebentisch merkten nichts, die hatten sich allesamt hinter Laptops und Kopfhörern verschanzt. Ich zog das Bein wieder heran und verbot mir, es hochschnellen und neben mir in die Höhe wippen zu lassen. Etwas, was ich gerne zu Hause auf dem Sofa tat, wenn ich dort saß, um Vokabeln zu lernen. Schon komisch, Wanda, sagte ich mir. Hier könnte der absolute Promi vor dir sitzen, der ein normales Mädchen zum Kreischen oder Hyperventilieren bringt, du würdest ihn nicht erkennen.
Vielleicht kommt das daher, dass du die letzten fünf Jahre mit deinem Vater in hübschen Turnhallen verbracht hast. In allen Stadtteilen von Bremen, wirklich allen … in Stuttgart, in Berlin, Düsseldorf, Leverkusen. Ich nickte vor mich hin. Ich war schon auf Turnieren in Polen, Wettkämpfen in Italien, ja sogar in Sofia, Madrid und Moskau gewesen! Aber so alleine wie heute war ich noch nie gereist, und das alles nur, weil ich …
Eine Durchsage aus den Lautsprechern riss mich aus meinen Gedanken. Der Zugchef begrüßte uns auf unserer Fahrt nach Paris. Dann wiederholte er alles noch mal auf Französisch, danach auf etwas, was wohl Flämisch sein sollte. Verstohlen sah ich hinüber zum Superstar, so hatte ich ihn getauft. Immerhin, mit seinem Handy war er fertig, nun legte er es vor sich auf den Tisch und ordnete ein paar Sachen darum. Eine Butterbrotdose, eine zusammengedrehte, lederne Hundeleine, eine kleine Schachtel, vermutlich für die Kopfhörer. Er hörte interessiert der Durchsage zu und er schien gerne Ordnung zu haben, denn er rückte die Dinge dabei mehrfach hin und her, wie so ein alter, tattriger Mann. Ich konnte gar nicht hinschauen, es war irgendwie peinlich.
»Lädies änd dschentel-män«, begann der Zugführer seinen ewig gleichen Text nun auf Englisch. Ich betastete mein Gesicht. Unter den Augen war es immer noch angeschwollen und in der Mitte prangte dieser auffällige weiße Buckel, dennoch wagte ich es, dem Superstar schräg gegenüber für eine Sekunde zuzulächeln, als er zu mir herüberschaute. Dschentel-män klang witzig, hatte er das nicht gehört? Doch Superstar sah mich zwar flüchtig an, reagierte aber nicht. Kein Lächeln, kein freundliches Schulterzucken. Na, dann eben nicht. Blöder Angeber, dachte ich. Sei bloß froh, dass ich nichts sage, dein Hund darf hier eigentlich gar nicht sitzen. Wenn der Thalys-Schaffner das sieht … Aha, kaum brauchte man ihn, kam der Schaffner auch schon durch den Gang. Und richtig, erst wollte er in seiner Uniform an uns vorbeieilen, doch dann stoppte er scharf seinen federnden Gang ab. Ich schaute unbeteiligt zu Boden, garantiert würde der Beamte sich nun über den Hund aufregen.
»Wenn Sie … wenn Sie etwas trinken wollen …«, sagte er zu meinem Gegenüber. »Einen Kaffee oder so? Melden Sie sich, ja? Ich bringe Ihnen gerne was!«
Ich schüttelte unmerklich den Kopf und verschränkte die Arme vor meinem Körper. Ich hatte es gewusst, er war ein Promi, eingebildet und berühmt, für was auch immer, und konnte sich alles erlauben!
Doch Superstar schüttelte den Kopf und sah zu dem Schaffner hoch: »Danke! Aber den hole ich mir auch gerne selber. Beine vertreten und so …«
Ich konnte seine Augen sehen. Braun mit einem beträchtlichen Schuss Dunkelgrün darinnen, ich hatte noch nie eine solche Augenfarbe gesehen. Die Augen passten gut zu seinen dunklen Haaren und dem leicht gebräunten Gesicht. Ich gab es ungern zu, aber er sah total süß aus, megacute, wie Laura aus unserer Gruppe gesagt hätte. Aber er sah mich immer noch nicht an! Entweder wollte er mich nicht verlegen machen, indem er mich ignorierte, oder er fand mich einfach nicht megacute, sondern megalangweilig und war noch nicht mal neugierig genug, mich darauf anzusprechen, was mit meinem Gesicht passiert war.
Mein Handy klingelte. Papa, verkündete das Display und ein kleiner Angstblitz fuhr mir in den Magen. Mist. Was sagte ich ihm bloß? Ich erhob mich und wollte mich schon über den Gang entfernen. Beim Lügenerfinden war ich lieber unbeobachtet und ungehört. Doch dann setzte ich mich wieder, denn mir war eingefallen, was ich ihm erzählen konnte. »Hallo, Papa!«
»Hallo, Wanda, hier ist Mama! Wir sind am Flughafen, ich muss gleich durch die Sicherheitskontrolle, aber ich wollte unbedingt noch mal deine Stimme hören!«
Ich atmete erleichtert auf. Mit Mama konnte man viel besser sprechen.
»Ist alles gut gegangen, sitzt ihr schon im Zug nach Pari?« Mama sprach die Stadt immer aus, wie die Franzosen es taten. Sie hatte Papa dort nach einem ihrer Konzerte kennengelernt. Einfach so, auf der Straße. Erst war ich nur in die Stadt verliebt – und dann auch noch in ihn, erzählte sie oft.
»Wie geht es mit Aurélie?«, fragte sie jetzt, als ich nicht antwortete.
»Gut! Alles super. Ja, wir fahren schon. Aurélie ist nett, sie holt gerade Kaffee im Speisewagen.« Ich sah verstohlen zu Superstar hinüber. Sollte er doch ruhig mithören, was ich sagte. Aber der starrte gemeinsam mit seinem Hund aus dem Fenster, beide taten so, als ob sie das Gespräch nichts anging.
»Will Papa mich nicht sprechen?« Meine Stimme klang verschnupft und leise, fast als ob ich geweint hätte. Dabei lag das nur an meiner Nase.
»Mhmmmm, ach, na ja … Der beruhigt sich schon. In drei Wochen komme ich direkt von Boston nach Pari geflogen und hole dich ab. Dann fahren wir zurück nach Bremen und ihr macht zusammen da weiter, wo ihr aufgehört habt!«
Wenn Mama das sagte, hörte es sich so leicht an. Ich zog mühsam die Luft durch die Nase. »Sag ihm, dass es mir leidtut und …«
»Das sage ich ihm nicht«, unterbrach mich meine Mutter, »er weiß es nämlich bereits!«
»Dann sag ihm, dass ich alles … also dass ich seinen Plan für Paris genauso einhalten werde, wie er ihn für mich aufgeschrieben hat.«
Mama seufzte. »Vergiss den Plan, halte dich lieber an Aurélie, die ist momentan die Lustigere in der Familie! Erhol dich von den ganzen Strapazen und genieße die Stadt, ach ja, Aurélie soll mit dir zu einem Arzt gehen, den Verband wechseln lassen. Ich melde mich aus San Francisco!«
»Hab dich lieb, Mama. Flieg vorsichtig! Und ganz viele schöne Konzerte!«
»Danke, mein Schatz! Dicken Kuss!«
»Und sag Papa …« Aber da hatte Mama schon aufgelegt.
Ich schluckte. Wieso rief er mich nicht an? Dieses Schweigen von ihm war unerträglich!
»Na, Papa wollte wohl nicht mit dir reden?«
»Was?« Ich sah erstaunt zu Superstar hinüber. Das wirre Muster seines Hemdes leuchtete grell im Sonnenlicht, das jetzt schräg auf die Fensterplätze fiel. Er hatte plötzlich eine überdimensionale Sonnenbrille auf und sah mich damit wie eine große Fliege an. Der Typ war unmöglich! Er belauschte mich und gab es auch noch offen zu: »’tschuldigung, konnte nicht weghören. Hat er dir Hausaufgaben aufgegeben? Einen Plan für Paris, den du einhalten musst? Wow.«
Auch der Hund hatte sich jetzt mir zugewandt, er beschnüffelte mein Gesicht und beugte sich dann mit der Schnauze hinunter in meinen Schoß. Vergeblich versuchte ich, seinen dicken Kopf wegzuschieben, also schoss ich einen wütenden Blick zu Insekt Superstar hinüber, doch der tat, als sähe er mich hinter seinen schwarzen Gläsern nicht.
Ich rutschte, so weit es ging, zur Seite, um den Hund loszuwerden. »Mein Vater kennt sich nun mal in Paris aus. Er ist Franzose!« Ich klang so stolz, wie ich mich fühlte.
»Vätern sollte man nie zu viel zutrauen …« Jetzt nahm er die Brille wieder ab, seine Lider schlugen wie wild und scheinbar unkontrolliert auf und zu, ein Tick wahrscheinlich, es sah ziemlich unheimlich aus und ich guckte schnell weg. Aber auch wenn man wegschaut, sieht man was … Nun presste er sich beide Fäuste vor die Augen, und als er sie hinunternahm, hatten sich seine Lider beruhigt. Doch er hielt sie geschlossen, sah aus, als ob er in sich hineinhorchte, und war für ein paar Sekunden still. Dann redete er weiter, als ob nichts wäre: »Du bist doch wahrscheinlich auch nicht viel älter als achtzehn, sind Väter nicht für die meisten Mädchen ’ne Zeit lang richtig nervig?« Nervig? Nein?! Mein Vater war sowieso eine Ausnahme. Und, bitte was? Er schätzte mich auf achtzehn? Wenn er annahm, dass ich achtzehn war, dann dachte er bestimmt auch … »Das hier war übrigens keine Schönheits-OP. Nicht dass du das denkst!«
»Denke ich nicht. Wieso, was ist passiert?« Er wandte sich mir mit seinem ganzen Körper zu. Er schien groß zu sein und nicht gerade untrainiert, zwei muskulöse Oberarme schauten unter den kurzen Ärmeln seines Hemdes hervor, von dem ich immer noch nicht wusste, ob ich es schrecklich oder doch ganz cool fand.
»Tja, was ist passiert? Du stellst ja tolle Fragen. Nach was sieht’s denn aus?«
»Keine Ahnung. Du sprichst ein bisschen verschnupft.«
Ich schüttelte den Kopf. Ach ja? Das war die Untertreibung des Tages und sollte wahrscheinlich lustig sein. Ich hatte einen hässlichen Verbandshöcker auf der Nase, an den Seiten mit Pflastern fixiert, unter meinen Augen schillerte es gelb, grün und blau, der reinste Regenbogen. Wieder beugte sich der Hund zu mir und wühlte mit der Schnauze in meinem Schoß. Verdammt, jetzt reichte es: »Äh, kannst du deinem Hund mal sagen, dass das nervt?!«
»Barbie!?« Er richtete sich auf, zog die Augenbrauen hoch und ein paar Sorgenfalten erschienen auf seiner Stirn. Er guckte mich nicht an, sondern hielt mir sein Ohr entgegen, wie meine Oma in Bremen, die hörte mit dem anderen nämlich nichts mehr. »Hat sie dich geärgert? Tut mir leid, ich dachte, es wäre okay, dass sie da oben sitzt. Wir lieben es beide rauszuschauen.« Er lachte über diesen besonders tollen Witz und bewegte die Füße unter dem Tisch, als ob er etwas suchte. »Barbie, Fuß!«
Barbie? Was für ein lächerlicher Name für einen Hund!
Doch Barbie gefiel ihr Name anscheinend, sie senkte sofort den Kopf, sprang von dem Sitz und verschwand unter dem Tisch. Ich atmete erleichtert aus, doch ich war immer noch sauer über das, was er über meinen Vater gesagt hatte. »So, jetzt kannst du mir auch verraten, woher ich dich kennen müsste. Sorry, ich weiß, sogar der Schaffner hat dich erkannt, aber ich habe keine Zeit für irgendwelche Shows oder YouTube-Stars oder Bands.«
»Ich habe keine Ahnung, was du meinst.«
»Ach komm. Immerhin hat er deine Barbie dort sitzen lassen.« Ich schnaubte verächtlich durch die Nase, was keine gute Idee war, denn sie tat gleich wieder weh. »Wie bist du denn auf diesen Namen gekommen?«
»Ich heiße Ken, also eigentlich Kenneth, aber alle nennen mich Ken. Ich dachte, das passt gut zusammen.«
Barbie und Ken. Alles klar. Unter dem Tisch raschelte und grunzte es leise. Ich traute meinen Augen kaum: Barbie steckte mit dem Kopf komplett in meinem Rucksack und machte sich anscheinend gerade voller Freude über mein letztes Salamibrot her.
»Ey, Ken! Deine Barbie-Freundin frisst sich hier gerade satt … mach doch was!«
»Barbie, aus!« Sofort hielt die Hündin inne, ihr Kopf kam hervor, mit treuen Augen schaute sie zu ihrem Besitzer hoch. Was ist los?, schien sie zu fragen und leckte sich die Schnauze.
»Wie sie guckt!« Ich musste trotz meines Ärgers lachen. »Schau dir das an! Ist sie sehr jung und noch nicht richtig erzogen?«
»Sie ist zwei Jahre alt und super erzogen, aber momentan nicht im Dienst, dann macht sie manchmal ein bisschen Blödsinn. Vielleicht sollte ich sie ins Geschirr legen, dann kommt so was nicht vor.« Ohne hinzuschauen, tastete er unter dem Tisch herum, vermutlich um Barbie zu streicheln. »Willst du dir, besser gesagt uns, was aus dem Speisewagen holen? Hier.« Mit der anderen Hand schob er mir sein Portemonnaie hinüber. »Nimm dir Geld, ich lade dich ein! Alles, was du willst, als Entschädigung sozusagen. Für mich wären ein Käsebrot und ein Bier nicht schlecht. Danke!«
»Äh, nein?« Was sollte das denn? Er lud mich ein, aber ich sollte durch den schwankenden Zug gehen und alles holen? Ich wusste ja nicht mal, in welcher Richtung der Speisewagen lag. »Warum gehst du nicht selber? Beine vertreten und so?«
»Wie heißt du eigentlich?«, fragte er statt einer Antwort. Jetzt lächelte er. Mit geschlossenen Lippen, hochgezogenen Augenbrauen und ein bisschen von oben herab, aber wirklich nur ein bisschen. Ich mochte dieses Lächeln viel zu sehr, es war erschreckend …
»Wanda.«
»Wanda. Schöner Name.«
»Findest du?« Ich freute mich mehr über dieses Kompliment, als mir lieb war.
Ken nickte.
»Aber glaub mir, Wanda, es würde ziemlich langsam gehen, bis dahin wärst du verhungert, und du würdest mir echt einen Gefallen tun!« Er stützte sein Kinn auf seine Hände und endlich, endlich schaute er mir in die Augen. Ich guckte zurück, ich würde mich von Barbies Freund nicht einschüchtern … aber warum guckte er so komisch, als ob er mich gar nicht richtig … sah.
Seine Augen. Verdammt, wie konnte ich nur so blöd sein, er sah mich wirklich nicht! Ich guckte hinunter auf Barbie und entdeckte das Hundegeschirr unter dem Tisch. Ein kleines blaues Bild war darauf, mit einem Strichmännchen, das von einem Hund geführt wurde … Es war oberpeinlich, denn ich hatte es nicht gemerkt: Superstar hier vor mir – war blind!