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Pflanzen mit langem Gedächtnis

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Vieles in der Pflanzenwelt, das analog zur Tierwelt abläuft, ist mittlerweile zufriedenstellend erforscht: Intelligenz, Kommunikation, Verteidigungsstrategien oder Verhalten. Nur zum Gedächtnis hat man erst kürzlich Vergleichstests durchgeführt. Das ist umso erstaunlicher, als der Vorreiter auf diesem Gebiet einer der berühmtesten Naturwissenschaftler war: Lamarck (1744–1829), oder besser Jean-Baptiste Pierre Antoine de Monet, Chevalier de Lamarck – weil seine wissenschaftliche Leistung damit würdig zum Ausdruck kommt. Wie andere Naturforscher seiner Zeit interessierte sich der Vater der Biologie – der Begriff geht auf ihn zurück – besonders für die schnellen Bewegungen der sogenannten Sinnpflanzen, Pflanzen also, die umgehend und offensichtlich auf bestimmte Reize reagieren. Lamarck hat sich vor allem lange mit der Frage beschäftigt, wie und warum die Mimose ihre Blättchen plötzlich schließt. Und um es gleich vorwegzunehmen, so genau wissen wir es bis heute nicht.


Mimosa pudica in voller Blüte. Die zahlreichen rosafarbenen Staubblätter lassen die Blüten fedrig aussehen.

Ich nehme an, Sie kennen Mimosen. Man kann sie ja heute im Supermarkt kaufen. Aber falls jemand noch keine gesehen hat: Es handelt sich um eine kleine, anmutige Pflanze, die ihre Blättchen bei äußeren Reizen wie Berührungen schamhaft schließt und darum auch Mimosa pudica, «Schamhafte Sinnpflanze» genannt wird. Sie stammt ursprünglich aus den amerikanischen Tropen, stieß aber durch ihre unmittelbare, bei Pflanzen seltene Reaktion in Europa schnell auf großes Interesse. So haben sich mit ihr etwa der Brite Robert Hooke (1635–1703) beschäftigt, der erstmals eine Zelle unter dem Mikroskop betrachtete und beschrieb, oder auch der Vater der Zellbiologie, Henri Dutrochet (1776–1847). Kurz und gut: Eine Zeit lang war die Mimose ein echter Star.

Auch Chevalier de Lamarck konnte sich ihrer Faszination nicht entziehen. Er führte zahllose Versuche durch, um ihrem Geheimnis auf die Spur zu kommen, und erforschte ihr Verhalten in, gelinde gesagt, ausgefallenen Situationen. Vor allem verwunderte ihn, dass die Pflanze irgendwann nicht mehr reagierte, wenn man sie wiederholt demselben Reiz aussetzte. Sie ignorierte ihn einfach. Lamarck vermutete ganz richtig, die Pflanze sei «müde». Wenn sich die Blättchen wiederholt schließen und öffnen, fehlt ihnen irgendwann einfach die Kraft. Anscheinend, so nahm er an, galt für die Mimose also Ähnliches wie für die Muskeln von Tieren, die auch nur so lange arbeiten können, wie die Energie reicht. Doch seltsamerweise stimmte das nicht in jedem Fall.


Die sogenannte Schamhafte Sinnpflanze, Mimosa pudica, die ursprünglich aus Lateinamerika und der Karibik stammt, ist heute in vielen Ländern des Tropengürtels verbreitet.

So fiel Lamarck auf, dass manche Pflanzen die Blättchen nicht mehr schlossen, obwohl sie noch längst nicht erschöpft waren. Erstaunt fragte er sich nach dem Grund und stieß eines Tages auf einen originellen Versuch, der seine Frage zu beantworten schien. Für den Versuch hatte der Botaniker René Desfontaines (1750–1833) einen Studenten mit jeder Menge Mimosentöpfen auf eine Kutschfahrt durch Paris geschickt und ihm aufgetragen, die Pflanzen genauestens zu beobachten. Vor allem sei darauf zu achten, wann sich die Blättchen schließen. Wir kennen den Namen des Studenten nicht, aber er war von seinem Professor offenbar Seltsames gewöhnt und fragte nicht lange nach. Er verteilte die Mimosentöpfe auf den Sitzen und befahl dem Kutscher, in gleichmäßigem Trab und möglichst ohne anzuhalten die Sehenswürdigkeiten der Stadt abzuklappern.

Der Student hatte wohl kaum Gelegenheit, die Spazierfahrt zu genießen, denn schon beim ersten Rütteln und Schütteln der Kutsche auf dem Pariser Kopfsteinpflaster schlossen sich die Blättchen, und er war vollauf damit beschäftigt, alle Beobachtungen in sein Notizbuch einzutragen. Doch der Versuch dürfte ihm trotzdem recht langweilig vorgekommen sein. Desfontaines würde damit nicht zufrieden sein. Denn was sollte jetzt noch groß passieren? Die Blättchen hatten sich wie vorhergesehen sofort geschlossen – und nun? Was wollte sein Professor bloß mit dem Versuch? Heute war offenbar nicht der richtige Tag für bahnbrechende Ergebnisse. Doch als der Student so dasaß, passierte plötzlich etwas Unerwartetes. Obwohl die Kutsche unvermindert und ohne Unterlass vibrierte, öffneten erst eine, dann zwei, dann fünf und schließlich alle Pflanzen ihre Blättchen. Was war denn jetzt los? Der unbekannte Student hatte eine geniale Eingebung und schrieb in sein Notizbuch: Die Pflänzchen haben sich an das Ruckeln gewöhnt.

Der Versuch auf den Straßen von Paris war der Botanischen Gesellschaft immerhin eine Notiz wert, und Lamarck und Augustin-Pyramus de Candolle (1778–1841) einen kurzen Bericht in ihrem Werk Flore française. Doch wie viele andere geniale Entdeckungen gerieten auch diese Versuchsergebnisse bald in Vergessenheit. Dabei war Desfontaines’ Text ziemlich eindeutig und implizierte ganz klar ein Anpassungsverhalten, das ein Speichern von Informationen, also Gedächtnis voraussetzte. Denn wie hätten sich die Mimosen an das Rütteln der Kutsche gewöhnen können, wenn sie kein Erinnerungsvermögen besaßen? Allerdings fehlte für diese interessante Annahme lange jeder wissenschaftliche Beleg.

Doch im Mai 2013 kam Monica Gagliano von der University of Western Australia in Perth für sechs Monate ans LINV (Laboratorio internazionale di neurobiologia vegetale), das von mir geleitete Internationale Institut für Pflanzenneurobiologie an der Universität Florenz. Die Meeresbiologin war vielseitig interessiert, an der Philosophie ebenso wie an der Evolutionsgeschichte der Pflanzen. Mit diesem Forschungsaufenthalt wollte sie vor allem ihre Botanikkenntnisse vertiefen, und ihre besondere Aufmerksamkeit galt dabei dem Verhalten der Pflanzen. Wir unterhielten uns natürlich ausgiebig über unsere Forschungsgebiete, und irgendwann entwickelten wir einige gemeinsame Versuche, die sich einerseits vor ihrer Universität rechtfertigen ließen und uns andererseits Antworten auf die brennendsten Fragen aus unseren Gesprächen geben sollten. Mir schien eine Frage von besonderer Bedeutung: Besitzen Pflanzen wirklich ein Gedächtnis? Obwohl man ihnen schon länger ein hervorragendes Erinnerungsvermögen zuschrieb, gab es dafür noch keinen wissenschaftlichen Beweis. Ich wollte das pflanzliche Gedächtnis endlich experimentell belegen. Nachdem wir uns also auf das Thema geeinigt hatten, blieb uns noch der schwierigste Teil der Aufgabe: Wie sollten wir beweisen, dass Pflanzen auf wiederholte Reize zunehmend besser reagieren, weil sie über eine spezielle Form von Gedächtnis verfügen?

Als ich wenige Monate zuvor den japanischen LINVSitz in Kitakyūshū besucht hatte, hatte mir der Leiter, mein Freund und Kollege Tomonori Kawano, mit berechtigtem Stolz einige Bücher gezeigt, die die Pariser Sorbonne mit Tausenden anderen einstampfen lassen wollte. Es war ihm in zähen Verhandlungen gelungen, die Bücher zu retten und nach Japan zu bringen. Unter den zahlreichen Schätzen befand sich auch eine Originalausgabe der Flore française von Lamarck und de Candolle – und darin der Bericht über Desfontaines und wie er Mimosenpflänzchen durch Paris kutschieren ließ. Wir hatten uns beim Lesen köstlich amüsiert – Tomonori hatte Desfontaines’ Studenten als japanischen Musterschüler bezeichnet –, und nun fiel mir die Geschichte wieder ein. Ich erzählte Monica davon, und wir fragten uns, ob wir den Klassiker nicht einfach mit heutigen wissenschaftlichen Methoden wiederholen sollten. Und tatsächlich konnten wir schon wenige Tage später einen aktuellen Bericht über den «Versuch von Lamarck und Desfontaines», wie wir die Experimente spontan nannten, verschicken.

Im Jahr 2013 konnte man sich nicht mehr einfach mit Pflanzen in eine Kutsche setzen, aber Lamarcks Reizwiederholung griffen wir gern auf. Wir wollten beweisen, dass Mimosenpflänzchen erstens einen Reiz nach einer gewissen Anzahl von Wiederholungen als ungefährlich einstufen und ihre Blättchen nicht mehr schließen, und dass sie zweitens, nach entsprechender Vorbereitung, zwischen bekanntem und unbekanntem Reiz unterscheiden können und demgemäß reagieren. Anders gesagt, wir wollten herausfinden, ob sich die Pflänzchen an bekannte, ungefährliche Reize erinnern und diese von neuen, potenziell gefährlichen Reizen unterscheiden können.

Eine einfache, aber wirksame Anordnung für unseren Versuch «Lamarck und Desfontaines» war schnell gefunden. Wir ließen Mimosentöpfe in einer speziellen Versuchseinrichtung mehrfach zehn Zentimeter tief fallen. Der präzis quantifizierbare Sturz stellte also den Reiz dar. Unser Versuchsergebnis ließ keine Wünsche offen; Desfontaines’ Beobachtungen stimmten haargenau: Nach sieben oder acht Wiederholungen schlossen sich die Blättchen nicht mehr, und jede weitere Wiederholung wurde souverän ignoriert. Nun mussten wir allerdings noch herausfinden, ob es sich bloß um eine Ermüdungserscheinung handelte oder ob die Mimosen wirklich erkannt hatten, dass der Reiz ungefährlich war. Wir mussten sie also einem neuen Reiz aussetzen. Dazu stellten wir die Töpfe in einen Apparat, in dem sie horizontal geschüttelt wurden. Und siehe da: Bei diesem neuen, ebenfalls exakt quantifizierbaren Reiz schlossen sich die Blättchen sofort. Ein fantastisches Ergebnis. Mit dem Versuch «Lamarck und Desfontaines» hatten wir bewiesen, dass Pflanzen einen Reiz durch Lernen als ungefährlich einstufen und diesen von anderen, potenziell gefährlichen Reizen unterscheiden können. Und dafür mussten sie sich an Erlebtes erinnern.


Die Mimose kann lernen, dass ein Reiz, wie ein kurzer Fall im Topf, ungefährlich ist, und schließt ihre Blätter dann nicht mehr.

Doch wie lange erinnerten sie sich daran? Um diese Frage zu beantworten, ließen wir mehrere Hundert Mimosen, die gelernt hatten, zwischen den beiden Reizen zu unterscheiden, eine Weile ungestört und überprüften anschließend in immer längeren Abständen, ob sie sich noch daran erinnerten. Das Ergebnis übertraf alle unsere Erwartungen: Sie erinnerten sich noch nach mehr als vierzig Tagen daran, also erheblich länger als viele Insekten und ungefähr genauso lange wie manche höheren Tiere.


Die DNA-Methylierung ist die häufigste epigenetische Modifikation.

Bis heute bleibt es allerdings ein Rätsel, wie sich Lebewesen, die kein Gehirn besitzen, an etwas erinnern können. Zahlreiche Forschungsarbeiten, vor allem auf dem Gebiet des Stressgedächtnisses, deuten darauf hin, dass die Epigenetik einiges zu einer Erklärung beitragen könnte. Die Epigenetik beschäftigt sich mit vererbbaren Chromosomen-Modifikationen, die nicht auf Veränderungen der DNA-Sequenz beruhen. Mit anderen Worten: Die Veränderungen betreffen die Genexpression, nicht aber die Gensequenz. Hierzu gehören etwa die Modifikation von Histonen – Proteinen zur DNA-Organisation – oder die Methylierung, bei der sich eine Methyl-CH3-Gruppe an eine stickstoffhaltige DNA-Base bindet.

Schon vor einiger Zeit musste man verblüfft feststellen, dass die nicht codierende Zell-DNA, die man lange als «genetischen Müll» bezeichnet hatte, offenbar wichtige Aufgaben erfüllte. Wie man heute weiß, ist sie beispielsweise für die Produktion von RNA-Molekülen zuständig, die bei der Embryoentwicklung, den Gehirnfunktionen und anderen entscheidenden Punkten eine Schlüsselrolle spielen. Wie so oft in der Biologie, verdanken wir auch hier viele Forschungsfortschritte den Pflanzen – und in letzter Zeit vor allem den Anstrengungen, das Geheimnis des Pflanzengedächtnisses zu lüften. Um nur ein Beispiel zu nennen: Woher wissen Pflanzen überhaupt, wann genau sie blühen müssen? Dass sich Pflanzen seit Jahrtausenden erfolgreich vermehren und fortpflanzen können, liegt ja hauptsächlich daran, dass sich ihre Blüten genau im richtigen Moment öffnen. Nach Ende der Winterkälte warten viele Pflanzen eine bestimmte Anzahl an Tagen ab, ehe sie blühen. Sie müssen sich also daran erinnern, wie viel Zeit verstrichen ist.

Dass es sich dabei um ein epigenetisches Gedächtnis handelt, bezweifelt niemand mehr, doch wie dieses tatsächlich funktioniert, war bis vor Kurzem noch ein Rätsel. Erst in der Septemberausgabe 2016 der Zeitschrift «Cell Reports» sollte eine Arbeitsgruppe unter Leitung von Karissa Sanbonmatsu am Los Alamos National Laboratory ihre Forschungsergebnisse zu einer bestimmten RNA-Sequenz veröffentlichen: Demnach beurteilt eine COOLAIR genannte Sequenz, wie viel Zeit seit der Winterkälte vergangen ist, und steuert so die Frühlingsblüte. Wenn das RNA-Stück inaktiv ist oder entfernt wird, blühen die Pflanzen nicht mehr. Doch uns geht es hier ja nicht um die komplexe Dynamik von COOLAIR – im Grunde der Repressor eines Repressors der Blüte. Uns interessiert hier vor allem, dass solche Mechanismen bei Pflanzen wesentlich häufiger sein könnten als angenommen und dass das Pflanzengedächtnis genau darauf beruhen könnte. Offensichtlich spielen epigenetische Modifikationen in der Pflanzenwelt eine wesentlich größere Rolle als bei Tieren, und es wäre daher durchaus denkbar, dass sich Pflanzenzellen an eine stressbedingt modifizierte Genexpressivität erinnern.

Eine Forschungsgruppe unter Leitung von Susan Lindquist am MIT (Massachusetts Institute of Technology, Cambridge, USA) hat kürzlich die These aufgestellt, dass sich Pflanzen zumindest für ihr Blütengedächtnis Prionen zunutze machen, Proteine mit falsch gefalteten Aminosäureketten. Die Umfaltung (misfolding) könne durch Kettenreaktionen zudem an Nachbarproteine weitergegeben werden. Bei Tieren verheißen Prionen nichts Gutes und verursachen beispielsweise die Creutzfeldt-Jakob-Krankheit, den sogenannten Rinderwahnsinn. Aber bei den Pflanzen könnten sie für ein originelles biochemisches Gedächtnis sorgen.

Anders als man vielleicht denken könnte, sind solche Studien nicht nur für die Botanik von größtem Interesse. Wenn wir begreifen, wie ein Gedächtnis ohne Gehirn funktioniert, können wir nämlich nicht nur das Rätsel um das Pflanzengedächtnis lösen, sondern auch unser eigenes besser verstehen: Auf welche Weise kann sich unser Gedächtnis verändern oder erkranken? Wie können sich auch außerhalb des Nervensystems spezielle Gedächtnisformen ansiedeln? Noch dazu könnten zahlreiche technologische Entwicklungen von den neuen Erkenntnissen der biologischen Gedächtnisforschung profitieren. Mit anderen Worten: Fortschritte auf diesem Gebiet sind von allgemeinem Interesse für die Menschheit, weil sie uns ungeahnte Möglichkeiten eröffnen können.

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