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Kapitel 1

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Als ich an diesem Sommermorgen die Augen öffne, spüre ich bereits, dass etwas anders ist. Sonnenlicht kriecht flüsterleise über unsere dünnen Bettdecken, obwohl die Wärme von gestern noch immer bleiern in der Luft hängt. Aber da ist noch mehr, als nur diese drückende Wärme, die zur einer weiteren Nacht unruhigen Schlafes geführt hat.

Irgendetwas stimmt nicht, Unheil liegt in der Luft.

Ich steige leise aus dem Bett. Chris knurrt im Schlaf und dreht sich um. Auf Zehenspitzen gehe ich auf die Fensterfront zu und blicke hinunter zum See. Das Laub der Bäume ist von Tau bedeckt, der wie tausend Diamanten in der aufgehenden Sonne glitzert. Der See ist dunkel und still. Er wirkt als sei er in Trauer gehüllt, seine Tiefen sind noch dunkler als sonst.

Ich lege die Handfläche gegen die Scheibe. Schon durch das Glas hindurch spüre ich diese Niedergeschlagenheit, die so gar nicht zu der sommerlichen Szenerie passt. Wäre da nicht der See, dessen Traurigkeit mich bei seinem Anblick allein melancholisch werden lässt, wäre es ein Sommermorgen wie jeder andere auch.

Ein Blick über die Schulter verrät mir die aktuelle Uhrzeit. Es ist kurz vor Sechs. Spät genug, um Chris zu wecken.

„Chris“, flüstere ich und krabble über meine Seite des Bettes zu ihm hinüber. „Bist du wach?“ Ich küsse seine nackte Schulter. Er gibt ein grunzendes Geräusch von sich und beginnt sich zu räkeln. „Irgendetwas stimmt draußen nicht.“

Seine Augen öffnen sich. „Was?“, fragt er noch ganz schläfrig und blickt sich ein wenig orientierungslos um. Die Bettdecke rutscht von seinem Oberkörper und liegt bedenklich tief auf seiner Hüfte.

Ich weiß, dass er unter dieser dünnen Decke nackt ist, und wenn sie nur noch ein wenig mehr von seinem hinreißenden Körper preisgibt, werde ich mich nicht mehr konzentrieren können. Also zwinge ich mich, ihm in die Augen zu sehen. „Mit dem See stimmt etwas nicht.“

Chris stützt sich auf seine Unterarme und blickt über meine Schulter hinweg zur Fensterfront. „Mit dem See stimmt etwas nicht?“, wiederholt er fragend. Seine Pupille wird größer und dann wieder kleiner. Seine wolfsähnlichen Augen zoomen den See und die Umgebung heran. „Sieht doch ganz normal aus.“

„Spürst du das denn nicht?“ Ich stehe wieder auf und gehe zurück zum Fenster. „Es ist etwas mit dem See geschehen. Er trauert.“

Chris steht plötzlich hinter mir und legt seine Hände auf meine Hüften. Sein Kinn ruht sanft auf meinem Scheitel. „Ich sehe nichts.“

Er schaut ein weiteres Mal durch die Bäume hinunter zum Wasser. Sein warmer Körper drückt gegen meinen. Er senkt den Kopf und vergräbt sein Gesicht in meinen Haaren.

Ich schließe die Augen, als sein heißer Atem meine Schulter streift. Seine Wärme und der sanfte Druck seiner Hände schieben das Unheilvolle und die Melancholie, die der See ausstrahlen, davon. Langsam drehe ich mich zu ihm um, mein Brustbein kribbelt warm und angenehm. „Ich kann ja später mal nachsehen, was mit dem See los ist“, sage ich flüsternd und fahre mit meinen Fingerspitzen über seinen harten Oberkörper und die weichen Brusthaare.

Chris nickt und schiebt den Träger meines Nachthemdes zur Seite. Seine Augen funkeln, das keltische Tattoo auf seinem Brustbein scheint bei seinem beschleunigten Herzschlag zu vibrieren.

Ich beginne ihn wieder zurück zum Bett zu schieben. Der Anblick seines Körpers hat jeden Gedanken an den See verbannt. Als wir das Bett erreichen, legt er sich rücklings darauf und ich knie mich über seinen Schoß. Wir geben uns einander hin und ich dränge das melancholische Klopfen aus meinem Bewusstsein.

„Möchtest du auch Spiegeleier“, fragt Chris mich, wie jeden Morgen.

Und wie jeden Morgen verneine ich dankend und nippe stattdessen lieber an meinem Latte mit einem extra Schuss Vanillesirup, während ich den nackten Rücken meines Gefährten beim Werkeln in der Küche betrachte.

Doch an diesem Morgen schweift mein Blick immer wieder zur Fensterfront ab. Das Wasser des Sees wirkt noch immer dunkler als sonst, selbst jetzt, da die Sonne höher am Himmel steht. Bei seinem Anblick wird mir ein wenig flau im Magen, was nicht am Kaffee liegt.

„Findest du nicht auch, dass der See heute dunkler ist?“

Chris dreht sich zu mir um, während hinter ihm die Spiegeleier blubbernd braten. „Das war also keine Ausrede, nur um mich wecken zu können?“, fragt er und lächelt verschmitzt.

Ich lache. „Nein, natürlich nicht. Seit wann brauche ich Ausreden, um dich zu wecken?“

Er zuckt mit den Schultern und streicht sich das noch feuchte Haar aus der Stirn. „Brauchst du nicht“, gibt er grinsend zu und geht zum Fenster.

„Siehst du das auch? Irgendetwas ist doch faul“, bemerke ich erneut und lehne mich zurück, um zwischen den dicken Baumstämmen hinunter auf die Wasserfläche zu schauen.

Chris stemmt die Hände in die schmale Hüfte, stellt sich auf Zehenspitzen und reckt den Hals. „Ganz ehrlich, Scarlett, ich sehe da keinen Unterschied“, lässt er mich wissen, bevor er zurück zu seinen Spiegeleiern sprintet und die heiße Pfanne vom Herd nimmt. „Für mich sieht der See aus wie immer.“

Seufzend stelle ich meine Tasse ab und schüttle leicht mit dem Kopf. „Ich weiß auch nicht, woran es liegt. Etwas Unheilvolles lieg in der Luft und es hat mit dem See zu tun. Ich glaube, ich gehe gleich mal runter und schaue nach dem Rechten.“

Mit dem Teller Spiegeleier in der Hand setzt Chris sich mir gegenüber an den Tisch. „Musst du nicht ins Büro?“, fragt er, obwohl wir beide die Antwort bereits kennen.

Ich löffle den Schaum von meinem Latte. Natürlich muss ich ins getarnte Reisebüro meiner Tante Elvira. Seitdem meine Mutter endlich aus dem Koma erwacht ist, hat Elvira ihren Job als Parapsychologin vollends hingeschmissen und widmet sich nun ganz der Pflege meiner Mutter. Ich bin ihr natürlich dankbar dafür, denn ohne sie müsste ich eine Pflegekraft beschäftigen, da Mama sich von mir erst recht nicht betreuen lässt. Sie kommt nicht damit klar, dass ich ein magisches Wesen bin. Ihre Vorurteile sind so tief verankert, dass sie um Hexen, Mannwölfe und allem Magischen, einen großen Bogen macht. Und mir, als erster und bislang einziger Druidenhexe, traut sie nicht über den Weg. Es tut weh, dass meine Mutter - nachdem ich alles dafür getan habe, sie von dem Fluch meines Vaters zu befreien - nun regelrecht Angst vor mir hat. Sie hat die erste Hälfte meines Lebens damit zugebracht, alles Magische von mir fernzuhalten. Magie ist für sie gleichbedeutend mit der Bosheit meines Vaters, dem ehemaligen schwarzen Hexenkönig.

Sie ist zu Elvira gezogen, in die kleine Wohnung über dem Reisebüro. Elvira bringt sie regelmäßig zur Physiotherapie, kocht für sie, pflegt sie und holt mit ihr die vergangenen Jahre auf. Das Parapsychologenbüro hat sie seitdem nicht mehr betreten. Sie hat sogar schon den Text auf dem Anrufbeantworter neu besprochen: „Guten Tag, Sie sprechen mit dem Anschluss der Parapsychologin Scarlett Taylor. Elvira Taylor hat sich zur Ruhe gesetzt und ist nicht mehr zu erreichen. Für alle paranormalen Angelegenheiten ist nun ihre Nichte Scarlett zuständig. Bitte hinterlassen Sie Ihre Nachricht für Scarlett nach dem Piepton“. Und ihren eigenen Namen hat sie auch von der Schaufensterscheibe des getarnten Reisebüros gekratzt und mit einem wasserfesten Stift „Geschlossen“ darauf geschrieben. Doch viele frühere Kunden fragen noch immer nach ihr und können kaum glauben, dass sie nicht mehr als Parapsychologin arbeitet.

„Dann gehe ich erst ins Büro und schaue mir den See danach an“, sage ich, leicht enttäuscht und nippe an meinem Kaffee.

Es ist wie selbstverständlich zu meiner Aufgabe geworden, das geheime Parapsychologenbüro meiner Tante zu leiten, Aufträge auszusortieren und sie dann an die passenden Schamanen, Medien, Dämonologen und Parapsychologen weiterzuleiten oder selbst zu übernehmen. Zusammen mit Jason regle ich auch die Finanzen, schreibe Lohnabrechnungen und überweise Gehälter. Ich liebe diesen Job, das tue ich wirklich, und es ist genau das, was ich immer machen wollte. Nur lässt er mir keine Zeit zu erkunden, was ich nun eigentlich bin: Die erste Druidenhexe der Welt!

Ich kann in keinem Buch nachlesen, wozu ich in der Lage bin und was mich ausmacht. Ich bin die erste meiner Art, ein Stück Evolutionsgeschichte in der Welt der magischen Wesen.

Darius - der Druide und aktuelle Freund meiner Tante Roberta, der amtierenden weißen Hexenkönigin - hat mir zwar die Welt der Druiden erklärt, doch ich spürte gleich, dass das nicht meine Welt ist. Ich werde mir nicht in der Selbsttaufe ein brennendes Eisen in Form eines fünfzackigen Sternes auf den Kopf brennen (zumal ich nicht noch eine weitere Narbe gebrauchen kann, die meinen Kopf entstellt! Ich bin mit dem eingebrannten Todesblitz meines Vaters auf meiner Wange bestens bedient!) und ich werde auch nicht in einem Baumhaus im Wald wohnen oder Tierblut trinken und Opferlämmer schlachten. Nein, das bin ich nicht!

Aber was bin ich dann?

„Wenn dich der See so beschäftigt, könnte ich vielleicht erst zum Büro fahren und den Anrufbeantworter abhören. Dann kannst du runter zum See“, reißt Chris mich aus meinen Gedanken und schiebt sich das letzte Stück Spiegelei in den Mund.

„Nein, schon gut“, lehne ich ab, da ich weiß, dass er zu einem Auftrag muss, zu dem ich ihn selbst eingeteilt habe: Ein paar Orte weiter hat sich ein Rudel Werwölfe in einer alten Scheune eingenistet und schon etliche Opfer gefordert. Chris ist zwar hauptberuflich Dämonologe, aber als Mannwolf möchte er sich selbst um die Werwölfe kümmern. Außerdem ist er der einzige aus meinem Team, der es kräftemäßig überhaupt mit ihnen aufnehmen kann. „Das kann warten. So schlimm wird es wohl nicht sein.“

Doch mein Blick gleitet automatisch wieder zur Fensterfront, durch die dichten Bäume hindurch bis hinunter zur dunklen Oberfläche des Sees. Der blaue Himmel spiegelt sich nicht darin und auch die Sonne glitzert nicht auf seinen leisen Wellen.

Was auch immer mit dem See los ist, es wird warten müssen.

Wenig später schließe ich die Tür zum ehemaligen Büro meiner Tante Elvira auf und gehe hinein. Ich lasse das Licht im Verkaufsraum aus und schließe hinter mir ab. In den ersten Monaten nach der Erweckung meiner Mutter hatte ich ein paar Mal vergessen, das Licht auszuschalten. Es dauerte nicht lange und reisewillige Kunden kamen herein und wollten sich ein paar Reiseprospekte zur Durchsicht ausleihen, oder sie fragten, ob es eine Neueröffnung geben würde. Um das in der Zukunft zu vermeiden, lasse ich die Tür verschlossen und das Licht aus. Manchmal klopft zwar jemand, aber ich reagiere meistens nicht mehr darauf. Stattdessen verkrieche ich mich in den hintersten Teil des Ladens, wo das geheime Büro meiner Tante hinter einer Falttür verborgen liegt.

Sobald ich die Tür zur Seite schiebe, empfängt mich der staubige Geruch von Lavendel, altem Leder, zitroniger Holzpolitur und dem kalten Nachklang längst verglühter Räucherstäbchen. Das Aroma hat sich für immer in den vertäfelten Wänden eingenistet. Schreibtisch, Stuhl und Sessel stehen noch genau wie zuvor, jedoch habe ich ein paar Dinge aussortiert und andere hinzugefügt. Elvira hatte seltsame Statuen von steinernen Gargoyles auf dem Tisch und Bündel getrockneter Kräuter, sowie einige Hexenbeutel und einen Sigillenstein. Für sie waren diese Dinge zum Schutz auch sinnvoll, aber für mich sind sie unnötig. Zumal ich weiß, dass ein einzelner Sigillenstein noch keinen Dämon fernhält und ein Hexenbeutel nur in der Hand einer Hexe wirklich sinnvoll ist. Die Gargoyles gefielen mir nicht, also sind sie zusammen mit anderen Dingen in einer Kiste unter dem Tisch in der Büroküche verschwunden. Elvira wollte sie nicht wiederhaben und ich wollte sie nicht in Chris´ Haus lagern.

Stattdessen stehen jetzt ein paar Kristalle auf einer Ecke des Schreibtisches und ein opulenter Bilderrahmen mit einem Bild von mir und Chris im Schnee auf der anderen Ecke.

Elviras Bulli ist es genau wie dem geheimen Büro ergangen. Nachdem mein Auto im Kampf gegen Cassandra, der wildgewordene Freundin meines Vaters, zerstört wurde, hat Elvira mir ihren Bulli überlassen. Sie hat sich stattdessen einen Kleinwagen geholt, mit dem sie Mama zur Therapie fährt. Ich habe als erstes eine vernünftige Anlage einbauen lassen, damit ich nicht immer wieder diese alte Beatles-Kassette hören musste. Dann ist einiges von Elviras Equipment rausgeflogen, was nun auch unter dem Tisch der Büroküche vor sich hingammelt.

Es kommt mir manchmal so vor, als hätten wir unsere Leben getauscht: Sie hält sich mit kleinen Halbtagsjobs über Wasser und kümmert sich den Rest der Zeit um Mama. Ich leite das Parapsychologen-Büro und vertreibe Geister und sonstige paranormale Geschöpfe, während für Freizeit meist kaum noch Zeit bleibt. Aber ich liebe mein neues Leben! Das Einzige was mich stört, ist die Abneigung, die meine Mutter gegen mich hegt. Bei diesem Gedanken wird mir immer ganz schwer ums Herz. Ich sitze hier unten, in diesem geheimen Büro, und meine Mutter ist ein paar Meter über mir in Elviras Appartement. Und doch bin ich meilenweit von ihr entfernt.

Ich schüttle den Kopf und schlucke den Kloß im Hals herunter. Gib ihr einfach noch etwas Zeit, höre ich Elviras Worte in meinen Gedanken. Sie hat beinahe zehn Jahre verpasst, sie muss sich erst neu eingewöhnen. Irgendwann wird sie verstehen.

„Ja, ja…“, stöhne ich und setze mich in den ledernen Bürostuhl, der unter meinem Gewicht knarzt. Die Anzeige auf dem Anrufbeantworter blinkt, es sind mehrere Nachrichten darauf, die sich das Wochenende über angesammelt haben. Ich drücke auf Play und hoffe, dass die verzweifelten Stimmen neuer Klienten mich auf andere Gedanken bringen werden.

„Frau Taylor? Sind Sie die neue Parapsychologin?“, beinahe jede zweite Nachricht beginnt mit diesen oder ähnlichen Worten, obwohl Elvira den Ansagetext sehr klar formuliert hat. Ich lehne mich zurück und höre weiter zu. „Ich weiß nicht, ob ich bei Ihnen richtig bin. Ehrlich gesagt, weiß ich gar nicht, was eine Parapsychologin eigentlich macht und außerdem habe ich mit solchen Dingen nicht wirklich viel am Hut.“ Komm zur Sache, denke ich leicht genervt und beginne auf dem Ende eines herumliegenden Kugelschreibers zu kauen, während ich das heutige Blatt im Kalender aufschlage. „Es geht um meine Tochter. Sie interessiert sich sehr für so dunkles Zeugs. Seit Monaten kleidet sie sich nur noch in schwarz, hat sich sogar die Haare schwarz gefärbt.“

„Hier ist nicht das Jugendamt, gute Frau“, zische ich dem Apparat entgegen und meine Finger wandern bereits zur Taste, die zur nächsten Nachricht vorspult.

„Sie ist erst sechzehn und ich habe Angst, dass sie mit den falschen Leuten zusammen ist. Überall malt sie diesen Stern hin und seit ein paar Wochen hat sie Probleme in der Schule.“

Ich schüttle mit dem Kopf, mein Finger liegt nun auf der Vorspultaste.

„Gestern kam sie erst am frühen Morgen wieder nach Hause, und als ich sie fragte, was sie gemacht hat und wo sie war, wollte sie erst nicht mit der Sprache rausrücken. Ich habe sie dann aber nicht in Ruhe gelassen, ich mache mir als Mutter ja schließlich Sorgen, wissen Sie?“

Das ist der Moment, in dem ich endgültig die Taste herunterdrücke und zur nächsten Nachricht spule. Würde ich mir alle Nachrichten von besorgten Müttern anhören, deren pubertierende Kinder eine wilde Phase durchmachen und zum Grufti werden, hätte ich für nichts anderes mehr Zeit. Es ist meine Aufgabe, aus den ganzen Anrufen die wichtigen und echten Fälle herauszufiltern. Und ein schwieriger Teenager gehört nicht dazu!

Die zweite Nachricht kommt von einer Hotelangestellten aus dem Süden. Sie erzählt, dass Gäste eines gewissen Zimmers immer wieder von polternden Geräuschen, Kratzen an den Wänden und kalten Luftzügen berichten, seitdem ein Gast sich vor ein paar Jahren dort drinnen erhängt hat. Bei ihren Erläuterungen denke ich sofort an Kitty, das ist ein Auftrag für sie. Ich notiere mir die Telefonnummer und Adresse und schreibe in ein paar Stichworten auf, worum es geht. Dann falte ich das Papier und schreibe oben Kittys Namen drauf.

Der dritte Anrufer ist wieder einer der Sorte, die ich nicht sonderlich ernst nehmen kann und die mir zugleich fürchterlich auf die Nerven gehen. Ein junges Mädchen mit piepsiger Stimme versucht möglichst cool und lässig rüberzukommen, doch die Nervosität ist deutlich im Zittern ihres Soprans zu hören. „Hey, Scarlett, hier im Dorf erzählt man sich, dass du eine ganz Große in Sachen Hexenkunst bist, und ich wollte mal fragen, ob du mir und meiner Clique was beibringen kannst.“

„Oh nein“, seufze ich und lege meinen Kopf auf das kühle Kalenderblatt vor mir. Seit ein paar Wochen kommen immer wieder Anfragen von Jugendlichen, die irgendwo meinen Namen aufgeschnappt haben und denken, ich wäre eine Wicca, oder gehöre sonst einer Naturreligion an, in die ich sie einweihen könnte. Die meisten von ihnen wollen einfach nur ihre Eltern schocken oder sich von den anderen in ihrer Klasse abheben. Ein ernstes Interesse an einer Religion oder der Natur, habe ich noch bei keinem Anrufer festgestellt. Zu Anfang traf ich mich noch mit einigen der Jugendlichen. Doch sobald sie ihren Kaugummi auf die Straße spuckten und mir in ihren wallenden schwarzen Mänteln entgegen kamen, mit dem lustigen Aufnäher „Just legalize it“ und ein paar gestickten Hanfblättern darunter, war mir klar, mit welcher Sorte Jugendlicher ich es zu tun hatte. In der Regel horchte ich sie dann nur etwas aus, und wenn sie mir so harmlos erschienen wie sie aussahen, verabschiedete ich mich und sah meine Pflicht als erledigt an. So lange sie keine Dämonen beschworen oder schwarze Messen abhielten, sollten sie meinetwegen tun und lassen was sie wollen.

„Wir kennen die Basics und so, aber vielleicht willst du ja mal bei unserem Zirkel vorbeischauen und uns ein paar Spells zeigen, oder was auch immer.“

Automatisch verdrehte ich die Augen. Sie kennen die Basics, sie haben einen Zirkel und wollen ein paar Spells lernen. Da hat wohl jemand mal wieder die Fernsehwelt mit der Realität verwechselt. Ohne ihrem Gebrabbel noch weiter zu lauschen, drücke ich die Vorspultaste und höre mir die Sorgen der nächsten Anrufer an. Eine ältere Frau fragt höflich nach unserer Schamanin Naomi, da sie mit ihrer verstorbenen Schwester Kontakt aufnehmen möchte. Seitdem unser Computergenie Jason uns eine Website eingerichtet hat, auf der all unsere „Dienstleistungen“ gelistet sind, hat Naomi immer mehr zu tun. Viele wollen mit Verstorbenen sprechen oder glauben, ein Fluch läge auf ihnen oder ihrem Haus. Naomi kommt dann und löst den Fluch, oder überbringt Botschaften der Toten in wundervollen und würdevollen Zeremonien. Es ist uns allen lieber, wenn die Kunden die Hilfe eines Schamanen in Anspruch nehmen, anstatt sich selbst an ein Ouija Board zu setzen oder Gläserrücken auszuprobieren. Denn solche Aktionen sind noch nie gut ausgegangen! Die wenigsten wissen, dass sie so ein Tor zur Unterwelt öffnen und Dämonen und andere dunkle Wesen dadurch zu ihnen sprechen und sich als geliebter Verstorbener ausgeben. Wenn wir so etwas vermeiden können, indem wir den Klienten unsere Schamanin Naomi vorbeischicken, dann haben wir schon eine Menge getan.

Ich gehe noch die letzten Nachrichten durch, mache mir Notizen und verteile potenzielle Aufträge an meine Teammitglieder. Danach stecke ich die Zettel mit den Aufträgen in meine Tasche, lösche das Band des Anrufbeantworters und schalte ihn wieder ein, bevor ich mich auf dem Weg zum Booh, der Stammkneipe für Dienstleister der Parapsychologie, mache. Da dieser Ort für alle Teammitglieder wie ein zweites Zuhause ist, hinterlege ich dort die Zettel mit den Aufträgen in einem kleinen Körbchen auf der Ecke des Tresens. Jeder der kommt, wirft einen Blick hinein und schaut nach, ob ein spezieller Auftrag für ihn, oder ein freier Auftrag, den ich niemand speziellem zuordnen konnte, drin ist. Dieses System funktioniert recht gut, auch wenn Jason sein Möglichstes tut, dieses Zettelsystem zu digitalisieren. Doch so lange Jo, Berny und ein paar andere ältere Teammitglieder sich weigern, ein Smartphone zu nutzen, werden wir wohl bei dem Zettel-System bleiben.

Als ich gerade auf dem Rückweg bin, klingelt mein Handy. Ich fahre mit dem sperrigen Bulli rechts ran und nehme ab.

„Hey, Süße, ich bin´s. Störe ich gerade? Es dauert auch nicht lange“, beginnt die Stimme meiner besten Freundin Carmen zu plappern und ich kneife die Augen zusammen. Beinahe hätte ich vergessen, dass sie und ihr Freund, der gleichzeitig ihr Chef ist, heute Abend zu uns zum Essen eingeladen sind.

„Bill verträgt keine Nüsse, er hat eine Nussallergie. Ich weiß ja nicht was du kochen willst, aber es darf nichts mit Nüssen sein, weißt du? Erdnüsse sind am Schlimmsten, davon schwillt sein Gesicht richtig an und wird knallrot. Ich hab´s einmal miterlebt und das will ich wirklich nicht nochmal sehen. Es war widerlich!“

„Okay“, sage ich, doch sie redet schon weiter, über Walnüsse, Haselnüsse und Desserts mit Nusscreme.

„Selbst Eis mit Nüssen verträgt er nicht, obwohl ich ja bezweifle, dass da auch nur etwas anderes als Nussaroma drin ist. Ich meine, echte Nüsse sind bestimmt nicht im Eis. So wie Erdbeeren auch kaum im Erdbeerjoghurt zu finden sind, man muss sich ja nur mal die Zutaten auf der Rückseite durchlesen. Meistens steht da nur was von Aroma, aber nicht von Erdbeeren!“

„Ist Bill auch gegen Erdbeeren allergisch?“, hake ich ein wenig verwirrt nach und trommle mit den Fingern auf dem Lenkrad.

„Nein, nein, nur gegen Nüsse. Aber Nüsse in jeglicher Art und Form, weißt du?! Bill bat mich, dir das zu sagen, nicht dass du nachher so viel Mühe mit dem Kochen hast, und er es gar nicht essen darf. Das wäre ja auch wirklich schade. Er lässt dich im Übrigen schön grüßen und freut sich schon, dich und Chris heute Abend kennenzulernen“, säuselt sie übertrieben aufgeregt.

„Du hast ihm aber nichts von-“, beginne ich, doch sie antwortet bereits, bevor ich den Satz zu Ende sprechen kann.

„Nein, nein, natürlich nicht. Das würde er sowieso nicht verstehen. Ich meine, wer versteht das schon?“ Sie kichert kurz hysterisch. „Ich verstehe diese ganze Hexen-Sache ja selbst nicht! Also nein, ich habe ihm nichts davon erzählt, das ist auch nichts für ihn. Also, ich meine dieses ganze Esoterische, das ist nichts für ihn.“

Ich seufze. „Es hat nichts mit Esoterik zu tun, Carmen“, erkläre ich, obwohl ich weiß, dass es sinnlos ist. Aber ich mache ihr keinen Vorwurf. Wie soll sie die Tatsache, dass ich eine Druidenhexe und mein Freund ein Mannwolf ist, auch verstehen?

„Das weiß ich doch, aber es bleibt unser Geheimnis, ja? Wir sagen Bill nichts von dieser Hexensache, okay?“

„Nein, auf keinen Fall.“

Ich höre sie erleichtert seufzen. „Dann ist ja gut. Also, Süße, keine Nüsse. Dann bis später, ich freu mich schon!“

„Ich mich auch“, sage ich und versuche es auch so zu meinen. Dann legen wir auf. „Keine Nüsse und kein Hexenkram für Wilhelm“, sage ich zu mir selbst und spucke seinen wahren Namen förmlich aus. Er heißt Wilhelm, nennt sich aber Bill, weil das jugendlicher und frischer wirkt, sagt Carmen. Ich kenne ihn zwar nur aus Carmens Erzählungen, aber es fällt mir schwer, unvoreingenommen zu bleiben. Er betrügt seine Frau, mit der er einen gemeinsamen Sohn hat, seit Jahren mit Carmen. Ihre Beziehung findet hauptsächlich bei der Arbeit statt, wo sie als seine Sekretärin fungiert. Dass sie sich mal außerhalb der Arbeit treffen, ist nur auf Geschäftsreisen möglich, oder wie jetzt, da seine Frau zur Kur ist. Aber Carmen liebt ihn und deswegen werde ich ihn heute Abend bei uns willkommen heißen, auch wenn ich eigentlich nur herausfinden will, was mit dem See hinter Chris´ Haus los ist.

Scarlett Taylor - Wendy

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