Читать книгу Scarlett Taylor - Wendy - Stefanie Purle - Страница 8
Kapitel 6
Оглавление„Ella, deine Tochter ist hier“, ruft Elvira durch den schmalen Wohnungsflur und schiebt mich in Richtung des Wohnzimmers. „Nun mal nicht so schüchtern“, flüstert sie in mein Ohr und drückt noch ein wenig fester gegen meinen Rücken. „Sie hat heute einen guten Tag.“
Ich trete durch den Türrahmen und sehe meine Mutter auf dem eukalyptusgrünen Sessel mit den Mooreiche-Armlehnen vor dem Fenster sitzen. Trotz der sommerlichen Wärme hat sie eine bunte Häkeldecke um ihre Schultern gelegt. Ihr Blick ist nach draußen gerichtet, wo sie auf die Baumkronen und die kleinen Wattewolken am sonst klaren Himmel schaut.
„Hallo Mama“, sage ich leise und bleibe an der Wand neben der Tür stehen.
Uns trennen noch rund vier Meter, doch sie zuckt trotzdem zusammen und ich sehe, wie ihre knochigen Finger sich in die Häkeldecke krallen.
„Hallo Scarlett“, antwortet sie, ohne den Blick vom Fenster zu nehmen.
„Ich mache uns Tee, okay?“, ruft Elvira heiter aus der Küche und schon klappern Tassen und Wasser rauscht.
„Okay“, rufe ich zurück und gehe langsam auf das Sofa zu. Meine Mutter beobachtet mich im Augenwinkel und spannt ihren gesamten Körper an. „Ich setze mich hier hin, okay?“, sage ich und zeige auf das braune Sofa mit der orange karierten Decke darauf.
Mama nickt.
Ich bewege mich beinahe im Zeitlupentempo, setze mich hin und zucke selbst zusammen, als die Sprungfedern im Sofa quietschen. „Wie geht es dir?“
Sekunden verstreichen, in denen ich mir nicht sicher bin, ob heute einer dieser Tage ist, wo sie mich ignoriert, oder nicht.
„Gut“, sagt sie schließlich so leise, dass ich sie kaum verstehen kann.
Ich trommle mit den Fingerspitzen auf meinen Oberschenkeln und wünschte, Elvira würde sich endlich zu uns gesellen und diese angespannte Stimmung mit ihrer Heiterkeit auflösen. Doch sie lässt sich Zeit, vermutlich, um uns Zeit zum Reden zu geben. Das Problem ist nur, dass meine Mutter nicht mit mir spricht!
„Und? Was machst du so den ganzen Tag?“ Selbst in meinen Ohren hört sich diese Frage geheuchelt an. Ich weiß, was sie macht: Nichts. Sie sitzt vorm Fenster oder vorm Fernseher und starrt. Eigentlich hat sich nichts verändert: Sie ist immer noch in einer Art Koma gefesselt, doch dieses Mal ein selbst herbeigeführtes Koma mit Fesseln aus Angst vor der Welt und ihrer Tochter.
Sie zuckt mit den Schultern.
„Warst du schon draußen, bei dem schönen Wetter?“
Ihr Kopf bewegt sich leicht und ich deute es als ein nein.
„Es ist wirklich angenehm, noch nicht so schwül wie gestern. Vielleicht könnten wir zusammen spazieren gehen“, wage ich mich vor und merke sofort, dass ich damit diese imaginäre Tür, die sie nur einen winzigen Spalt geöffnet hatte, wieder zugeschlagen habe.
Mama antwortet nicht mehr sondern versteckt sich in sich selbst. Ein Fluchtmechanismus aus ihrer Zeit im Wachkoma, hat Elvira mir mal erklärt. Wenn die Realität zu anstrengend, schwierig oder beängstigend wird, zieht meine Mutter sich in sich selbst zurück.
Ich warte noch ein paar Minuten und als ich den Teekessel pfeifen höre, stehe ich auf. „Ich werde Elvira mal mit dem Tee helfen“, sage ich und verlasse den Raum.
„Was ist los?“, fragt Elvira, als ich zu ihr in die Küche komme.
Sie gießt das heiße Wasser in die mit lila Rosen bemalte Porzellan-Kanne auf dem Tablett. Es stehen noch zwei dazu passende Teetassen mit Unterteller und Löffel darauf, ein kleiner Teller mit einer Auswahl trockener Kekse, eine Schale mit Zucker, ein Kännchen mit Milch und eine noch leere Schnabeltasse.
Als Elvira meinen Blick bemerkt legt sie zwei Finger auf die Schnabeltasse. „Ich weiß, du möchtest, dass ich sie zwinge, aus normalen Bechern zu trinken. Aber du musst die Sauerei auch nicht jedes Mal wegmachen, wenn sie ihren Tee wieder verschüttet!“
Ich habe heute keine Lust auf diese Diskussion, also winke ich einfach ab. „Schon gut“, seufze ich. „Gib ihr die Schnabeltasse, wenn es das ist, was sie will.“
Elvira sieht mich verwundert an. „Alles okay mit dir?“, fragt sie und streift ihre Hände an der mit bunten Rosen bedruckten Schürze ab, bevor sie nach dem Tablett greift.
„Warte, ich muss dich was fragen.“ Ich deute mit dem Kopf auf den kleinen Küchentisch in der Ecke des Raumes. „Können wir hier reden?“
Meine Tante lässt das Tablet los. „Natürlich, Kindchen. Was ist denn los?“
Als wir beide sitzen, platze ich mit den Neuigkeiten heraus. „Die Polizei war gerade eben bei mir und Chris zuhause. Genauer gesagt, zwei Beamte vom BKA.“
Erst reißt sie erschrocken die Augen auf, doch dann fängt sie sich wieder und winkt gelassen ab. „Kein Problem, deine Identität ist verschleiert. Sie können dich in ihren Akten suchen, werden aber nichts finden. Es hat mich eine Menge gekostet, dass alle Daten zu unseren Personen regelmäßig gelöscht werden. Wir haben eine reine Weste.“
„Ja, das weiß ich. Darum geht es auch nicht.“
„Worum geht es dann?“ Sie streicht immer wieder mit den Händen über ihre Schürze und ich merke, dass das Thema Polizei bei ihr, wie bei allen Parapsychologen, Dämonologen, Medien und Schamanen auch, eine gewisse Nervosität mit sich bringt.
„Einer der Kommissare schien dich zu kennen. Sein Name ist Schlegel, er hat nach dir gefragt.“
Elvira presst die Lippen zu schmalen Schlitzen, doch ihr Blick bleibt unverändert lässig. „Was hat er denn gefragt?“
„Er wollte wissen, ob du noch arbeitest.“
Ich sehe zu, wie kurz die Farbe aus dem Gesicht meiner Tante weicht. „Ach ja?“ Die Blässe auf ihren Wangen wird von einer leichten Röte abgelöst. „Sonst nichts?“
„Elvira? Wirst du etwa rot?“ Ich traue meinen Augen kaum. Meine Tante Elvira wird nicht rot, sie ist noch nie rot geworden!
Sie blickt nach unten, lässt das schulterlange, grau-weiße Haar in ihr Gesicht fallen, und ich glaube sogar, ein leises Kichern zu hören.
„Elvira, was ist los mit dir? So kenne ich dich ja gar nicht!“ Ich muss lachen, als sie ihr Gesicht mit den Händen verdeckt. „Was läuft da mit dir und diesem Schlegel?“
„Hach, Kind“, seufzt sie, reibt sich über ihr Gesicht und streicht ihr Haar nach hinten. „Günther ist der Grund, warum wir keine Akteneinträge haben, warum wir strafrechtlich nicht belangt werden können und quasi unsichtbar sind.“
„Günther?“, ist alles, was ich vor lauter Staunen herausbekomme.
Sie nickt. „Ja, Günther Schlegel, Ermittler beim BKA. Wir haben eine Zeitlang zusammen… gearbeitet.“
„Gearbeitet“, wiederhole ich und wackle vielsagend mit den Augenbrauen.
Ein Grinsen breitet sich auf ihrem Gesicht aus. Sie zieht die Schultern hoch und kommt mir plötzlich viel jünger vor. „Ja, gearbeitet und… solche Sachen eben.“
„Und ihn hast du bezahlt, damit unsere Polizeiakten leerbleiben?“
Jetzt erröten ihre Wangen erneut und ihr Blick gleitet ab. „Nun ja, bezahlt habe ich ihn. Mehrmals. Allerdings nicht mit Geld.“
Ich bin fassungslos. „Er hat dich gezwungen mit ihm zu schlafen, um dir Immunität zu verschaffen?“
Sie nimmt eine Haarsträhne und zwirbelt sie um ihren Zeigefinger. „Er musste mich nicht zwingen.“
Oh mein Gott.
Elvira und Günther hatten eine Affäre!
Ich stelle mir diesen großen, dicken Mann mit seiner speckigen Halbglatze und den buschig grauen Augenbrauen zusammen mit meiner zierlichen, kleinen Tante vor und muss bei dieser Vorstellung fast würgen.
Elvira hat nie von ihm gesprochen. Sie hat generell nie einen Freund oder Mann in ihrem Leben erwähnt. Wie naiv von mir anzunehmen, dass sie nie eine Beziehung hatte. Offenbar war sie kein Kind von Traurigkeit und hatte ihren Spaß, bloß ohne es an die große Glocke zu hängen.
„Es war ein Abkommen, niemand wurde zu irgendwas gezwungen, Scarlett. Wir sind uns ein paar Mal an verschiedenen Tatorten zwangsläufig begegnet. Und irgendwann kamen wir ins Gespräch. Wir haben uns auf ein Bier getroffen, dann wurden es zwei, dann drei Bier, und schließlich gingen wir in ein Motel, und dann…“
„Stopp!“, sage ich und hebe die Hand. „Das reicht, den Rest kann ich mir denken. Danke für das bildhafte Szenario, das sich gerade in meinem Kopf abspielt.“
Elvira kichert und ihr Blick wirkt verträumt. „Er war damals ein gutaussehender Mann, musst du wissen. Er hatte diese breiten Schultern und genau die richtige Menge Brustbehaarung.“
„Oh Gott, Elvira, bitte hör auf!“ Ihre Fingerspitzen zucken in der Luft, als spiele sie gerade mit den imaginären Brusthaaren ihres Verflossenen. „Bitte, keine weiteren Details mehr.“
Jetzt lacht sie. „Ich wusste gar nicht, dass du so prüde bist! Dabei habe ich dir noch gar nicht von seinem besten Stück vorgeschwärmt. Du musst wissen, es war…“
„Nein“, rufe ich, als sie mit ihren Händen eine Größe andeutet. „Ich will das nicht hören!“
„Puh, der Mann war nicht von schlechten Eltern“, sagt sie lachend und macht eine Handbewegung, als wische sie sich Schweiß von der Stirn.
Noch nie hat sie so offen mit mir über ihr Privatleben gesprochen. Ich frage mich, was der Grund dafür ist. Liegt es daran, dass ich das Thema nie angesprochen habe?
„Warum hast du nie von ihm erzählt?“, frage ich schließlich, schüttle die inneren Bilder ab und lege die Hände auf den Tisch.
Elvira legt den Kopf schief und blickt nachdenklich an mir vorbei. „Keine Ahnung. Wir hatten ja keine feste Beziehung, oder sowas. Ich schätze, ich hielt es einfach nicht für wichtig, ihn zu erwähnen.“
„Mhm“, murmele ich und nicke. „Und was weiß dein ehemaliger Lover alles von uns? Weiß er, was wir tun?“
Sie schüttelt mit dem Kopf. „Erstens, ich würde ihn nicht als ehemaligen Lover bezeichnen. Es ist eher so eine saisonale Geschichte. Und zweitens, er weiß, dass ich mich um Fälle gekümmert habe, bei denen die normale Polizei an ihre Grenzen stieß. Manche Fälle habe ich auch erst übernommen, weil er mich darauf aufmerksam gemacht hat. Er weiß nicht, dass es Dämonen und Geister wirklich gibt, dass es Werwölfe, Vampire und das alles gibt. Aber er weiß, dass die Polizei und das BKA bei manchen Kriminellen nicht die Mittel und Wege haben, die mir offenstanden.“
„Weiß er, dass ich deine Nachfolge angetreten habe?“
„Ja, das weiß er. Deswegen hält er deine Akte auch sauber. Er wollte nie wissen, womit genau wir es zu tun hatten. Es reichte ihm, wenn das Morden danach aufhörte.“
Ich lehne mich erstaunt zurück. „Also habt ihr wirklich zusammengearbeitet? “
Elvira nickt. „Ja, viele Jahre lang. Meistens wusste er, dass das BKA es mit keinem menschlichen Monster zu tun hat, sobald einer von uns den Tatort betrat.“
„Er kennt auch andere von uns?“
„Ja. Berny, Jo, Naomi, Fletcher. Er weiß, dass sie ähnlich arbeiten wie ich früher.“
Gedanklich gehe ich das Gespräch mit Günther Schlegel erneut durch. Was meinen Beruf anging, war es offensichtlich, dass er mir nicht glaubte. Und wenn ich jetzt so darüber nachdenke, hätte er mich bei meinen vagen Antworten ganz schön in die Ecke treiben können. Aber das hat er nicht getan. Und nach Elvira hat er erst gefragt, als sein Kollege schon draußen war.
„Er ist also einer von den Guten“, fasse ich abschließend zusammen.
„Oh ja“, antwortet Elvira und nickt mit großen Augen. „Einer von den ganz Guten.“ Und wieder deutet sie mit beiden Händen eine Größe an.
Ich mache ein angewidertes Geräusch und wende den Kopf ab, was Elvira in schallendes Gelächter verfallen lässt.
Den Tee habe ich ausfallen lassen. Nun, da ich weiß, dass Günter Schlegel auf unserer Seite ist, bereue ich es doch, ihm nicht davon erzählt zu haben, dass die Jugendlichen sich wahrscheinlich unten am See hinter unserem Haus getroffen haben. Ich war kurz davor ihn anzurufen, entschied mich dann aber dafür, noch einmal selbst zum See zu gehen. Vielleicht entdecke ich ja noch mehr Interessantes, von dem ich ihm dann ebenfalls berichten kann.
Ich parke auf der Einfahrt und sehe an der offenstehenden, leeren Garage, dass Chris bereits wieder unterwegs ist. Wahrscheinlich ist er im Booh um zu gucken, ob er jemandem bei einem Fall helfen kann. Als ich aus dem Auto steige, empfängt mich die feuchte Mittagshitze. Die Sonne steht hoch am wolkenklaren Himmel und brennt unbarmherzig auf mich herab. Zum Glück trage ich nur ein dünnes schwarzes Shirt mit kurzen Ärmeln, eine Dreivierteljeans und Ballerinas. Ich ziehe die Schuhe aus, stelle sie neben meinen Wagen und flechte mir schnell die Haare, bevor ich mich auf den Weg zum See mache.
Barfuß jogge ich den kleinen Pfad neben dem Haus entlang, der hinunter zum See führt. Schneller wäre ich unten, würde ich durch den Wald rennen, doch heute entscheide ich mich für diesen Weg. Er ist mit dem Auto befahrbar, Chris nutzt ihn, um sein Boot auf dem Anhänger nach unten zu transportieren. Die Reifenspuren haben sich tief in den Boden gegraben, doch mittig wächst das Gras kniehoch. Alle fünfzig Meter bleibe ich stehen und lausche. Je näher ich dem See komme, umso stiller wird es. Ich kann immer weniger Tiere und magische Waldwesen wahrnehmen, selbst die Mückenschwärme werden weniger.
Als ich endlich unten bin, bleibe ich dicht am matschigen Ufer stehen. Meine Zehenspitzen berühren das Wasser, das heute noch grauer wirkt als gestern. Wieder spiegelt sich der blaue Himmel nicht auf der Oberfläche, stattdessen sieht es aus, als nahe ein Gewitter.
Ich hocke mich hin und berühre das Wasser mit meinen Händen, dann horche ich in mich hinein und verbinde mich mit dem See. Es dauert ein bisschen länger als ich es gewohnt bin, doch dann bin ich verbunden und höre wieder dieses weinende Geräusch. Es ist kein menschliches Weinen. Es hört sich beinahe so an, als würde ein Streichinstrument traurige Töne spielen. Die Wasserwesen sprechen nicht zu mir, und ich kann sie auch nicht zwingen, da ich nicht mehr ihre Königin bin. Normalerweise zeigen sie sich sofort, wenn ich mich mit dem Wasser des Sees verbinde, doch dieses Mal fühle ich nur, dass sie da sind, mehr aber nicht. Verwundert löse ich die Verbindung und stehe wieder auf. Sowas habe ich noch nie erlebt.
Ich gehe weiter am Ufer entlang. An den meisten Stellen wächst das Schilf und die gelbe Sumpfdotterblume so hoch, dass ich ein paar Meter vom Ufer entfernt laufen muss, um auf festem Boden zu bleiben. Meine Augen suchen währenddessen den Boden nach Spuren weiterer Treffen menschlicher Individuen ab. Ich erkenne, dass vor nicht allzu langer Zeit jemand den See umrundet hat. Das Gras liegt in einer breiten Spur flacher als im umliegenden Teil. Doch diese Spuren könnten entweder meine eigenen oder die von Fletcher sein, der gestern Abend noch hier war.
Ich erreiche den Bootssteg am gegenüberliegenden Ende des Sees und steige soweit darauf, wie die zerbrochenen Latten es zulassen. Vor einer fehlenden Latte knie ich mich nieder und schaue in das tiefere Wasser. Es ist so dunkel im See, dass ich weder die hohen Spitzen der Algen, noch kleine Fische oder Mückenlarven sehen kann. Der See wirkt wie tot auf mich.
Ich sehe wieder auf und blicke mich um. Kein Lüftchen weht, kein Vogel zwitschert, es ist absolut still. Noch nicht einmal das Wasser bewegt sich. Wäre da nicht mein eigenes Atemgeräusch, könnte ich glauben, ich wäre taub.
Vorsichtig erhebe ich mich und will auf dem Bootssteg umkehren, als plötzlich ein Krachen ertönt und ich in die Luft geschleudert werde. Ich will mich umsehen und wissen, was passiert ist, doch da bin ich schon durch die gebrochenen Latten im kalten Wasser gelandet. Mein Hinterkopf schlägt gegen einen Pfosten des Steges und ich tauche ungewollt mit dem Kopf unter, gerade in dem Moment, als ich nach Luft schnappen will.
Meine Lunge füllt sich mit Wasser und ich strample mit Armen und Beinen, um wieder an die Oberfläche zu kommen. Panik erfüllt mich, als sich die helle Oberfläche weiter und weiter von mir entfernt, bis ich nur noch einen helleren grauen Fleck über mir sehen kann.
Dann plötzlich spüre ich einen Griff um mein Fußgelenk. Der Druck ist so stark, dass ich vor Schmerz gurgelnd aufschreie. Was auch immer mich da gepackt hat, zieht mich noch tiefer nach unten. Die Kraft hinter dem Zug ist so immens, dass meine Arme nach vorne schnellen, meine Ohren knacken und mir ganz schwindelig wird. Vor Angst schreie ich wieder, was aber nur dazu führt, dass ich noch mehr Wasser in meine Lungen bekomme. Ich kann nicht mehr klar denken und höre plötzlich ein fieses, gurgelndes Lachen.
Angst und Panik erfassen mich und lassen das Adrenalin in meinen Adern ansteigen. Ich erinnere mich wieder daran, wer und was ich bin. Mit letzter Konzentration, die mein umnebeltes Gehirn noch aufbringen kann, verbinde ich mich mit dem Element Luft, halte die Hände nach unten und lasse einen wirbelnden Luftstrahl ins Wasser gleiten. Mein Körper schießt wie eine Rakete nach oben. Der Griff um meinen Knöchel lockert sich widerwillig und ein mieses Knurren ertönt, bevor ich endlich die Wasseroberfläche durchbreche.
Hustend und gurgelnd hole ich Luft und blinzle das Wasser aus meinen Augen. Ich bin in der Mitte des Sees aufgetaucht, mehr als zweihundert Meter vom Bootssteg entfernt. Die dunkle Tiefe unter mir schürt meine Panik und meine Bewegungen werden hastiger. Ich nehme wieder das Element Luft zur Hilfe, um so schnell wie nur eben möglich ans Ufer zu kommen.
Nach einer gefühlten Ewigkeit habe ich es aus dem tiefen Wasser herausgeschafft und spüre endlich den schlammigen Boden unter meinen Füßen. Mit letzter Kraft schleppe ich mich ans Ufer, stapfe durch den hüfthohen Schilf und breche auf dem Gras dahinter zusammen. Mein Röcheln ist übermäßig laut in der Stille. Ich würge, drehe mich auf die Seite und spucke einen Schwall Wasser aus.
„Scarlett? Scarlett!“ Die Rufe kommen immer näher.
Ich drehe mich wieder zurück und setze mich zitternd auf. Durch das ganze Wasser kann ich nur verschwommen sehen, doch ich erkenne Chris sofort, als ich sein rot kariertes Hemd inmitten der Bäume entdecke. Wie zur Bestätigung beginnt mein Brustbein warm zu kribbeln und ich weiß, dass mein Gefährte auf dem Weg zu mir ist.
Er erreicht mich, als ich wieder Wasser aushuste.
„Scarlett, was ist passiert?“, fragt er besorgt und streicht die nassen Strähnen meines Haares aus meinem Gesicht. Er ist in seiner Mannwolfgestalt und das weiche Fell von seinen Händen trocknet meine nasse Wange.
„Ich bin beim Bootssteg eingebrochen“, sage ich mit heiserer Stimme und huste wieder.
Chris´ Blick gleitet zum Steg und seine Stirn legt sich verärgert in Falten. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, hebt er mich auf seinen Arm und drückt mich an sich. Erst, als ich seinen warmen Körper an meinem spüre, bemerke ich, wie kalt ich bin. Trotz der sommerlichen Temperaturen war das Wasser beinahe eiskalt.
In weniger als einer Minute hat Chris mich hoch zum Haus getragen und setzt mich erst ab, als wir oben im Bad sind. Meine Beine sind wackelig und erst jetzt merke ich, wie schwindelig mir noch immer ist. Er führt mich zum Rand der Badewanne und ich setze mich dankbar darauf.
„Soll ich dich zu einem Arzt bringen?“, fragt er besorgt und hockt sich vor meinen Beinen hin.
„Nein, nicht nötig“, wehre ich ab und massiere meine Schläfen, während ich die Augen schließe, weil sich alles um mich herum dreht. „Ich bin bloß erschöpft, denke ich.“
Chris´ Hände gleiten über meine nassen Beine, bis er schließlich meinen Knöchel anhebt. „Was ist das denn?“
Der scharfe Ton seiner Stimme lässt mich die Augen wieder öffnen. Er deutet auf meinen Knöchel und ich folge seinem Blick: Längliche, blaue Striemen, drei an der Zahl, ziehen sich um mein Fleisch, knapp oberhalb des Knöchels. Ein weiterer einzelner Striemen ist auf der Rückseite zu sehen. Es sieht fast wie ein Handabdruck mit vier sehr langen Fingern aus.
Ich reiße die brennenden Augen auf. „Ich hatte das Gefühl, als wenn mich etwas oder jemand unter Wasser gezogen hat. Und als ich dann endlich wieder auftauchen konnte, war ich in der Mitte des Sees!“
Chris´ Augen funkeln verärgert. „In der Mitte des Sees? Der See ist knapp fünfhundert Meter breit!“
„Ja, ich weiß“, sage ich und muss wegen der nassen Klamotten zittern.
Chris reagiert sofort und stellt mich wieder auf die Füße, bevor er mir hilft, mich von dem klammen Shirt zu befreien. Dann fasst er mit den Armen um mich herum und öffnet meinen BH.
„Du bist eiskalt“, sagt er nachdenklich und knöpft meine Hose auf. „Hätte ich doch nur den Steg letztes Jahr schon repariert, dann wäre das nicht passiert.“
„Nein, daran lag es nicht“, versuche ich seine Selbstvorwürfe zu lindern. „Es fühlte sich eher so an, als sei etwas von unten gegen den Steg gestoßen, als ich darauf stand. Irgendwas wollte, dass ich ins Wasser falle.“ Meine Zähne klappern und ich beiße mir aus Versehen auf die Zunge.
Chris hebt eine Augenbraue und zieht mir die Hose von der Hüfte. „Sicher?“, hakt er skeptisch nach. „Oder willst du nur, dass ich mich wegen des Steges besser fühle?“
Schlotternd grinse ich ihn an und hebe abwechselnd die Beine, damit er mir die Hose von den Füßen ziehen kann. „Auch.“
Er kommt wieder zu mir hoch und zieht mich an seinen warmen Körper. Seine warmen, großen Hände wandern meinen Rücken herab und verschwinden unter meinem Slip. Je eine Hand bedeckte eine meiner eiskalten Pobacken. Ich schlinge mit klappernden Zähnen die Arme um ihn und genieße seine Wärme. Am liebsten würde ich in ihn reinkriechen und mich in ihm verstecken, bis mir wieder warm ist. Doch er schiebt mich ein Stück weg, zieht meinen Slip herunter und lässt mich aus ihm steigen. Dann geht er zur Dusche und stellt sie an. Bevor ich fragen kann, knöpft er schon sein Hemd auf. Ich gehe vor und stelle mich unter das warme Wasser, während ich dabei zusehe, wie der Mann meiner Träume sich entkleidet.