Читать книгу Scarlett Taylor - Stefanie Purle - Страница 5

Kapitel 2

Оглавление

Meine Hände zittern und ich bin völlig außer Atem, als ich vor Elviras Reisebüro stehe und den Schlüssel ins Schloss stecke. Die Muskeln in meinen Beinen schmerzen, ich bin den ganzen Weg gerannt. Ich drehe den Schlüssel und öffne die Tür.

Der Innenraum wird von den leuchtenden Palmen im Schaufenster in mattes Neongrün getaucht. Meine Hand tastet suchend an der Wand entlang, bis ich endlich den Lichtschalter finde.

„Elvira?!“, rufe ich und meine eigene Stimme hallt mir in dem kargen Raum entgegen wie ein Echo. „Elvira, bist du hier?“

Keine Antwort. Ich blicke von den Regalen mit Reiseprospekten an der Wand zum Schreibtisch und hinüber zur Pflanze in der Ecke des Raumes. Keine Verwüstungen, keine Zeichen eines Kampfes, alles sieht aus wie immer.

„Elvira?“, rufe ich erneut, bevor ich mich an ihren Schreibtisch setze. Wieder erhalte ich keine Antwort. Etwas zögerlich ziehe ich die Schubladen auf, erwarte jeden Moment, dass meine verrückte Tante um die Ecke gesprungen kommt und mir sagt, dass alles nur ein Scherz gewesen ist.

In der ersten Schublade liegen ein paar Büroklammern und Druckerpapier. Die zweite Lade ist leer, bis auf einen einsamen Kugelschreiber. Dann ziehe ich die unterste Schublade heraus, in der Elvira mir das Buch hinterlegen wollte. Doch auch sie ist leer.

„Sehr witzig, Elvira!“, rufe ich in den leeren Raum. „Du kannst jetzt rauskommen.“

Aber es folgt keine Reaktion. So langsam zweifele ich an mir selbst. Ich hole mein Handy hervor und lese mir die Mail erneut durch.

Gehe bitte in mein Büro, dort findest Du in der untersten Schublade meines Schreibtisches ein Buch.

So steht es dort. Aber hier ist kein Buch!

Aufgewühlt und ein wenig genervt, lehne ich mich im Stuhl zurück. Mein Blick gleitet durch das spartanisch eingerichtete Reisebüro. Ich habe mich immer gefragt, warum Elvira hier nicht ein wenig mehr dekoriert. Außer den leuchtenden Palmen im Schaufenster gibt es keinerlei Deko. Keine Bilder von endlosen Sandstränden, keine Aufsteller mit Werbung für den nächsten Skiurlaub, nur die schmalen Regale mit Broschüren. Hinter dem Schreibtisch ist die Tür zur Kaffeeküche, geschmückt mit einem einfachen Kalender ohne Bilder. Ich stehe auf und gehe darauf zu. Der Kalender zeigt noch das Juli-Blatt, dabei haben wir schon September. Vorsichtig öffne ich die Tür einen Spalt und rechne mit einer lachenden Elvira dahinter, die mit dem Finger auf mich zeigt. Aber auch dieser Raum ist leer. Ich schalte das Licht an und sehe mich um. An der einen Wand steht ein Tisch, mit Tassen, Wasserkocher, Kaffeepulver und einer Schale Zucker. Gegenüber davon ist eine kleine Spüle, und auf der anderen Seite des länglichen Raumes steht ein Schreibtisch.

Ein Schreibtisch? Ich bin mir sicher, ihn hier noch nie gesehen zu haben, und als ich mich weiter umblicke, merke ich auch, wieso: Vor dem Schreibtisch ist eine Trennwand angebracht, die man zuziehen kann. Ich habe immer gedacht, dahinter würde Elvira Papiere, Prospekte, Druckerpatronen und so weiter aufbewahren. Doch da war die ganze Zeit ein Büro versteckt, zwar ein kleines, aber trotzdem ein voll ausgestattetes Büro.

Der Tisch wirkt sehr alt, ist aus dunklem, leicht rötlichem Holz, mit Schnitzereien an den Seiten. Vor ihm stehen zwei Sessel, hinter ihm ist ein großer Bürostuhl, mit schwarzem Leder bezogen. Erst jetzt bemerke ich die Wand hinter dem Schreibtisch. Sie ist mit Pinnwänden gespickt, an denen unzählige Zeitungsartikel, Fotos und gezeichnete Symbole auf vergilbtem Papier hängen. Die ganze hintere Wand des Raumes ist voll davon. Rechts und links hängen geschnitzte Masken mit schrecklichen Fratzen, darunter baumeln seltsame Amulette mit Sternen, Gesichtern und anderem seltsamen Kram.

Wenn das ein Streich sein soll, dann ist es ein sehr aufwändiger Streich.

Ich gehe um den Tisch herum und setzte mich in den ledernen Stuhl. Auf dem Tisch steht eine kleine Lampe, eine von diesen grün goldenen Bänkerlampen. Ich schalte sie ein und öffne vorsichtig die erste Schublade. Sie ist voll mit seltsamem Kram. Noch mehr Amulette, ein silberner Dolch, ein Säckchen mit bunten Edelsteinen und Dosen mit unterschiedlichen Kräutern. In der zweiten Schublade sind ein paar Bücher. Sie wirken sehr alt, beinahe antik. Auf einem steht „Mythische Kreaturen“, auf einem anderen „Geistwesen“. Ich schüttle mit dem Kopf. Was ist das alles?

Dann mache ich mich an die unterste Schublade und hoffe, dass ich hier finde, was Elvira für mich hinterlegt hat. Unwillkürlich halte ich die Luft an, während ich sie aufziehe.

Obenauf liegt ein weißes Blatt Papier auf dem in großen Buchstaben mein Name steht. Nur mein Name, sonst nichts. SCARLETT. Ich nehme es heraus und lege es auf den Schreibtisch. Unter dem Blatt ist das besagte Buch. Ein ziemlich dickes, in Leder gebundenes Buch mit einem fünfzackigen Stern eingebrannt auf dem Deckel. Mit beiden Händen hebe ich es heraus und sehe, dass das noch nicht alles ist, was Elvira für mich hinterlegt hat. Da ist ein Handy, mit einem Klebezettel, auf dem wieder mein Name steht. Dann noch ein silbernes Amulett an einem Lederband. Es sieht aus wie eine Münze, mit seltsamen Symbolen und Schriftzeichen darauf. Ich lasse es durch meine Finger gleiten und begutachte es. Es wirkt sehr alt und handgefertigt.

Ganz hinten in der Lade ist ein Kulturbeutel, an dem auch ein Klebezettel mit meinem Namen klebt. Er ist schwer und prall gefüllt. Als ich ihn öffne, kommt mir ein seltsamer Geruch entgegen. Es riecht nach Gewürzen, Kräutern und rostigem Metall. Ich hole verschiedene Sachen heraus: Einen Samtbeutel gefüllt mit Edelsteinen, mehrere Fläschchen mit Pulver oder Salzen, ein silberner Flachmann mit irgendeiner Flüssigkeit, dann noch ein paar silberne, goldene und kupferne Amulette und Münzen mit Symbolen darauf.

Ich habe keinen Schimmer, was ich mit all dem Zeug anfangen soll. Verwirrt sortiere ich es zurück in die Kulturtasche. Dann mache ich mich an das mysteriöse Buch mit dem Stern auf dem Deckel und schlage es auf. Auf der ersten Seite ist eine handschriftliche Notiz von Elvira an mich, darunter klebt ein Briefumschlag.

Liebe Scarlett,

ich freue mich, mein Vermächtnis nun an Dich weitergeben zu können. (Auch wenn ich mir gewünscht hätte, es Dir unter anderen Umständen beizubringen.)

Vermächtnis? Wovon spricht sie nur?

Ich weiß, all das mag Dir sehr fremdartig und seltsam vorkommen-

Du hast ja keine Ahnung...

-aber ich kann Dir versichern, alles, was Du in diesem Buch lesen wirst, ist wahr.

Du musst Dich von nun an um unsere Kunden kümmern.

Welche Kunden? Ich verstehe das alles nicht!

Bist Du im Dienst, wirst Du Dich Scarlett Taylor nennen, nicht Scarlett Schneider. Von nun an hast Du zwei Identitäten:

- Scarlett Schneider, wenn Du nicht im Dienst bist,

- Scarlett Taylor, Parapsychologin im Außendienst, wenn Du arbeitest.

Du wirst als Parapsychologin Dinge tun müssen, die oftmals illegal und gesetzeswidrig sind. Benutze deswegen diesen Decknamen bei Deinen Aufträgen.

„Was?“, schreie ich in die Stille hinein und klappe das Buch zu. Meine Tante muss verrückt sein! Parapsychologin... Was soll das sein?

Ein weiteres Mal hole ich mein Handy aus der Tasche und wähle Elviras Nummer. Ich muss mit ihr sprechen. Dringend! Aber wieder geht sie nicht ran.

Ich schlage das Buch erneut auf. Da ist dieser Briefumschlag. Doch ein wenig neugierig öffne ich ihn und fische zwei Plastikkarten und ein Büchlein heraus. Als ich sie ansehe, kann ich es kaum fassen: Es ist ein Personalausweis, ein Führerschein und ein Reisepass. Alle drei ausgestellt auf den Namen „Scarlett Taylor“, mit meinem Foto als Passbild.

„Scarlett Taylor“, flüstere ich leise und lese den Namen wieder und wieder auf den Ausweisen. „Scarlett Taylor... So schlecht klingt das gar nicht.“

Ich bin völlig in Gedanken vertieft, als das Telefon klingelt. Vor Schreck lasse ich meine neuen Ausweise fallen. Nach dem zweiten Klingeln geht der Anrufbeantworter an und ich lausche gespannt der Ansage.

„Dies ist der Anschluss von Elvira Taylor, Parapsychologin im Außendienst. Ich bin zurzeit leider nicht im Büro, Sie können mir aber eine Nachricht hinterlassen. Ich werde mich dann umgehend bei Ihnen zurückmelden.“

Dann ein Pfeifton, danach ein Schluchzen. „Elvira? Sind Sie da?“, spricht eine weibliche, weinerliche Stimme auf den Anrufbeantworter. „Wir brauchen Ihre Hilfe. Eine Bekannte hat Sie empfohlen.“ Sie seufzt und zieht die Nase hoch. „Elvira? Wenn Sie da sind, nehmen Sie bitte ab.“

Das Schluchzen und Flehen der Frau geht mir durch Mark und Bein. Sie tut mir ehrlich leid. Offensichtlich ist sie sehr verzweifelt.

Du musst Dich von nun an um unsere Kunden kümmern, hatte Elvira geschrieben.

„Elvira?“, fleht die Frau weinerlich.

Ich gebe mir einen Ruck und nehme den Hörer ab.

„Scarlett Taylor hier.“ sage ich und bin erstaunt, wie leicht mir mein neuer Name über die Lippen geht. „Elvira ist zurzeit leider nicht zu sprechen, kann ich Ihnen vielleicht weiterhelfen?“

Kurz ist Stille am anderen Ende, dann wieder ein weinerlicher Seufzer. „Ich weiß nicht. Sie halten mich wahrscheinlich für verrückt.“

Ich gebe ein kurzes Prusten von mir. „Nein, mit Sicherheit nicht. Verrückter als das, was ich gerade erlebe, kann es gar nicht sein.“ Die weinerliche Frau schluckt und räuspert sich. In sanfterem Ton fahre ich fort. „Erzählen Sie mir doch worum es geht, vielleicht kann ich Ihnen helfen. Ich bin die Nichte von Elvira Schnei... äh, Taylor.“ Mist.

„Okay... Also, wir sind vor circa sechs Monaten in dieses Haus gezogen. Ich wusste von Anfang an, dass hier etwas nicht stimmt. Es war so ein Gefühl, wissen Sie?“, fängt die Frau an zu erzählen.

Ich spiele mit dem Münzamulett in meiner Hand, während ich zuhöre. „Ja, kenne ich“, lüge ich und drehe die Münze zwischen meinen Fingern. „Und weiter?“

„Und nun ist es seit knapp drei Wochen so, dass ich mich beobachtet fühle. Nicht nur ich, meine Tochter auch, sie ist vierzehn. Wir fühlen uns beim Anziehen, Ausziehen und Duschen beobachtet. Es ist, als seien wir nie allein.“

„Hmm“ brumme ich. „Sind Sie denn allein? Oder beobachtet Sie der Nachbarsjunge durchs Fenster, oder sowas in der Art?“ Natürlich suche ich erst einmal nach einer logischen Erklärung.

Wieder herrscht kurz Stille am anderen Ende. „Nein… Das war ja auch noch nicht alles! Seit einigen Nächten wird meiner Tochter nachts die Bettdecke vom Bett gezogen. Sie hat panische Angst und mag nicht mehr allein in ihrem Zimmer schlafen. Und ich habe einen Schatten gesehen. Mehrmals. Er hat sich bewegt. Es war wirklich unheimlich“, erzählt sie und ihre weinerliche Stimme kehrt zurück. „Mein Mann glaubt das alles nicht, aber ich habe es gesehen! Und es hat mit mir gesprochen!“

„Was hat mit Ihnen gesprochen?“

„Der Schatten!“

„Und was hat er gesagt?“, hake ich neugierig nach.

Sie zögert ein wenig, dann höre ich sie schluchzen. „Er sagte... Sie ist mein!

Ich muss schlucken, und obwohl ich es nicht gern zugebe, läuft mir ein kalter Schauer über den Rücken.

„Können Sie vorbeikommen und das... wegmachen?“, schluchzt und fleht sie weiter.

„Nun ja. Ich kann es versuchen. Ich vertrete Elvira bloß bis sie wieder da ist“, gebe ich nach, ohne zu wissen, wie ich der Frau überhaupt helfen könnte.

Sie wirkt erleichtert, gibt mir ihre Adresse und Telefonnummer und wir verabreden uns für den morgigen Tag. Insgeheim hoffe ich, bis dahin Elvira gefunden zu haben, damit sie diese Angelegenheit übernehmen kann. Wir verabschieden uns und ich lege den Hörer auf.

Ich lehne mich zurück und schlage die Hände vors Gesicht. Wo bin ich hier bloß hineingeraten? Wie soll ich dieser Frau nur helfen? Was erwartet Elvira nun von mir?

Ich nehme mir das prall gefüllte Buch erneut vor und lege es auf meinen Schoß, in der Hoffnung, darin vielleicht die Antworten zu finde. Auf der zweiten Seite klebt ein weiterer Briefumschlag. Als ich ihn öffne, entdecke ich darin dreitausend Euro in großen Scheinen und eine Kreditkarte auf den Namen Scarlett Taylor. Ich befühle das Papier des Geldes mit den Fingern und kann es kaum fassen. Wieso hinterlegt Elvira mir so viel Geld? Darf ich es behalten? Wofür ist es gedacht? Ich kann es natürlich sehr gut gebrauchen, davon könnte ich tanken und Lebensmittel kaufen. Seit Monaten habe ich kaum Geld. Das Arbeitslosengeld reicht gerade mal für die Miete und die Nebenkosten. Danach bleibt mir nicht mehr viel übrig. Sicherlich hätte ich mir eine günstigere Wohnung nehmen können, aber ich habe nun mal meine Ansprüche.

Ich lege das Geld und die Kreditkarte auf den Tisch und blättere zur nächsten Seite. Wieder ein Briefumschlag, diesmal ein wattierter, der das ganze Buch ein wenig zerknittert und ausbeult. Ich öffne ihn und ziehe einen Autoschlüssel samt Fahrzeugschein heraus. Der Wagen ist auf meinen Namen zugelassen. Als ich den Fahrzeugschein auseinanderfalte, fällt ein kleiner Zettel heraus: Wagen steht auf dem Parkplatz hinter dem Reisebüro.

Ich halte den Schlüssel ungläubig hoch. Als Schlüsselanhänger baumelt einer dieser fünfzackigen Sterne daran. Meine Tante hat mir ein Auto geschenkt! Ich kann es kaum glauben. Wieso schenkt sie mir ein Auto, dreitausend Euro und eine Kreditkarte? Warum? Und wo hat sie das viele Geld her?

Wieder nehme ich mein Handy und wähle ihre Nummer, doch erneut antwortet niemand. Zu gerne würde ich mit ihr reden, ich habe tausend Fragen, die ich ihr stellen möchte. Wo ist sie nur und was ist ihr geschehen?

Nach und nach lege ich alle Sachen, die sie mir hinterlegt hat, zusammen und verstaue sie in einer alten Plastiktüte, die ich in meiner Manteltasche gefunden habe. Das Buch ist zu groß, deswegen klemme ich es mir unter den Arm, als ich mich zum Gehen aufmache. Vorsichtshalber ziehe ich die Trennwand zu und lasse das geheime Büro, mit all seinen Symbolen und Masken, dahinter verschwinden. Ich lösche alle Lichter und schließe von außen die Tür zum Reisebüro zu. Der Autoschlüssel klimpert in meiner Hand, als ich zum Parkplatz hinter das Gebäude laufe. Drei Autos stehen dort im Halbdunkel, nur das entfernte Licht einer Straßenlaterne leuchtet mir sanft den Weg. Ein Bulli, ein Kleinwagen und ein ziemlich cooler, rabenschwarzer Sportwagen. Als ich auf dem Nummernschild meine neuen Initialen lese, quieke ich vor Aufregung. Ich drücke den Knopf auf dem Schlüssel und der 6er BMW zwinkert mir blinkend zu. Ein Freudenschrei löst sich in meiner Kehle und ich renne auf mein neues Auto zu. Ehrfürchtig steige ich ein, lege meine Sachen auf den Beifahrersitz und nehme den Neuwagengeruch wahr, während ich zärtlich über das lederbezogene Lenkrad streichle. Ich stecke den Schlüssel ins Schloss und starte den Motor. Der Wagen schnurrt wie eine Katze. Als ich Gas gebe, um vom Parkplatz zu fahren, faucht mein Kätzchen und buckelt. Ich bin einen klapprigen Kleinwagen mit wenig PS gewohnt, ich werde mich wohl erst einfahren müssen. Mein schwarzer Panther und ich verlassen ruckelnd und fauchend das Gelände und fahren zurück nach Hause.

Scarlett Taylor

Подняться наверх