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Kapitel 4

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Ich fahre den schmalen Pfad durch den Wald in Richtung Chris´ Haus und denke darüber nach, was Elvira mir offenbart hat. Zu wissen, dass man plötzlich eine Lebenserwartung von knapp fünfhundert Jahren hat, stimmt einen nicht ausschließlich fröhlich. Es bedeutet, dass all diejenigen, die mir jetzt am Herzen liegen, in fünfzig bis einhundertdreißig Jahren nicht mehr da sind. Und dann liegen noch rund dreihundertvierzig einsame Jahre vor mir. Mein Herz wird schwer, wenn ich daran denke. Wenn der schwarze König schon seit vierhundert Jahren existiert, dann bleiben ihm nur noch rund einhundert Jahre zu leben. Wie viele Menschen hat er gehen sehen? Ob es ihm schwerfiel, die Menschen um ihn herum sterben zu sehen? Hat er überhaupt Gefühle und ein Herz?

Mein Wagen kommt knirschend auf dem Kies vor Chris´ Doppelgarage zum Stehen und ich steige aus, während ich mich umblicke. Dieses Haus haut mich einfach um! Es ist so gigantisch und wirkt, als sei es einem Märchenbuch entsprungen. Ich frage mich, wie viele Menschen überhaupt wissen, dass sich tief in diesem Wald hinter der Stadt solch ein Traumhaus verbirgt.

Ich drücke den Knopf meines Autoschlüssels und schließe den Wagen ab. Womöglich wäre das hier, inmitten der dichten Wälder, gar nicht nötig, da sich wahrscheinlich eh niemand hierhin verirrt, aber ich tue es trotzdem.

Als ich auf die Haustür zulaufe, wird sie geöffnet und Chris kommt mit einem strahlenden Lächeln auf den Lippen heraus. Er läuft auf mich zu, schlingt seine Arme um mich und hebt mich hoch.

„Du hast mir gefehlt“, raunt er in mein Ohr und sein heißer Atem streift meinen Hals.

Ich lache und lege meine Arme um seine breiten Schultern, während ich mit den Fingern durch sein weiches Haar streiche. „Es waren doch nur ein paar Stunden.“

„Viel zu lange“, sagt er und bedeckt meinen Hals mit Küssen, während er mich in seinen starken Armen scheinbar mühelos trägt. Dann finden seine Lippen meine und er küsst mich, als wären wir Wochen voneinander getrennt gewesen. Die Stelle an meinem Brustbein wird warm und beginnt immer stärker zu kribbeln, je länger der Kuss dauert.

Ein Räuspern hinter Chris lässt mich innehalten, Chris jedoch nicht. Er küsst mich weiter und ich höre das Räuspern erneut, diesmal lauter mit einem leicht genervten Unterton. Ich drehe den Kopf und blicke an Chris vorbei. Die blonde, schlanke Frau steht mit gekreuzten Armen lässig im Türrahmen und blickt zu uns herüber, während Chris seinen Kopf mit einem wohligen Raunen in meiner Halsbeuge versenkt.

„Chris, wir werden beobachtet“, flüstere ich und zapple mit den Beinen.

Widerwillig löst Chris sich von mir und setzt mich wieder ab, jedoch nicht, ohne meine Hand zu nehmen und unsere Finger miteinander zu verschränken.

„Fertig?“, fragt die blonde Frau und zieht die Augenbrauen hoch.

„Eigentlich nicht“, entgegnet Chris und zieht mich an seine Seite.

Wieder räuspert sich die Frau und beginnt mit der Spitze ihres Wildlederstiefels ungeduldig auf den Boden zu tippen. „Würdest du mich nun bitte vorstellen, Christobel?“

Chris führt mich grinsend zu der Frau. „Darf ich vorstellen, Scarlett, das ist meine nervige Schwester Bianca“, sagt er und Bianca reicht mir die Hand. „Bianca, das ist Scarlett, meine Gefährtin.“

Ich ergreife Biancas Hand und besehe mir ihr hübsches Gesicht. Sie hat dieselben Augen wie Chris, moosgrün mit langen dunklen Wimpern, auch den kantigen Kiefer und die vollen Lippen haben sie gemein, jedoch hat Bianca eine kleine Stupsnase und wenn sie lächelt, bilden sich kleine Grübchen neben ihren Mundwinkeln.

„Hallo Scarlett, freut mich, dich kennenzulernen. Chris hat die ganze Zeit nur von dir gesprochen“, sagt sie und rollt lachend mit den Augen.

„Hallo Bianca“, sage ich und blicke zu ihr hoch. „Freut mich auch sehr.“

Wir folgen ihr ins Innere des Hauses und Chris schließt die Tür hinter uns. Er ist ganz Gentleman und hilft mir aus meinem Mantel, während ich mich umsehe. Von innen ist das Haus noch atemberaubender. Alles ist in Holztönen gehalten, bis auf den Kamin in der Mitte des riesigen Raumes, der wirkt, als wäre er aus einem Fels geschlagen worden. Der Raum erstreckt sich bis zum hinteren Teil des Hauses, der an einer Glaswand endet, durch die man auf den angrenzenden Wald blicken kann. Dichte hohe Tannen, niedrige Büsche und Laubbäume drängeln sich dicht vor der Fensterfront und bilden so einen natürlichen Sichtschutz. Vor dem Kamin sind Bänke aus grauem Stein, mit Fellkissen darauf. Daneben stehen Sofa und Sessel auf einem rötlichen Perserteppich und über dem Couchtisch schwebt ein kupferner Kronleuchter. An der Außenwand ist ein großer Flachbildfernseher angebracht, vor dem das schwarzhaarige Mädchen sitzt und ganz vertieft an einer Konsole ein Computerspiel spielt.

„Hey Riva, kommst du mal her?“, ruft Chris dem Mädchen zu und sie steht widerwillig auf. „Ich möchte dir jemanden vorstellen.“ Chris legt seine Hand in meinen Rücken und führt mich um die große Sitzecke herum zu dem kleinen Mädchen, das sich nur schwer von ihrem Spiel lösen kann. „Riva ist meine Nichte, Biancas Tochter.“

Auf halbem Weg treffen wir aufeinander und die Kleine blickt mich aus runden, moosgrünen Augen an. „Hallo“, sagt sie mit piepsiger Stimme und schielt über ihre Schulter zu ihrem Spiel, während sie ihre kleine Hand ausstreckt.

Ich bücke mich und ergreife ihre klebrig schlaffe Hand. „Hallo, ich bin Scarlett, und du?“

„Riva“, sagt sie, ohne mich anzusehen.

„Riva, begrüße die Gefährtin deines Onkels ordentlich!“, ermahnt Bianca, stemmt die Hände in die Hüfte und wartet auf Rivas Reaktion.

Die Kleine sieht mich erneut an, zieht eine Schnute und reicht mir noch einmal die Hand. Wieder ergreife ich sie. „Hallo, ich bin Riva. Kennt mich dich freuen zu lernen“, sagt sie und Chris beginnt zu lachen. „War das falsch?“, will sie wissen und blickt zu ihrer Mutter.

„Ein bisschen“, sagt Bianca und beginnt ebenfalls zu lachen. „Freut mich, dich kennenzulernen, heißt es.“

Riva sieht mich an, ihr Mundwinkel zuckt und ihre großen Augen funkeln. „Freut mich dich zu lernen!“, sagt sie und flitzt zurück vor den Fernseher.

Jetzt kann auch ich mir das Lachen nicht mehr verkneifen. Riva sitzt wieder im Schneidersitz vor ihrer Spielekonsole und blickt grinsend über ihre Schulter zu uns herüber, bevor sie sich wieder ganz ihrem Spiel widmet.

Chris führt mich um den großen Kamin herum, hinter dem sich die Küche befindet. Auch hier ist alles in Holztönen gehalten. An der einen Wand ist ein riesiger Herd mit sechs Platten und einem übergroßen Backofen. Davor befindet sich eine Kücheninsel mit Barhockern. Bianca öffnet einen der Schränke und holt ein paar Tassen hervor.

„Habt ihr noch Zeit für einen Kaffee, oder müsst ihr los?“, fragt sie, dreht sich halb um und sieht uns an.

„Wir haben noch etwas Zeit“, sagt Chris und zieht einen der Barhocker für mich vor.

„Sehr schön! Was hättest du gerne, Scarlett?“, fragt Bianca und deutet auf eine riesige Kaffeemaschine, die in der Ecke der Küche steht.

Es ist eine von diesen großen Maschinen, die alles herstellen können, von Latte Macchiatto, über Espresso, bis hin zu Cappuccino und heißer Schokolade. Meine Augen weiten sich bei dem Anblick der Maschine. „Einen Latte Macchiatto bitte“, sage ich und kann mir ein Lächeln nicht verkneifen.

„Haben wir noch den Vanille Sirup?“, fragt Chris und steht auf. Er geht zu einem anderen Küchenschrank und wühlt darin herum, bis er schließlich eine Flasche mit einer goldenen Flüssigkeit herausholt und triumphierend hochhält. „Möchtest du Vanille Sirup dazu?“

„Oh ja, sehr gerne“, sage ich und bin ein bisschen gerührt, dass er sich gemerkt hat, dass ich am liebsten Vanilla Latte trinke.

Während Bianca unseren Kaffee zubereitet und geschickt mit der Maschine hantiert, setzt Chris sich neben mich und ergreift meine Hände. „Wie war es bei Elvira? Geht es ihr gut?“

„Ja, ihr geht’s bestens. Man merkt ihr gar nichts mehr an, sie ist ziemlich taff.“

Chris nickt. „Ja, das ist sie.“

„Sie hat mir von den Lebenserwartungen der Mannwölfe, Hexen und Gefährtinnen erzählt“, sage ich und sehe Chris mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Ist das wahr?“

Er blickt auf unsere Hände, fährt mit dem Daumen über meine Handfläche und grinst. „Ja, es ist wahr.“

„Wie alt bist du?“, frage ich leise, obwohl es keinen Grund gibt, in seinem Haus bei diesem Thema zu flüstern.

„Älter, als all deine früheren Lebensgefährten“, sagt er und lächelt schief. „Naja, davon gehe ich zumindest aus.“

Bianca prustet vor Lachen und dreht sich zu uns um. „Ich glaube, da kannst du dir sicher sein, Christobel. Scarlett wirkt nicht gerade gerontophil!“

„Gerontophil?“, hake ich nach. „Was bedeutet das nun wieder?“

Chris unterdrückt sein Lachen und räuspert sich. „Gerontophilie bezeichnet das Interesse eines jungen Menschen an ausschließlich älteren Menschen.“

„Oh mein Gott, nein!“, sage ich, verziehe angewidert das Gesicht und schüttle mit dem Kopf.

„Ich bin gerade siebzig geworden, Scarlett“, rückt Chris endlich mit der Sprache raus.

Ich sehe ihn verdutzt an. „Ach, Quatsch!“, sprudelt es aus meinem Mund, den ich sofort danach mit den Händen bedecke. „Wirklich?“

Chris nickt und blickt zu Bianca, die meinen Latte neben das Fläschchen mit Vanille Extrakt auf die hölzerne Tischplatte stellt. „Und Bianca ist sogar fünfundsiebzig. Ich bin der Jüngste von uns dreien. Unser Bruder ist achtundsiebzig, aber wir haben seit ein paar Jahren keinen Kontakt mehr“, sagt Chris und senkt den Blick.

Betretenes Schweigen liegt schwer im Raum.

„Du hast dich wirklich gut gehalten, Bianca“, sage ich, nicke anerkennend und lenke so vom Thema ab.

„Vielen Dank“, entgegnet Bianca und zwinkert mir zu. „Das ist einer der Vorteile, wenn man ein Mannwolf ist.“

„Heißt es bei Frauen auch Mannwolf?“

„Ja, wobei Mann hier für Mensch steht, nicht unbedingt für das männliche Geschlecht“, erklärt sie und widmet sich wieder der enormen Kaffeemaschine.

Ich sehe Chris an, betrachte sein Gesicht, das nicht älter wirkt, als höchstens fünfunddreißig. Er hat ein paar Lachfalten um die Augen herum und von seiner Nase zieht sich rechts und links jeweils eine Falte entlang, die neben seinen Mundwinkeln in den Bartstoppeln verschwindet. Nur die weißen Haarsträhnen könnten darauf hinweisen, dass er wesentlich älter ist. Aber ich weiß ja, dass sie nichts mit seinem Alter zu tun haben, sondern dass er sie bekommt, wenn er ein übernatürliches Wesen tötet.

„Magst du mich jetzt nicht mehr, nun, da du mein wahres Alter kennst?“, fragt Chris, der bloß still dasaß, während ich ihn betrachtete.

„Doch, natürlich!“, sage ich und umfasse sein breites Handgelenk. Die Stelle an meinem Brustbein wird wieder warm und ich streiche unbewusst darüber, was Chris mit einem Lächeln quittiert.

Scarlett Taylor

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