Читать книгу Blind Date in Paris - Stefanie Gerstenberger - Страница 7
ОглавлениеOh Gott. Ich durchforstete in aller Schnelle mein Gehirn. Hatte ich was Blödes gesagt, über das Sehen oder so? Ja klar, gleich mehrfach. Nach was sieht’s denn aus? Oder: Schau dir das an. Und: Warum gehst du nicht selber? Wie fies! Ich hatte einen Blinden aufgefordert, durch den Zug zum Speisewagen zu gehen, dabei konnte er das doch nicht! Er sah nichts, nichts! Alles war dunkel für ihn, für immer, wie schrecklich war das denn? Verlegen schaute ich zu ihm hinüber. Sah er wirklich nichts? Seine Augen wirkten doch eigentlich ganz normal und in Ordnung. Richtig schön waren sie, in diesem dunklen, außergewöhnlichen Braungrün. Ich traute mich nicht, ihn zu fragen, ich würde das Thema absolut ausklammern, um ihn nicht noch mehr zu beleidigen. Doch da begann er selber zu reden:
»Ich sehe nichts mehr, seit ich dreizehn bin. Nur einen Rest Hell-Dunkel-Wahrnehmung habe ich noch.«
Also hatte er früher mal gesehen, konnte sich noch an Farben erinnern und an Gesichter. »Oh, das ist bestimmt total … schlimm, oder?«
»Am Anfang schon. Da war ich echt fertig, wollte es nicht akzeptieren, dass nun ausgerechnet ich diese Krankheit habe. Es fing an, als ich elf war, ich war im cours moyen 2, also im letzten Jahr der école élémentaire, ich bin in Paris aufgewachsen. Plötzlich konnte ich nicht mehr vorlesen, kassierte eine schlechte Note nach der anderen. Die dachten, ich mach das extra.« Er unterdrückte ein Lachen und glurkste es stattdessen durch die Nase heraus. Es klang ziemlich witzig. Nun grinste er mich an, er war so hübsch, sein Mund schön breit mit tollen weißen Zähnen drin. Es konnte nicht sein, dass er mich nicht sah, seine Augen schienen doch genau zu wissen, wo ich war!
»Aber … also ich habe das echt nicht gemerkt.« Ich verkniff mir die Fragen, die in mir hochkamen. Und jetzt siehst du echt nichts mehr? Und wie funktioniert das mit dem Handy? Und bist du dann ganz allein unterwegs? Ich schämte mich plötzlich. Ich konnte sehen und war trotzdem aufgeregt auf dem Bahnhof herumgerannt und hatte dreimal kontrolliert, ob auch wirklich der richtige Zug vor mir stand. Wie hatte er das bloß alles geschafft? Treppen, Menschengewimmel, Bahnsteige, von denen man herunterstürzen konnte. Anzeigen, die man lesen musste, Durchsagen, die man nicht verstand. Ob jemand ihn zum Zug gebracht hatte? Ob er abgeholt wurde? Und wo war sein Stock, hatten nicht alle Blinden einen Stock? Ich sah keinen.
Ich warf einen Blick hinüber zu dem Tisch auf der anderen Seite des Ganges. Die vier Erwachsenen waren völlig von der Welt in ihren Laptops absorbiert, niemand beachtete mich. Ich schloss die Augen. Rötliche Dunkelheit. Ich hörte den Thalys über die Gleise rattern, Barbie unter dem Tisch hecheln, am Nebentisch öffnete jemand eine Getränkedose. Und das für immer? Schnell öffnete ich die Augen wieder.
»Ich wurde oft operiert, der Augeninnendruck war bei mir zu hoch und zerstörte langsam den Sehnerv. Immer wieder haben sie versucht, das irgendwie zu stoppen. Aber vergeblich.« Er tastete mit den Händen auf dem Tisch herum, bis er sein Handy fand. »Wo sind wir? Sind wir gerade in einen Bahnhof eingefahren?«
»Stimmt. Wir sind langsamer geworden.«
»Und das Licht hat sich geändert.«
Aha? Das Licht! Das hatte ich gar nicht bemerkt. Ich reckte mich, um eins der vorbeifahrenden Schilder lesen zu können. »Aachen.« Es war mir immer noch unangenehm, ihm schräg gegenüber zu sitzen, obwohl ich ihn jetzt in aller Ruhe betrachten konnte. Das Hemd sah doch ziemlich gut an ihm aus. Konnte er ja nichts dafür, dass er die Farben nicht sah. »Und wie machst du das beim Anziehen? Also ich meine … äh … sorry.«
»Du meinst, weil ich ja nicht sehe, was ich da in den Händen halte?« Er lachte. Er lachte sowieso ziemlich viel, obwohl er doch blind war. »Das Hemd hat mir meine Mutter genäht, sie ist Herrenschneiderin und jetzt Einkäuferin bei einem angesagten Modelabel. Off-Supply. Sagt dir das was?«
»Nein. Ich bin nicht so drin in dem, was für Typen angesagt ist.«
»Sieht das gut aus oder scheiße, sag mal?«
»Ähem. Echt gut!« Wie peinlich! Ich konnte einem Blinden doch nicht sagen, dass ich seine Klamottenwahl komisch fand und die Farben echt gewöhnungsbedürftig waren.
»Ich habe so ein Farberkennungsgerät, das sagt mir ziemlich genau, ob etwas eher hell- oder dunkelblau oder türkis ist. Bei dem Hemd war es allerdings überfordert.« Wieder grinste er so süß vor sich hin, als ob er sich wirklich amüsieren würde. Ich rutschte unruhig auf meinem Platz hin und her. Wie sollte ich die nächsten zweieinhalb Stunden nur überstehen? Er wusste ja noch nicht mal, wie ich aussah. Sollte ich mich ihm beschreiben oder wollte er mich etwa abtasten, um sich »ein Bild« von meinem Gesicht zu machen? Und wenn er mich darum bat, konnte ich ihm den Wunsch dann abschlagen? Immerhin hatte ich einen Verband in meinem Gesicht, das bei Berührungen schmerzte. Das musste als Entschuldigung reichen.
»Ich hab das echt nicht gemerkt, dass du … dass du nicht sehen kannst«, stotterte ich wieder.
»Du kannst auch ruhig blind sagen, haben wir nichts dagegen.«
»Aha.« Wieder warf ich prüfende Blicke auf meine Mitreisenden. Sah irgendjemand zu uns rüber und hörte bei dieser seltsamen Szene mit? Niemand. Dem Rest der Welt war es egal, ob ich hier gerade eine peinliche Vorstellung meines Charakters gab.
»Und du musst auch nicht mit dieser traurigen, leisen Stimme reden. Ist okay. Ist zwar manchmal echt scheiße und dann werde ich ungeduldig oder wütend oder traurig, aber längst nicht mehr so schnell wie früher. Man kann sagen, ich habe mich daran gewöhnt.«
»Du sprichst total gut Deutsch, dafür dass du in Paris aufgewachsen bist.« Endlich ein Thema, das nichts mit Augen zu tun hatte.
»Ich habe mit meinen Eltern zu Hause Deutsch gesprochen und bin mit dreizehn mit meiner Ma nach Deutschland zurückgegangen.«
»Mit dreizehn? Aber da warst du doch … « Mist, schon wieder das Augenthema.
»Genau, da war ich schon blind wie ’n Maulwurf. Nichts mehr sehen können und dann auch noch in eine Stadt wie Frankfurt ziehen, ins Haus meiner Oma … das fuckt ab. Denn in dieser Stadt ist nichts so wie in Paris – um das zu bemerken, dazu braucht man echt keine Augen!«
Er suchte in seiner Tasche, bis er etwas gefunden hatte. Karamellbonbons, die liebte ich! Er öffnete die Tüte und hielt sie mir hin. Die Richtung war … fast richtig. Ich zog die Tüte etwas zu mir heran und nahm mir eins.
»Und du? Was machst du so?« Beiläufig wickelte er sein Bonbon aus. »Lass mich raten. Leistungssportlerin, Turnerin oder so, zurzeit aber verletzt. Papa ziemlich ehrgeizig, enttäuscht und sauer, weil Töchterchen nicht zum Wettkampf kann …«
Mir blieb der Mund offen stehen. Nein! Das war unmöglich! Er musste doch mehr sehen können, als er behauptet hatte. Vielleicht ließ ich mich gerade schön von ihm verarschen … das konnte er doch niemals alles geraten haben! Ich beugte mich über den Tisch und starrte in seine hübschen Augen, die etwas unruhig umherirrten. »Woher weißt du das?«
»Gehört, gespürt, zusammengereimt.«
»Aha! Das geht?« Ich beugte mich noch weiter vor.
»Du bist auf dem Sitz rumgerutscht wie jemand, der sich unbedingt strecken will. Haben hyperflexible Menschen nicht diese Marotte?«
Hyperflexible Menschen? Diese Besonderheit konnte er nun wirklich nicht über mich wissen. Eigentlich schon ein Wunder, dass er überhaupt das Wort kannte. »Nein … Äh. Also nicht generell«, antwortete ich. »Vielleicht nur solche, die auch noch ziemlich viel Sport machen, keine Ahnung.«
»Siehst du! Und dann kam es zu dieser dummen Verletzung. Diesem Nasen…? Bein…? Bruch?«
»Woher weißt du das?«, wiederholte ich und betastete ganz vorsichtig meinen Verband. »Habe ich etwas darüber gesagt? Siehst du mich etwa doch?« Empört wich ich vom Tisch zurück.
»Nein. Leider nicht! Aber so leise kann kein Sehender reden, dass ein Blinder es nicht hören würde.« Er lachte. »’tschuldigung. Deine Mutter sprach ziemlich laut am Telefon. Zum Arzt, Verband wechseln, Tante Aurélie? Und deine Stimme klingt nasal, als ob du nicht gut Luft bekommst.«
Ich schüttelte den Kopf. Das war doch nicht möglich! So genau konnte er sich das alles doch nicht zusammengereimt haben.
»Erzähl! Was ist passiert?«
»Na ja. Wie es zu dieser Verletzung kam, war nicht nur dumm, sondern saudumm!«
»Ich mag dumme Dummheiten! Ich sammele die!« Ken grinste vor sich hin.
»Ich habe mir die Nase gebrochen, als ein Mädchen aus meiner Klasse Abschied gefeiert hat. Eigentlich wollte ich sofort nach Hause, wie sonst immer, weil ich die Hausaufgaben am liebsten noch schnell vor dem Training erledige. Aber an diesem Tag bin ich einfach sitzen geblieben, denn Antonia hatte Kuchen und diese Flasche mit Schokoladenlikör dabei. Unsere Englischlehrerin hat das mit dem Likör gar nicht gemerkt.« Ich merkte, wie die Worte nur so aus mir heraussprudelten. Nach den drei schweigsamen Stunden von Bremen nach Köln hatte ich einfach das Bedürfnis, ein bisschen zu reden. »Der Kuchen war eine Schokoladentarte, so flach und dunkelbraun, kennst du die?« Oh Gott, wahrscheinlich hatte er als Kind so was nie gesehen und konnte es sich nun auch nicht mehr vorstellen.
»So wie ein Brownie, in groß?«
»Genau, und ich habe auch nur ein winziges Stück gegessen, und …«
»Bist du sehr dünn?«, unterbrach er mich.
»Nein. Na ja, doch. Also ich habe kein Fett, weil ich Muskeln habe und eben sehr gelenkig bin.« Ich spürte, wie ich rot wurde. Stellte er sich jetzt meinen Körper vor, den er ja nicht sehen konnte? Stellte er sich mich nackt vor? Irgendwie fand ich das toll und dann sofort wieder total daneben. Was denn nun?!
Ich war eigentlich ganz zufrieden mit meinem Aussehen, aber ich musste natürlich auf mein Gewicht achten. Meine Trainerin, die Iwanowa, hatte uns ständig alle im Blick und hielt sich nicht mit ihren Kommentaren zurück. »So ein dicker Mensch, so eine Schande für unseren Verein«, hatte sie mal in ihrem kratzig-russischen Akzent über Carina gesagt. Vor versammelter Mannschaft. Dabei hatte Carina die zwei zusätzlichen Kilo sofort wieder herunter, sie gönnte sich eben manchmal Pommes und Hamburger, trotz Leistungssport.
»Also ein kleines Stück Kuchen und dann kam der Likör?«
»Ja, der Likör … nur ein Schnapsglas voll, aus dem wir reihum tranken, also ich war nicht betrunken oder so, aber der Alkohol … den haben sie im Krankenhaus gerochen, in das man mich brachte, nachdem Philipp Bobrowski mich mit seinem Ellbogen volle Wucht im Gesicht getroffen hatte.«
»Mann, was für ein Idiot!«
Ich freute mich, dass Ken die Fäuste ballte, als ob er mich verteidigen wollte. Aber wie wollte er das anstellen? Na eben … Blindsein war echt furchtbar! Allein es mir vorzustellen, war krass.
»Das hat der nicht mit Absicht gemacht, wir haben nur Flasche und Gläschen weitergereicht und dabei wurde ein bisschen geschubst und rumgealbert. Sonst bin ich ja bei so was nie dabei, aber diesmal eben doch, und er … hat sich mit vollem Schwung umgedreht und ich beuge mich gerade vor … Er hat mich einfach nicht gesehen. Dem ging es danach noch tagelang schlecht, vor lauter Mitleid und Bedauern; er ist erst mal umgekippt, als er das ganze Blut sah.«
»Also, das ist mir wiederum noch nie passiert …«
Ich musste lachen. Komisch, wie locker er damit umging, nicht sehen zu können.
»Und dann bist du operiert worden.«
»Ja. Das ist jetzt schon über vierzehn Tage her. Wenn du wüsstest, wie ich immer noch aussehe …« Shit. Wieder war ich so unsensibel!
»Wanda …« Er sprach meinen Namen unnachahmlich schön aus. Wandá. Ein bisschen französisch, ein bisschen fragend. »Wenn du wüsstest, wie viel ich auch so von dir sehe.«
»Echt jetzt? Bist du ein Hellseher oder was?«
»Äh? Wie kommst du denn darauf? Nein, natürlich nicht. Ich sehe dich durch deine Stimme, dein Lachen, deine kleinen Schnaufer …«
Ich machte kleine Schnaufer? Oh Gott, ich schaute auf die Tischplatte zwischen uns. Es fühlte sich an, als ob man sich vor ihm nicht verstecken könnte, als ob er bereits alles über mich wusste. Verlegen sprach ich weiter: »Na ja, und im Krankenhaus fragten sie mich eben, ob ich Alkohol getrunken hätte, und da musste ich doch Ja sagen, oder? Und das haben sie dann meinem Vater weitererzählt, der zu Hause auf mich gewartet hatte und irgendwann benachrichtigt wurde. Er fährt mich immer zum Training.«
»Immer?«
»Na ja, er beobachtet während des Trainings, was ich mache, und berät mich auch.«
»Und übt mit dir zu Hause auf dem Wohnzimmerteppich?«
Er glurkste wieder so lustig, als ob er sich das jetzt vorstellen würde.
»Nein. Meine Trainerin ist die Iwanowa.«
»Oh. Eine Russin? Die schreit bestimmt rum.«
Woher wusste er das jetzt wieder?
»Geschrien wird schon oft. Die Kleinen weinen dann auch mal.«
Ken zog die Augenbrauen zusammen, sagte aber eine Zeit lang erst mal nichts mehr. Anscheinend gefiel ihm die Vorstellung nicht, ich hatte aber keine Lust, mich für mein geliebtes Training zu rechtfertigen. Na ja, manchmal liebte ich es auch nicht. Aber schon ziemlich oft.
»Und jetzt ist dein Vater immer noch sauer?«, kam die nächste Frage von drüben.
»Ziemlich.« Ich hörte mich selber aufseufzen. »Alkohol! So wie die das geschildert haben, hat er sich eine halbe Flasche Wodka vorgestellt, nicht zwei Zentiliter Schokolikör. Er hat mir nicht recht geglaubt und war natürlich enttäuscht. Bin ich ja auch. Ich hätte morgen beim World Challenge Cup in Portugal dabei sein sollen. Da haben wir lange drauf hingearbeitet.«
»World Challenge …« Ken ließ sich die Wörter auf der Zunge zergehen. »Ich habe jeden Tag World Challenge …« Er sortierte wieder seine Sachen auf dem Tisch, indem er sie hin und her schob. »Wie oft trainierst du so?«
»Dienstag bis Freitag von 16 bis 20 Uhr. Samstag und Sonntag von 10 bis 14 Uhr.«
»Oh schön! Und montags ist dann frei.« Er nickte begeistert, sein Blick verfehlte mich knapp. »Ich hoffe aber, dass du auch an dem freien Tag etwas Sinnvolles mit deiner Zeit anfängst?«
»Ja schon. Meistens tue ich noch was für die Schule. Irgendetwas fällt mir immer ein.«
»Ah. Für die Schule. In der du natürlich auch gut bist.«
»Ja.«
»Und das findest du alles in Ordnung so.«
Es klang wie eine nette Feststellung, aber zum ersten Mal kamen mir Zweifel, ob er es wirklich so meinte … Sein Ton klang komisch. »Ich möchte eben gut sein in der Schule, ich muss gute Noten haben, sonst würden sie mich auch gar nicht zu den vielen Wettkämpfen lassen, denn dadurch bin ich dauernd nicht da. Das, was ich verpasst habe, die Fehlzeiten, muss ich dann alleine nachholen.«
»Und was genau machst du da? Bist du etwa eines von diesen biegsamen Mädchen, die einen Ball hochwerfen und mit gebogenem Rückgrat wieder einfangen?«
Ich lächelte. Aber das sah er ja nicht. »Ja. Bin ich.«
»Echt? So was machst du? Weißt du, als die Olympiade in London war, war ich bei meiner Frankfurter Oma und wir haben viel ferngesehen. Meine Eltern waren während dieser zwei Wochen in Paris, haben viel gestritten und die Scheidung beschlossen. Aber das wusste ich da noch nicht. Ich hatte noch einen Sehrest von 10 Prozent auf beiden Augen, klebte also vor dem Bildschirm und wir haben alles geglotzt, was es gab. Auch das mit den Mädchen, die mit Kegeln und bunten Reifen über die Matten tanzten, das mochte Oma so.«
»Es heißt Keulen.« Ich wusste, es war albern, aber ich musste ihn einfach korrigieren.
»Okay Keulen. Habe ich gerne angeschaut, die fliegenden Keulen.«
Ich schluckte. Da hatte er also noch sehen können, wie schrecklich musste es sein, langsam sein Augenlicht zu verlieren. Und obwohl er so easy darüber plauderte, wusste ich gar nicht, was ich sagen sollte, also klammerte ich das Thema besser aus.
»Das mit den Mädchen und den bunten Reifen nennt man übrigens Rhythmische Sportgymnastik. Wir sagen aber meistens nur ›RSG‹, ist kürzer. Ja, Olympia in London habe ich natürlich auch geschaut, die Karten für die RSG sollen übrigens als erste Sportart komplett ausverkauft gewesen sein, habe ich gehört. Es ist so eine wahnsinnige Atmosphäre, die bei der RSG in der Halle herrscht. Und genau das mache ich!«
»Aha! Und für die nächste Olympiade trainierst du also auch?«
»Nicht direkt. Ich muss erst mal in den deutschen Kader, Papa überlegt sich da gerade was.«
»Aha. Nicht du überlegst, sondern der französische Papa, der immer dabei ist und alles ›beobachtet‹.«
Plötzlich hörte es sich nicht mehr toll an, so wie er die Sätze betonte.
»Was dagegen?«
»Gar nicht! Habe ich was gesagt?«
Ich schwieg. Wahrscheinlich fand Ken das, was ich machte, doof, weil ich es nicht alleine machte, sondern Papa sich immer einmischte. Es stimmte ja auch, er konnte manchmal ganz schön anstrengend sein, ständig hatte er eine Idee, wie ich es noch besser machen konnte. Von außen sah das vielleicht ab und zu ein bisschen herrschsüchtig aus. Wenn er sich wild gestikulierend über die Kampfrichter aufregte oder mit unserer Trainerin stritt, weil die nichts gegen die ungerechten Bewertungen tat. (Was sollte sie machen, niemand legte sich mit den Kampfrichtern an.) Aber ich liebte meinen Sport, das würde jemand wie Ken nie verstehen!
Warum wollte ich ihm trotzdem unbedingt gefallen? Und dass ich das wollte, war klar. Es kribbelte in mir, so unruhig und nervös, und am liebsten hätte ich ihn dauernd angelächelt und vielleicht sogar meinen Dutt geöffnet, damit er meine tollen, seidig glänzenden Haare sah. Aber das war das Problem: Er sah mich ja gar nicht! Es war ihm komplett egal, wie ich aussah, er hatte sich noch nicht mal nach meiner Haarfarbe erkundigt. Ein dunkles Blond, hätte ich sagen können, mit helleren Strähnen drin, aber nichts blondiert, alles Natur. Wie bei meiner Mutter, ja gut, das hätte ich vielleicht nicht unbedingt sofort erzählt. Aber er fragte ja nicht. Ohne Rücksicht nehmen zu müssen, starrte ich ihn unverhohlen an. Er gähnte hinter vorgehaltener Hand und lehnte sich zufrieden zurück. »Ich lass mir jedenfalls von niemandem sagen, was ich machen soll. Schule fertig und keinen Plan. Ich schau mich erst mal um, sagt man das nicht so?« Er grinste.
»Nun ja, irgendwann musst du doch auch mal Geld verdienen.«
»Also ich find’s super!«
»Aber das geht doch nicht …!«
»Mann, bist du immer so vernünftig, Wandá? Wie alt bist du eigentlich? Du hörst dich an wie meine Oma, aber die ist auch schon fünfundsiebzig.«
»Ich bin erst sechzehn.« Da konnte er meinen Namen noch so schön aussprechen und so blind sein, wie er wollte. Er war gemein. Ein Arsch. Durfte man das über Blinde sagen? Vermutlich nicht. Vergiss ihn, Wanda, sagte ich mir, und grins nicht mehr so blöd. Ist sowieso vergebene Mühe bei ihm.
»Sorry. Aber ich muss jetzt mal was tun.« Ich kramte meine Hefte aus dem Rucksack, extralaut, damit er es auch hörte.
»Wo kommst du her? Wo wohnst du?, meine ich.«
Sollte ich ihm das verraten? Fremde Menschen geht es nichts an, wo du wohnst, was du machst, wie deine Telefonnummer lautet! Hatte Papa mir das nicht eingeschärft? Aber wie sollte dieser Ken, blind wie ein Maulwurf (hallo, das waren seine Worte gewesen, nicht meine …), mir schon gefährlich werden?
»Bremen? Wieso?«
»Sind da nicht auch gerade Ferien? Ferien sind zum Ausruhen da, nicht zum Lernen, weiß dein Vater das?«
Wenn er so weitermachte, würde meine klitzekleine Schwäche für ihn spätestens in Paris in Hass umgeschlagen sein, so viel stand fest. Ich hatte doch nur ein bisschen Französisch lernen wollen, sonst käme ich die nächsten drei Wochen nicht klar. Obwohl ich in Paris geboren war und sogar einen französischen Pass hatte, konnte ich diese verdammte Sprache überhaupt nicht. Das würde ich Monsieur Superstar aber keinesfalls verraten, der natürlich fließend sprach, weil er in Frankreich aufgewachsen war.
»Wenn du Fragen hast …«
… frage ich dich ganz bestimmt nicht, antwortete ich ihm unhörbar.
»Worüber?«, schnappte ich stattdessen.
»Im Französischen?«
Ich sah ihn sprachlos an. Woher wusste er das? Verdammt, er konnte doch etwas sehen, anders war das doch nicht zu erklären! Ich überflog meine Hefte und Bücher. So wie sie auf dem Tisch lagen, war nicht zu erkennen, was für einen Inhalt sie hatten.
»Habe ich mir so gedacht und zusammengereimt. Vater ist Franzose, hält aber im fremden Land nicht durch, mit seiner Tochter die eigene Sprache zu sprechen. Also schickt er sie nach Paris, damit sie mit der verschwendeten Zeit, in der sie nicht trainieren kann, wenigstens etwas Vernünftiges anfängt!«
Was zum …?! Ich wollte am liebsten losschreien. Das waren so ziemlich genau die Worte, die Papa benutzt hatte. Zeitverschwendung. Eins seiner Lieblingswörter. Nur noch getoppt von Zeitoptimierung!
Ohne Kenneth zu antworten, wühlte ich nach einem Stift. Ich verzog das Gesicht, als ich die Bescherung entdeckte: »Dein Hund hat übrigens auf dem Lederriemen von meinem Rucksack rumgekaut. Nicht gerade toll. Total nass und angesabbert …«
»Oh fuck, Barbie! Muss das immer sein?«
Ohne es zu wollen, musste ich lachen. Wenn er netter gewesen wäre, hätte ich ihn jetzt zu seinem Hund befragt, der wunderschön aussah, nur leider alles auffressen wollte, was er finden konnte. Ich nahm mein Heft, legte es vor mir zurecht und starrte hinein. Noch zwei Stunden bis Paris. Wie sollte ich das nur aushalten? Er war schon irgendwie toll, aber ich wusste nicht, wie ich mit tollen Jungs umgehen sollte, mit blinden Jungs schon gar nicht. Ich holte meine großen, beinahe schalldichten Kopfhörer heraus und schloss sie an mein neues Handy an. »Äh, ich höre jetzt Musik.«
»Okay.«
Ich spielte mit meinem Kugelschreiber, schrieb aber kein einziges Wort. Zu Ken schaute ich einfach nicht mehr hinüber.