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Dieser Herbst war grau und düster. Die Wolkendecke bildete eine nicht mehr aufreißende Mauer, die die Sonne unerbittlich verschluckte. Die Bäume des Gloomy Forests wirkten schon beinahe schwarz und der dichte Nebel konnte einem den Orientierungssinn rauben. Was sich da alles in jener Nacht zwischen den Dornensträuchern umhertrieb, wusste niemand so genau. Und es gab ein Gewitter, während der Vollmond zwischen den grauen Wolken silberne Schatten auf die Erde warf. In dem kleinen Schloss Red Side, wo Misses Greenwood unter einem Hirschkopf in einem alten Himmelbett ihren Schlaf hielt, drangen seltsame Geräusche durch die Schlossmauern und es war, als kämen diese nicht von einem Menschen.

Es herrschte eine unglaubliche Kälte in dem Moment, als der Biltz einschlug. Es war derselbe Moment in dem sich die Wurzeln einer uralten, morschen Fichte aus der Erde lösten und sie von der Schwerkraft durch ein Fenster direkt in Misses Greenwoods Wohnsalon gezogen wurde. Und am Boden lagen Scherben, jedoch nicht nur von dem zersplitterten Fenster, sondern auch von einer Vitrine, die von der Fichte umgestoßen worden war.

Der Donner drang laut vom Himmel herab, die Blitze zuckten über ganz London. Der kühle Nachtwind brauste unaufhaltsam in den Wohnsalon, verwüstete alles, was nicht befestigt war. Am Morgen danach sollte Misses Greenwood nicht nur einen völlig zerstörten Wohnsalon vorfinden, sondern auch eine kleine weiße Hand, die unter der Glasvitrine hervorschaute.

Unwissend, von dem was in der letzten Nacht in London geschehen war, packte die schöne Eleonora am nächsten Morgen ihren Laptop in eine Handtasche, zog sich Gummistiefel an, schnappte sich einen Regenschirm und verließ die Wohnung. Lorenzo war schon früh am Morgen zur Arbeit gegangen, was Eleonora furchtbar aufregte. Sie wollte nicht zu so einem traditionellen Pärchen werden, in dem der Mann morgens zur Arbeit abhaut und erst spät abends wieder nach Hause kommt. Und in dem sie als Frau nur zu Hause sitzen sollte um zu kochen und zu putzen? Wo sollte denn da noch Zeit für Romantik bleiben? „No, non con me!“, rief sie zu sich selbst. Nicht mit mir!

Deshalb war es an der Zeit, heute mit dem Schreiben ihres ersten Buches zu beginnen. Und das wollte sie in dem kleinen süßen Cafe Fresh tun, wo sie gestern Misses Greenwood, ihre Inspiration, getroffen hatte. Sie hatte gesagt, sie würde jeden Tag zur selben Uhrzeit dort hingehen.

Also spannte Eleonora ihren transparenten Regenschirm auf und wagte sich hinaus in die eisige Kälte Londons. Auf dem Teer stand das Wasser, und die Wolken gossen weitere Wassermassen herab, als würde man unter einem Wasserfall stehen. Bisher hatte sich London noch in keiner Weise von einer schönen Seite gezeigt, dachte Eleonora genervt.

Die Wohnung gefiel ihr nicht, Lorenzo war nie zu Hause und draußen aufhalten konnte man sich auch nicht bei diesem Unwetter. Endlich erreichte sie das Cafe. Mit dem Öffnen der Eingangstüre wurde sie wie am Vortag von dem süßen und warmen Duft der Leckereien umhüllt. Voller Erwartungen sah sie sich um. Doch Misses Greenwood konnte sie nicht entdecken.

„Entschuldigung?“, sie sprach den jungen Kellner Lucas hinter der Bar an.

„Was kann ich für Sie tun, Miss?“, lächelte er freundlich.

„Ich suche eine alte Dame, vermutlich mit Kopftuch.“

„Sie meinen Misses Greenwood?“

Eleonora nickte. Hier, am Rande von London fühlte man sich wie in einem kleinen Dorf, wo offensichtlich jeder jeden kannte. Vom kultigen Großstadtleben und quirligen Menschen, Trends und buntem Treiben war hier zu Eleonoras Entsetzen keine Spur.

„Sie war heute noch nicht hier. Normalerweise kommt sie immer zur selben Uhrzeit“, er zuckte mit den Schultern.

„Sie wird vermutlich nicht kommen“, ein dicker Mann auf einem der glitzernden Barhocker stellte sein Bier am Tresen ab und drehte sich im Sitzen zu den beiden um.

„Auf Red Side hat letzte Nacht der Blitz eingeschlagen“, raunte er und hielt seine Zeitung hoch. Red Side?

„Misses Greenwood lebt auf dem kleinen Schloss namens Red Side im Gloomy Forest“, erklärte er, als er die Verwirrung in Eleonoras Gesicht erkannte. Im Gloomy Forest? Dann konnte sie nicht allzu weit weg von ihr und Lorenzo wohnen!

„Du meine Güte. Ist ihr etwas geschehen?“, fragten Eleonora und Lucas zeitgleich.

„Hier ist ein Artikel. Dort steht, dass ein Fenster kaputt gegangen ist. Der Wind hat wohl einiges zerstört in ihrem Wohnsalon.“ Er hob seine Zeitung hoch und trank einen großen Schluck von seinem Bier.

„Doch es fehlt anscheinend ein hochwertiges Schmuckstück. Ein Saphir Ring. Wenn ihr mich fragt…“, er machte noch einmal eine Trinkpause. „…Wurde dort auf Red Side letzte Nacht eingebrochen“, er schob seine Zeitung mit dem Artikel zu Eleonora rüber.

Meine Güte. Ein Einbruch.

„Niemand, der noch ganz bei Sinnen ist, bricht auf Red Side ein!“, protestierte der Kellner.

„Wieso nicht? Ein Schloss ist doch ein offensichtliches Ziel. Misses Greenwood ist reich, das weiß doch jeder hier“, raunte der Mann.

„Ja, und es weiß auch jeder hier, dass es auf Red Side spukt!“, schauderte Lucas. Der Mann trank sein Bier aus und erhob sich. „Du hast wohl zu viel an den Kaffeebohnen geschnüffelt!“, lachte er dreckig und verließ das Cafe. Eleonora und der Kellner blieben verdutzt zurück und schauten ihm nach.

„Was haben Sie damit gemeint, als Sie sagten, dass es auf Red Side spukt?“, flüsterte Eleonora.

„Wenn Sie mich fragen, gibt es so einiges, dass auf Red Side und mit Misses Greenwood nicht so ganz stimmt. Die Frau hat sie nicht mehr alle. Sie hat immer ihre Enkelin dabei. Doch die ist kein lebendiges Kind, sondern …“

„Eine Puppe“, beendete Eleonora den Satz.

„Ja. Eine Puppe“, flüsterte Lucas. „Außerdem hatte Misses Greenwood sieben Söhne. Und sechs davon sind auf einmal spurlos verschwunden. Es gibt angeblich nur noch einen, der lebt. Der Älteste“

Eleonora sah ihn mit großen Augen an. Die Worte des Kellners erschreckten sie.

„Und wo lebt dieser Sohn?“, sie griff langsam nach der Zeitung und drehte den Artikel so, dass sie das große Bild auf dem Titelblatt von Red Side richtig herum ansehen konnte.

„Das weiß niemand. Er wurde lange nicht mehr gesehen, von niemandem. Es gibt Gerüchte, dass seine sechs Brüder im Keller von Red Side in einem Kerker gefangen gehalten werden. Andere sagen, sie seien verunglückt.“

Lucas Geschichte machte Eleonora Angst. Angst, aber auch neugierig. Sie hatte sich dafür entschieden, über Misses Greenwood und ihre Puppe ein Buch zu schreiben. Und so wie es aussah, sollte es ein richtig spannender Roman werden. Eleonora wollte zu Misses Greenwood auf ihr Schloss. Sie wollte diese Frau kennen lernen und herausfinden, was es mit den Geschichten von Red Side auf sich hatte. Eleonora war keine Frau, die man leicht von etwas fernhalten konnte. Sie wollte immer alles wissen und selbst herausfinden.

„Kann ich die mitnehmen?“, sie deutete auf die Zeitung, die vor ihr lag.

Lucas nickte. „Was haben Sie vor, Miss?“

„Ich werde Misses Greenwood einen Besuch abstatten“, zwinkerte sie und stopfte die Zeitung in ihre Tasche.

„Tun Sie, was Sie meinen, tun zu müssen. Aber ich rate Ihnen eins: Halten Sie sich von diesem Schloss fern, und von allem, was es beinhaltet.“ Lucas Stimme klang verschwörerisch. Doch Eleonora zuckte mit den Schultern und meinte selbstsicher: „Machen Sie mir einen Kaffee to go, bitte. Und einen für Misses Greenwood.“

Um zum Red Side Schloss zu gelangen, muss man zunächst ein Stück durch den Gloomy Forest laufen. Zu Eleonoras Erschrecken musste sie feststellen, dass das Red Side das am nächsten gelegene Nachbarshaus zu ihrer und Lorenzos Wohnung war.

Der Gloomy Forest war keineswegs für Spaziergänge geeignet, kein familienfreundliches Stück Natur in dem man Picknick machen konnte. Es gab nur einen schwer erkennbaren Weg, mehr einen Trampelpfad, dem Eleonora instinktiv folgte, um zum Schloss zu gelangen. Hier raschelte etwas im Dickicht, da bewegte sich etwas im Gebüsch. Es war erst früher Nachmittag, doch hier war es schon dunkel und grau. Da erblickte Eleonora das Schloss, in dem Misses Greenwood lebte.

Das Schloss, einst prächtig und machtausstrahlend, jetzt derbe und fad, zerstört und dunkel, lag etwas erhöht auf einem Berg. Unten parkte ein Polizeiauto, das Blaulicht war eingeschaltet und flackerte störend in den Wald hinein. Eleonora schlich langsam und vorsichtig die rutschigen Treppenstufen hinauf. Ein morsches Holzgeländer, welches Besuchern und Bewohnern sicher einmal Halt beim Aufstieg gegeben hatte, wackelte nun armselig den Weg hinauf, wenn man sich daran festhalten wollte. Oben angekommen führte ein Kiesweg zum großen hölzernen Eingangstor. Eine Hausklingel fand Eleonora nirgends. So mutig und neugierig sie auch war, ein Ort des Wohlfühlens war das hier nicht.

Mit zittrigen Händen schob sie das schwere, nasse Tor auf und stand im Innenhof des Schlosses. Staunend sah sie sich um. So ein riesiges Anwesen, und hier sollte nur Misses Greenwood leben? Eleonora musste an die Worte des Kellners denken. Sieben Söhne sollten hier eigentlich noch wohnen. Sie nahm ihr Handy heraus und schaltete die Kamera ein. Knipste ein Foto von dem Brunnen, dessen Leere unheimlich ins Erdreich ragte und von dem Turm, der seine rote Spitze in den Himmel bohrte. Eleonora öffnete eine der vier Türen, in der Hoffnung, irgendwo auf Misses Greenwood zu stoßen. Hier war nur ein verlassener Stall, in dem früher bestimmt mal Schweine oder Ziegen gehalten wurden.

Hinter der zweiten Türe befand sich ein leerer Waschraum, ein kaputtes Waschbecken rostete dort vor sich hin und eine alte Schubkarre stand eingestaubt daneben. Eleonora trat an das Waschbecken heran. Aus dem Wasserhahn tropfte es nervig, dicke Tropfen verschwanden mit einem lauten Echo im Abfluss. Über dem Waschbecken hing ein Spiegel mit einem großen Sprung in der Mitte. Eleonora betrachtete sich in den kleinen Einzelteilen. Ihre Wangen waren rötlich von der eisigen Kälte, von ihren Wimpern tropfte die Tusche und zeichnete ihr dünne schwarze Spuren unter die Augen. Die schwarze Haarpracht klebte durchnässt an ihrem Kopf. London war so trist, so trüb und fad. Als sie sich vor einiger Zeit das Leben in London ausgemalt hatte, hatte sie an vieles gedacht. Doch nicht, dass sie einmal auf einem angeblichen Spukschloss in einer Kammer stehen und ihr trauriges Gesicht betrachten würde. Niemals. Nun wollte sie aber die Eingangstüre zum Wohnbereich der mysteriösen Misses Greenwood finden, um einige Worte mit ihr austauschen zu können und ihr ein paar Fragen zu stellen. Denn erst wenn sie Misses Greenwood besser kannte und ihr Leben verstand, würde sie über sie schreiben können. Hoffentlich nahm sich die alte Dame ein paar Minuten für ein Interview Zeit. Eleonora marschierte rüber zur nächsten Türe.

Vor ihr erstreckte sich ein langer, enger Gang mit einem Teppich, der einst rot war, doch jetzt mehr braun mit undefinierbaren Flecken. Hier herrschte ein säuerlicher Geruch, Eleonora verzog das Gesicht und folgte dem Gang.

Von der Decke hingen Spinnweben und an den Wänden krabbelten Käfer und saßen große dicke Spinnen. Eigentlich fürchtete Eleonora diese, doch hier, auf Red Side, waren sie vermutlich das geringere Übel und lösten lediglich ein leichtes Ekelgefühl aus. Der Gang war kalt, dunkel und schien unendlich lang. Endlich erreichte sie eine Art Eingangsbereich. Hier waren einige Nägel in die Wand geschlagen worden, an denen nun Mäntel von Misses Greenwood hingen. Dazu standen Stiefeletten am Boden. Alles braune oder schwarze Damenstiefel. Doch was war das?

Eleonora bückte sich vorsichtig und hob mit frierenden Händen ein Paar Schuhe auf. Glänzende Schuhe, viel größer als die anderen. Sie holte ihr Handy heraus und leuchtete mit dem Display die Schuhsohle ab. Größe 42. Männerschuhe! Und die Sohle war nass. Das bedeutete, sie wurden kürzlich noch getragen. Vielleicht gab es doch einen verbliebenen Sohn, der hier auf Red Side lebte? Ja, so musste es sein. Da war sich Eleonora ganz sicher.

Sie legte die Schuhe zurück und tappte weiter durch den finsteren Gang. So lange, bis sie einen Wohnbereich erlangte. Der rötliche Teppich schmückte auch hier den Boden und hielt vermutlich einen geringen Teil der Kälte des Bodens zurück.

„Misses Greenwood?“, rief Eleonora zaghaft. „Misses Greenwood, sind Sie zu Hause?“ In diesem Raum gab es tatsächlich ein Echo. Der Saal war groß, spärlich eingerichtet, die Decke reichte sehr weit nach oben. Niemand antwortete und Eleonora traute sich nicht, den Raum zu betreten. Sie spähte vorsichtig hinein und konnte das kaputte Fenster sehen, über welches in dem Zeitungsartikel berichtet wurde. Die Polizei hatte von außen ein gelbes Absperrband drüber geklebt und das große Loch mit einer dicken Plastikfolie notdürftig verschlossen.

„Es war um Punkt Mitternacht, Officer“, hörte sie da eine Stimme. Sie kam von nicht weit her. Misses Greenwood.

„Diese Informationen haben wir bereits, Misses Greenwood. Jetzt möchten wir mit Ihnen über den verschwundenen Schmuck sprechen“, entgegnete da eine Männerstimme. Ein Polizist musste bei ihr sein. Die beiden befanden sich im Schlafgemach, welches mit einer Türe zum Wohnsalon verbunden war.

„Wie ich Ihnen bereits mitgeteilt hatte, fehlt mein Juwelenring, Officer!“,hörte Eleonora die alte Frau jammern. „Mein schöner Saphir!“

„Laut der Spurensicherung sind keine Handabdrücke an ihrem Fenster, Misses Greenwood. In dem gesamten Wohnsalon konnten keine fremden Spuren sichergestellt werden“, entgegnete der Polizist.

„Sie meinen also, es ist niemand eingebrochen?“, die Stimme der alten Dame war hörbar aufgewühlt.

„Hören Sie, Officer! Ich bin doch nicht verrückt! Der Ring lag in meiner Vitrine, neben meiner Enkelin! Und heute Morgen war er nicht mehr da. Es muss ihn jemand gestohlen haben!“, schimpfte sie laut.

Die Vermutung von dem Mann im Cafe sollte also wahr sein.

„Misses Greenwood, beruhigen Sie sich doch. Niemand hier glaubt, dass sie verrückt sind. Es ist durchaus möglich, dass die Fichte das Fenster zerstört hat und dann jemand durch das bereits offene Fenster eingedrungen ist und ihren Juwelenring entwendet hat. Ich nehme das mit aufs Protokoll. Wir überprüfen den Fall in den nächsten Tagen. Und Sie ruhen sich nun schön aus, Misses Greenwood“, hörte Eleonora ihn sprechen. Dann wurde die Türklinke heruntergedrückt und der Polizist verließ das Schlafgemach durch den Wohnsalon. Und stieß mit Eleonora zusammen.

„Ich … Ich habe keine Klingel gefunden“, stotterte sie. „Ich möchte zu Misses Greenwood. Ist sie da?“, fragte Eleonora, als wäre sie gerade erst hereingekommen.

„Sie ist in ihrem Schlafzimmer“, nickte der Polizist und schien sich nicht weiter um sie zu kümmern.

Dann verschwand er pfeifend in dem dunklen Gang.

Eleonora betrat endlich den Wohnsalon. „Misses Greenwood?“, rief sie erneut.

„Wer ist da?“, krächzte sie.

„Ich bin Eleonora Bianchi, wir sind uns gestern im Cafe Fresh begegnet“, antwortete Elenora laut.

Sie öffnete die Tür zum Schlafzimmer. Und da stand sie. Elisabeth Greenwood. Eingehüllt in ein altes Samtkleid, welches seine Blütezeit bestimmt schon im letzten Jahrhundert gehabt hatte. Ein Kopftuch bis zu den Augenbrauen gezogen. Sie drehte sich zu Eleonora und sofort fiel ihr Blick auf die starre Porzellanpuppe in ihren Armen. Das Schlafzimmer war dunkel und die weiße Haut der Puppe schien schon fast zu leuchten. Der Anblick schockte Eleonora.

„Oh, ich erinnere mich an Sie“, grinste sie auf eine unheimliche Art und zeigte ihre vergoldeten Zähne. Langsam tat sie ein paar Schritte auf Eleonora zu. Ihr Gesicht kam dem von Eleonora beängstigend näher. Ihre Gesichtshaut war faltig, dünn wie Pergament. An ihrer Wange prangte eine dicke Warze und ihre hellen Augen schienen wässrig. „Aber was zur Hölle haben Sie in meinem Haus verloren, Kindchen?“, rief sie.

Eleonora wich erschrocken zurück.

„Nun, ich habe keine Klingel gefunden… Und die Tür war offen. Sie sollten einen Riegel anbringen“, meinte Eleonora um sie abzulenken.

„Das beantwortet nicht meine Frage!“, rief sie aufgewühlt.

Eleonora schluckte. Ihre Hände waren verschwitzt und sie fühlte sich unwohl. Wieso musste sie auch in dieses Schloss eindringen? Sie wurde sauer auf sich selbst. Es war nicht klug gewesen, alleine in einer neuen Stadt in ein angebliches Spukschloss zu laufen, um einer verrückten alten Lady ein paar Fragen zu stellen.

Wie nur konnte Eleonora sie besänftigen? Sie versuchte es mit der Wahrheit und beschloss, diese ein wenig auszuschmücken.

„Nun, um ehrlich zu sein… Wollte ich Sie und ihre Puppe ein wenig kennen lernen. Als Sie sie mir gestern vorgestellt haben, da war ich so hin und weg von ihrer Schönheit. Ich wollte Sie besuchen, und eventuell mein Buch über Sie und ihre Puppe schreiben, wenn das in Ordnung wäre…Ich habe ihnen auch einen Kaffee mitgebracht“, fügte sie hinzu und war erleichtert, dass sich die spröden Lippen von Misses Greenwood zu einem leichten Lächeln formten. Die Puppe war wohl immer ein gutes Thema für sie.

„Ist sie nicht wundervoll?“, lachte sie und strich ihrer Enkelin über die Pausbäckchen.

„Sie ist eine wahre bellezza, eine wahre Schönheit“, entgegnete ihr Eleonora gespielt interessiert.

„Aber sie ist keine Puppe“, meinte die Alte plötzlich und ihr Blick verfinsterte sich.

„Sie ist Ihre Enkelin, ich weiß“, lachte Eleonora und konnte den ironischen Tonfall nicht unterdrücken.

„Sie denken ich bin verrückt!“, rief Misses Greenwood darauf hin. „Sie lebt! Sie versteht jedes Wort was ich ihr erzähle, sie hört mir zu und manchmal, da antwortet sie mir!“

„Die Puppe antwortet Ihnen?“, fragte Eleonora ungläubig. Die alte Frau erzählte das mit einer solchen Überzeugung, dass man es ihr fast abnehmen konnte. Eleonora lief ein Schauer über den Rücken. Sie wollte nach Hause.

„Natürlich antwortet sie mir. Auch wenn sie es nicht mit Worten tut, kann ich mit ihr kommunizieren“, sie schaukelte die Puppe im Arm und sah ihr tief in die Augen, lächelte sie an.

„Hat sie einen Namen?“, forschte Eleonora weiter. Allmählich bekam sie die Informationen zu hören, die sie für ihr Buch brauchte.

„Oh, sie haben alle sieben einen Namen“, antwortete die alte Dame, die Augen nicht ablassend von dem Gesicht des Püppchens.

Sieben? Es gab noch mehr Puppen?

„Das hier ist Isabell, meine Enkelin. Aber sie hat noch Freundinnen. 5 Stück. Und die wohnen alle hier in meinem Schloss“, lachte sie stolz. Eleonora hob entsetzt eine Augenbraue. Es wurde immer verfahrener. Sieben Puppen. Ihr kamen die Worte des Kellners in den Kopf. Misses Greenwood hatte sieben Söhne gehabt. Das konnte doch kein Zufall sein. Sie verwendete also die Puppen als Kindersatz?

Also Isabell und fünf Freundinnen, das waren dann nur sechs.

„Was ist mit der siebten Puppe?“, fragte Eleonora vorsichtig und fürchtete sich ein wenig vor der Antwort.

Misses Greenwood lächelte und neigte den Kopf. Sie schien sich sehr über Eleonoras Interesse zu freuen. „Die siebte Puppe ist Isabells Zwillingsschwester. Sie trägt den wunderschönen Namen Mirabell.“

Eine Zwillingsschwester? Das konnte doch alles nicht wahr sein. Eleonora musste willkürlich die Nase rümpfen. Jetzt wäre es nur noch interessant, wo sich diese sieben Puppen befanden. Vielleicht lagen sie in einem Karton? Oder waren sie in einem Regal aufgestellt?

„Und wo bewahren sie die Puppen auf?“, fragte sie schließlich. Vielleicht würde Misses Greenwood ihr erlauben, einmal einen Blick auf Isabells Genossinnen werfen zu dürfen. Denn mit ein bisschen Inspiration würde sich Eleonoras Buch sicher schon bald wie von selbst schreiben.

„Oh, ich bewahre sie drüben im Wohnsalon auf. Möchten Sie sie sehen?“ Misses Greenwood hatte angebissen und ohne Eleonoras Antwort abzuwarten, griff die Alte sie an der Hand und zog sie durch die Tür in den Wohnsalon.

„Im Moment sitzen sie auf meinem Sofa. Eigentlich wohnen sie in einer Glasvitrine, aber heute Nacht wurde diese von einem Dieb umgestoßen und zerstört!“

„Wieso denken Sie, dass jemand eingebrochen ist?“, Eleonora hatte zwar das Gespräch zwischen Misses Greenwood und dem Polizisten mitgehört, wollte jedoch die Antwort von Misses Greenwood selbst noch einmal hören.

„Oh, mir fehlt ein Ring, Kindchen. Jemand hat ihn mitgenommen. Und außerdem spüre ich es. Letzte Nacht ist etwas Grauenvolles hier auf Red Side geschehen, daran habe ich keinen Zweifel. Und Isabell hat schreckliche Angst seitdem das passiert ist“, sie sah so traurig aus, so mitfühlend mit Isabell, dass Eleonora der Alten beinahe einen Arm auf die Schulter gelegt hätte.

Die beiden näherten sich dem Sofa, und Eleonora konnte sie ganz genau betrachten: Fünf Puppen saßen da. Feinsäuberlich gekleidet, liebevoll frisiert.

Alle aus Porzellan. Alle mit starren Augen, dicken Pausbäckchen und einem Mündchen, in den man ein leichtes Lächeln interpretieren konnte.

Sie strahlten auf Misses Greenwood eine solche Zufriedenheit aus, eine solche Glückseligkeit und auf Eleonora etwas Düsteres. Jede einzelne Puppe, so wie sie da saß mit ihrem leeren Blick, hatte etwas Düsteres.

„Sie erholen sich gerade. Die letzte Nacht war anstrengend für sie. Ein Fremder ist immerhin hier eingedrungen und hat ihre Vitrine zerstört, Gott erbarme sich!“, sie setzte ihre Isabell sanft in die Runde.

„Heute Nacht werden sie dann wieder munter“, erklärte sie und zupfte an Isabells Kleidchen.

„Sie werden munter? Was … was meinen Sie denn damit?“, stockte Eleonora. Ihr war das hier alles zu verfahren, zu verrückt und diese Puppen verwirrten sie.

„Oh, sie laufen umher, tun all das, was Mädchen eben gerne tun“, erzählte Misses Greenwood selbstverständlich.

„Sie laufen umher? Sie meinen, die Puppen laufen dann durch das Schloss?“ Eleonora wurde ganz schwindelig. Sie hätte niemals hier her gehen sollen.

„Oh ja, natürlich. Ich höre sie nachts tanzen. Das tun sie am liebsten.“ Gelassen setzte sich Misses Greenwood in einen Sessel.

Eleonora fehlten die Worte. Sie hatte ein unangenehmes Gefühl. Sie fühlte sich beobachtet, gemustert von den Puppen mit ihren eindringlichen Blicken und es machte ihr Angst, dass sie den Gedanken bekam, an Misses Greenwoods Geschichte könnte etwas Wahres dran sein.

Herbstverwesung

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