Читать книгу Herbstverwesung - Stefanie Randak - Страница 6

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Es war ein Sonntag. Sonntage schmeckten immer nach Ausschlafen, einer heißen Schokolade im Bett, nach frischen Croissants und guten, alten Filmen.

Und so kam es, dass die schöne Eleonora und ihr Lorenzo mittags, zu einer Zeit in der die meisten Menschen schon in der Kirche gewesen waren und sich nun im Wirtshaus ihren Schweinebraten schmecken ließen, immer noch im Bett lagen.

„Wir sollten langsam mal auspacken, mio caro“, meinte Eleonora und strich sich ihre langen, schwarzen Haare aus dem Gesicht. Sie nannte Lorenzo seit ihrer Verlobung nur noch mio caro, was so viel wie „Mein Schatz“ bedeutete. Und er nannte sie la mia principessa, meine Prinzessin.

„Das hat doch noch Zeit“, antwortete Lorenzo gelassen und sah sich zufrieden in dem dunklen, kalten Schlafgemach um. Das einzige, was bereits aufgestellt war, war das Bett.

Rundherum standen noch große und kleine Umzugskartons, Taschen und Koffer. Der Boden war staubig und in der Deckenleuchte gab es noch keine funktionierende Glühbirne, deshalb hatte Lorenzo ein paar Kerzen aufstellen müssen. Eleonora hätte sich sonst gefürchtet.

„Ganz allein in einer dunklen neuen Wohnung? No!“, hatte sie entschlossen gerufen und sich unter der Bettdecke versteckt, so lange bis Lorenzo Kerzen angezündet hatte. Lorenzo machte das Chaos in der neuen Wohnung nichts aus, er hatte es nicht eilig, es hier gemütlich zu haben. „Wir haben doch das Bett. Das reicht uns“, grinste er und gab seiner Eleonora einen Kuss auf die Stirn.

„Nein, wir stehen jetzt auf. Ich räume die Kartons aus und du kümmerst dich erst mal um Glühbirnen!“, Eleonora lächelte ihren Verlobten an und schlug ihm verspielt ihr Kopfkissen auf die Brust. Dann stand sie entschlossen auf und zog ihren Morgenmantel an. Es war kalt in der Wohnung. Der Herbst stand vor der Tür. Sie hasste Unordnung, und wenn sie wollte, dass heute die Kartons ausgepackt werden, dann musste es so gemacht werden. Also schälte sich Lorenzo aus dem Bett und tat, was seine Freundin von ihm verlangte: Licht ins Dunkel bringen.

Eleonora baute in dieser Zeit eine Kommode im Wohnzimmer zusammen und räumte sie ein. Eine Sanduhr und einen Kaktus stellte sie oben drauf. Das junge Pärchen kaufte keine Blumen mehr, nur noch Kakteen. Alles andere ging immer ein. Das Innenleben der Kommode befüllte Eleonora mit Büchern und Magazinen. Sie liebte es, zu lesen. In den letzten drei Jahren hatte sie ihr Geld durch das Artikelschreiben für ein Frauenmagazin verdient. Hier in London hatte sie noch keine neue Arbeitsstelle gefunden, was sie wahnsinnig machte. Eine von Eleonoras Schwächen war, dass sie nie stillsitzen konnte. Sie wollte immer etwas tun und gleichzeitig über alles die Kontrolle haben. Lorenzo sah das als eine Stärke an. Eine Frau, die gerne mit anpackte und alles selbst schaffen wollte.

Einen Nachmittag später waren schließlich fünf Kartons ausgepackt, im Wohn- und Schlafzimmer gab es funktionierendes Licht und Eleonoras Schreibtisch stand fertig aufgebaut auf Oma Noemis rotem Teppich.

„Wir brauchen unbedingt mehr Möbel“, meinte Lorenzo. Die vorherige Wohnung war viel kleiner gewesen. Diese hingegen bot neben einer großen Küche und einem Badezimmer noch vier weitere Zimmer. Unklar war, wieso der Makler eine solch großzügig geschnittene Wohnung so billig verkaufte. Und es hatte fast den Anschein gehabt, als wolle er sie dringend loswerden.

Während das junge Pärchen den Sonntagabend in romantischer Zweisamkeit ausklingen ließ, fuhr nur wenige Kilometer weiter im Gloomy Forest eine schwarze Limousine in die Einfahrt des Golden Horse Sporthotels. Ein leichter Regen fiel auf das Dach des schicken Fahrzeugs.

Der Fahrer stieg gehetzt aus und öffnete die Türe für seinen Boss. Dieser stieg im teuren Armani Anzug aus und sah sich kritisch um. Er rümpfte die Nase, als er von den sanften Regentropfen begrüßt wurde. Murrend marschierte er entschlossen auf die Eingangstüre des Hotels zu. Dabei mied er jede Pfütze, die auf dem Asphalt glänzte, um seine edlen Schuhe aus Pythonleder zu schonen. Die Glastür des Hotels öffnete sich und es schien, als wäre die Zeit für einen kurzen Augenblick stehen geblieben, als der gut gebaute Mann den Eingangsbereich des glamourösen Hotels betrat. Zielstrebig marschierte er auf die Rezeption der Hotellobby zu. Er schnürte seine Krawatte enger und versuchte mit einer Handbewegung die Regentropfen auf den Schulterkissen seines Anzugs abzustreifen.

„Ich möchte bitte ein Zimmer“, forderte er an der Rezeption ohne Begrüßung an.

„Herzlich Willkommen im Golden Horse Sporthotel“, lächelte die junge Courtney Black mit den blonden Locken.

„Ja ja“, antwortete er gleichgültig und tippte mit seinen Fingern ungeduldig auf dem Tresen herum. Die goldenen Armreifen klingelten bei seinen ungeduldigen Bewegungen.

„Haben Sie eine Reservierung?“, fragte Courtney und zeigte beim Lächeln ihre weißen Zähne.

Der Gast hob gleichgültig eine Augenbraue. „Ich habe es mir anders überlegt“, lächelte er plötzlich. „Ich nehme eine Suite.“

Die junge Frau tippte mit ihren roten Fingernägeln auf der Tastatur und sah in den Bildschirm ihres Computers.

„Verraten Sie mir bitte ihren Namen?“, Sie tat sich schwer, freundlich zu bleiben, da die Arroganz ihres Gastes unausstehlich strahlte.

„Den Namen brauchen Sie wohl kaum“, zwinkerte er und richtete erneut seine Krawatte.

Courtney sah ihn verwundert an. Doch bevor sie nachfragen konnte, kam ihre Chefin Dakota Jones um die Ecke. Selbstsicher und makellos gekleidet, ihre braunen Haare streng nach hinten geknotet. Doch als ihr Blick auf ihren neuen Hausgast fiel, verlor sie jegliche Fassung.

Der nächste Morgen brachte bunte Herbstblätter mit sich, dunkle Wolken und jede Menge Regen. Als Eleonora aus ihrem Schlaf erwachte, war Lorenzo schon längst in der Arbeit. Er hatte eine leitende Stelle in einem Bauunternehmen angenommen. Dies war auch der Grund, weshalb die beiden Italiener aus Venedig umgezogen waren. Zumindest dachte das Eleonora.

Sie lag alleine in dem verlassenen Ehebett, alleine in der großen Wohnung. Was sollten sie nur mit all den Zimmern anstellen? Ein Wohnzimmer, ein Schlafzimmer. Selbst wenn sich das junge Paar ein Büro einrichten würde, es wäre immer noch ein Zimmer frei. Ein Kinderzimmer, hatte Lorenzo mal gesagt. Eleonora verzog das Gesicht. Dafür war es noch zu früh. Für sie würde es wahrscheinlich noch in zehn Jahren zu früh dafür sein. Sie lag im Bett und drehte sich hin und her, geplagt von allerlei Gedanken. So eine große Wohnung, für so wenig Geld. Wo war der Haken? Hoffentlich hatte Lorenzo keinen Fehler gemacht.

Eleonora selbst hatte den Makler nie kennen gelernt. Natürlich, der Holzboden war alt und rissig, knarzte beim Überqueren. Von den Wänden bröckelte die einst grün aufgestrichene Farbe und die Decke wies einige Risse auf, in denen sich Insekten versteckten. Doch es musste schon mehr fehlen, um eine solch große Wohnung so billig zu verkaufen. Sie bewohnten das dritte, und somit das oberste Stockwerk. Wahrscheinlich war das Dach undicht. Egal was es war, es würde sich noch als eine unangenehme Überraschung entpuppen. Da war sich Eleonora sicher. Sie stand auf, ging ins Wohnzimmer an den Schreibtisch und klappte im Morgenmantel ihren Laptop auf. Sie vermisste ihre Arbeit. Das Schreiben hatte sie schon immer gern gemocht. Und wenn sie nun auch keine Artikel zu verfassen hatte, warum nicht mal aus Spaß eine Geschichte schreiben?

Doch hier drin, alleine in der großen, kühlen Wohnung war Eleonoras Vorrat an Fantasie und Ideen genauso wie die halbe Wohnung: völlig leer.

Es war bereits Mittag, als die junge Italienerin die Wohnung verließ. Draußen war es, als würde der Himmel die Erde in Regen ertränken wollen. Eleonora hatte in den vielen Kartons keinen Regenschirm finden können. Sie hätten die Wände der Kartons über deren Inhalt doch beschriften sollen.

Eigentlich hatte sie sich ihren ersten Spaziergang durch die neue Heimat etwas anders vorgestellt. Zum Beispiel zusammen mit Lorenzo, Hand in Hand in der goldenen Herbstsonne. Aber es blieb keine Zeit um sich umzusehen.

Das Regenwasser drang durch ihre Kleider und auch ihre Schuhe waren schon nach wenigen Metern innen nass geworden. Erleichtert atmete Eleonora auf, als sie einige Straßen weiter das kleine gemütliche Cafe Fresh fand, in dessen Schaufenster bunte Cupcakes und andere Leckereien gestapelt waren. Ein großes Schild an der Eingangstüre leuchtete mit der Aufschrift „Open“. Mit eiskalten Händen und durchnässten Stiefeln trat sie ein. Ein betörender Duft von Kaffeebohnen und Backwaren nahm ihr die Entscheidung ab, sich zu setzen, etwas zu trinken und sich aufzuwärmen. Sie setzte sich an einen Tisch im Eck auf die Bank und klappte den Laptop auf.

Neugierig betrachtete Eleonora das Cafe und seine Kundschaft. Zwei junge Frauen saßen an einem langen Tisch und rollten Pasta auf ihre Gabeln. Im Eingangsbereich saß ein Mann mit Glatze und trank ein Bier. Und direkt am Tisch neben Eleonora saß eine alte Dame mit Kopftuch. Neben ihr stand ein Kinderwagen. Wie schön, dachte sie. Bestimmt eine Oma mit Enkelkind, die sich einen schönen Nachmittag machten.

Der Kellner brachte ihr den blauen Cupcake und den Kaffee.

„Dankeschön, Lucas“, Eleonora hatte den Namen des Kellners auf seinem Namenschild erspäht und griff sofort nach ihrem Kaffee, als er ihn am Tisch abstellen wollte.

„Die mit der blauen Glasur schmecken am besten“, zwinkerte da die alte Dame zu ihr herüber und deutete auf ihren Teller.

„Sie kennen sich wohl gut aus?“, lächelte Eleonora und rutschte ein Stück näher zu ihrem Tisch, um sich besser mit ihr verständigen zu können.

„Oh ja, ich komme jeden Tag zur selben Zeit hier her“, nickte sie. „Meine Enkelin ist ganz verrückt nach den Kuchen und all dem süßen Zeug.“ Sie streckte die Hand aus und bewegte den Kinderwagen sanft nach vorne und zurück.

„Da ist ihre Enkelin nicht die einzige“, lachte Eleonora und biss großzügig von dem klebrigen Cupcake ab. Eine dickflüssige, rote Beerenfüllung quoll heraus.

„Ich habe sie hier noch nie gesehen“, die Dame musterte sie von oben bis unten.

„Ich bin heute zum ersten Mal hier. Ich möchte eine Geschichte schreiben, doch zu Hause haben mir die Ideen gefehlt.“

„Schreiben Sie über London!“, rief die Alte begeistert. „In London gibt es so viel zu entdecken. So viele Menschen und so viele wunderbare Orte. Da fällt ihnen bestimmt etwas ein.“ London. Keine schlechte Idee.

„Oh, es ist schon so spät. Ich muss nun wirklich los, ich möchte zu Hause noch mit meiner Enkelin spielen, bevor sie ihren Mittagsschlaf hält“ Sie stand vorsichtig auf und zupfte ihr Kopftuch zurecht.

Eleonora stand ebenso auf und reichte ihr die Hand. „Danke für die schöne Idee. Auf Wiedersehen, Misses…“

„Greenwood“, beendete sie den Satz und zeigte mit einem Lächeln ihre goldenen Zähne.

„Und auf Wiedersehen, Kleines“, lächelte Eleonora und beugte sich über den Kinderwagen.

Verwundert sah sie auf und musste ein zweites Mal hinsehen. Was…? In dem Kinderwagen, welchen Misses Greenwood so sanft schaukelte, lag keineswegs ihre Enkelin. Es lag überhaupt kein Kind darin. Dort, eingebettet auf Lammfell, liebevoll angekleidet und gerade noch mit Kuchen gefüttert, lag eine Puppe. Eine Porzellanpuppe. Ihre grünen Augen sahen starr an das Dach des Kinderwagens. Beängstigend. Eleonora sah entsetzt in Misses Greenwoods Gesicht.

„Ist sie nicht wunderschön?“, flüsterte sie.

In ihrer Verwunderung konnte Eleonora nur nicken.

Doch als Misses Greenwood das kleine Cafe verließ, musste Eleonora ein wenig grinsen. London wäre bestimmt ein gutes Thema für ihr Buch gewesen, doch nun hatte sie wohl eine bessere Idee.

Herbstverwesung

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