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VORWORT

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Am Ahorn wachsen Samara genannte Nussfrüchte. Dank ihrer Hubschrauberflügel werden sie vom Wind weitergetragen.

Manchmal denke ich, dass den meisten Menschen gar nicht bewusst ist, welche Bedeutung die Pflanzen für uns haben. Jeder weiß zwar, so hoffe ich zumindest, dass sie den Sauerstoff produzieren, den wir einatmen, und dass sie letztendlich am Anfang der Nahrungskette aller Tiere stehen. Aber wer denkt schon daran, dass sämtliche fossilen Energien wie Erdöl, Kohle oder Gas eigentlich nichts anderes sind als Sonnenenergie, die vor Jahrmillionen von Pflanzen umgewandelt und gespeichert wurde? Oder dass die meisten Wirkstoffe in unseren Arzneimitteln von Pflanzen stammen? Oder dass das wichtigste Baumaterial in vielen Weltgegenden noch immer das dafür so hervorragend geeignete Holz ist? Wenn wir es genau betrachten, sind wir, wie alle anderen tierischen Lebensformen, auf Gedeih und Verderb auf die Pflanzen angewiesen.

Nun sollte man annehmen, dass wir daher über die Pflanzen – von denen noch dazu ein Großteil unserer Wirtschaft abhängt – allerbestens Bescheid wüssten. Doch weit gefehlt: Allein 2015 wurden noch sage und schreibe 2034 neue Pflanzen entdeckt – und nicht etwa nur winzige Pflänzchen, die man leicht übersehen könnte. Gilbertiodendron maximum beispielsweise ist ein ungefähr 45 Meter hoher endemischer Baum im Regenwald von Gabun, mit bis zu 1,5 Meter Stammdurchmesser und über hundert Tonnen Gesamtgewicht. Und 2015 war auch kein Ausnahmejahr: Im letzten Jahrzehnt gab es jährlich über zweitausend Erstbeschreibungen neuer Arten.

Die Suche nach noch unentdeckten Pflanzen lohnt sich auf jeden Fall. Wir nutzen heute nachweislich über 31 000 Pflanzenarten: fast 18 000 davon für medizinische Zwecke, weitere 6000 für unsere Ernährung, 11 000 als Textilfasern und Baumaterial, 1300 im gesellschaftlichen Rahmen – etwa für religiöse Riten oder als Drogen –, 1600 als Energiequelle, 4000 als Tierfutter, 8000 für Umweltzwecke, 2500 als Gift – und so weiter. Wie sich leicht ausrechnen lässt, profitieren wir unmittelbar von 10 Prozent aller Pflanzenarten. Noch lohnender wäre es allerdings, wenn wir sie nicht nur nutzen, sondern auch von ihnen lernen würden.

Pflanzen sind nämlich vorbildlich zeitgemäß. Und genau das will ich mit diesem Buch zeigen. Die Pflanzenwelt hat schon vor undenklichen Zeiten optimale Lösungen für die Probleme entwickelt, mit denen wir heute zu tun haben, ob es um Materialien, autonome Energieversorgung, Resilienz oder Anpassungsstrategien geht. Eigentlich müssten wir jetzt nur noch wissen, wie und wo wir am besten suchen.

Pflanzen und Tiere haben sich in einem Prozess, der vor etwa einer Milliarde Jahre begann und vor 400 Millionen Jahren endete, evolutionär in die entgegengesetzte Richtung entwickelt. Auf der Suche nach Nahrung bewegten sich die Tiere fort; die Pflanzen aber blieben am Ort, erzeugten mithilfe der Sonne die notwendige Energie und passten sich an das ortsgebundene Leben an, etwa daran, dass sie leichte Beute waren. Keine einfache Aufgabe. Können Sie sich vorstellen, wie schwer es ist, in einer feindlichen Umgebung zu überleben, wenn man sich nicht vom Fleck rühren kann? Wie es wäre, eine von Insekten, pflanzenfressenden Tieren und anderen Feinden umlauerte Pflanze zu sein und nicht fliehen zu können? Sie hätten dann nur eine Überlebenschance: Ihr Körper müsste unzerstörbar sein und folglich völlig anders aufgebaut als jener der Tiere. Sie müssten eben eine Pflanze sein.

Die Pflanzen schlugen angesichts ihrer Fressfeinde einen evolutionär einzigartigen und von dem der Tiere so weit entfernten Weg ein, dass sie für uns geradezu zum Sinnbild der Andersartigkeit geworden sind. Sie könnten genauso gut Außerirdische sein, so grundlegend unterscheidet sich ihr Organismus von unserem. Viele Lösungen der Pflanzen sind denen der Tierwelt diametral entgegengesetzt: Die Tiere sind mobil, die Pflanzen sesshaft; die Tiere schnell, die Pflanzen langsam. Tiere sind Verbraucher, Pflanzen Erzeuger; Tiere produzieren CO2, Pflanzen binden es, und so weiter. Doch der entscheidende und kaum jemandem bewusste Unterschied zwischen Pflanze und Tier liegt ganz woanders, nämlich im Gegensatz zwischen dezentraler Verteilung und Konzentration. Während sich die Körperfunktionen der Tiere in bestimmten Organen konzentrieren, sind die der Pflanzen über den ganzen Körper verteilt. Die weitreichenden Folgen, die sich daraus ergeben, können wir noch kaum überblicken. Pflanzen wirken auf uns auch darum so grundlegend anders, weil sie völlig anders aufgebaut sind als wir.

Wenn der Mensch Werkzeuge baut, will er stets sich und seine Körperfunktionen ersetzen, erweitern oder verbessern. Unsere Werkzeuge und Geräte orientieren sich deshalb am Aufbau des tierischen Organismus. Nehmen wir beispielsweise den Computer. Seine Bauweise beruht auf einer uralten Blaupause: Ein Prozessor steuert, ähnlich wie ein Gehirn, Hardware, Festplatten, Arbeitsspeicher, Grafik- und Audiokarten. Wir haben also unsere Organe einfach auf eine künstliche Intelligenz übertragen. Was immer der Mensch gebaut hat, gründet mehr oder weniger offensichtlich auf derselben Architektur: Ein zentrales Gehirn steuert die ausführenden Organe. Selbst unsere Gesellschaften basieren auf diesem archaischen, hierarchischen und zentral gelenkten Modell. Dabei bietet es nur einen einzigen Vorteil. Es liefert schnelle Antworten – die aber nicht unbedingt richtig sein müssen. Ansonsten ist es anfällig und alles andere als innovativ.

Die Pflanzen besitzen dagegen kein Organ wie ein zentrales Gehirn. Trotzdem können sie ihre Umgebung sensibler wahrnehmen als Tiere, sie können aktiv um begrenzte Boden- und Luftressourcen kämpfen, Situationen zuverlässig beurteilen, raffinierte Kosten-Nutzen-Rechnungen durchführen und angemessen auf Umweltreize reagieren. Sie könnten für uns also eine alternative Blaupause sein, die wir ernsthaft in Betracht ziehen sollten. Umso mehr, als wir Veränderungen heute immer schneller erkennen und umgehend hochinnovative Lösungen entwickeln müssen.

Zentralistische Strukturen sind per se schwach. Hernán Cortés landete am 22. April 1519 mit nur hundert Matrosen, fünfhundert Soldaten und ein paar Pferden in Mexiko, nahe dem heutigen Veracruz. Schon zwei Jahre später, am 13. August 1521, war mit dem Fall der Hauptstadt Tenochtitlan das Ende der aztekischen Kultur besiegelt. Dasselbe Schicksal widerfuhr einige Zeit später auch den Inka; sie wurden 1533 von Francisco Pizarro besiegt. In beiden Fällen konnten winzige Heere jahrhundertealte Großreiche vernichten, indem sie einfach die Könige, Montezuma und tahualpa, gefangen nahmen. Die zentralistischen Staaten erwiesen sich als angreifbar und verletzlich. Doch nur wenige Hundert Kilometer nördlich von Tenochtitlan lebten die Apachen, die längst nicht so fortschrittlich waren wie die Azteken, aber auch nicht zentralistisch organisiert. Sie konnten sich, wenn auch nur in einem langen Krieg, erfolgreich gegen Cortés zur Wehr setzen.

Das pflanzliche Modell ist wesentlich widerstandsfähiger und zeitgemäßer als das der Tiere. Pflanzen sind ein lebendes Beispiel dafür, dass Robustheit und Flexibilität kein Widerspruch sein müssen. Ihr modularer Aufbau macht sie zum Inbegriff der Moderne: Dank ihrer kooperativen, verteilten Architektur ohne Kommandozentrale bleiben sie selbst in Katastrophenfällen funktionsfähig und passen sich schnell an veränderte Umweltbedingungen an.

Die wichtigsten Körperfunktionen der komplex aufgebauten Pflanzen können sich dabei auf ein hoch entwickeltes sensorisches System stützen, das eine effiziente Erkundung der Umwelt und eine schnelle Reaktion auf Bedrohungen ermöglicht. So verfügen Pflanzen über ein raffiniertes, sich kontinuierlich weiterentwickelndes Netzwerk aus Wurzelspitzen, die den Boden aktiv erforschen. Nicht nur zufällig ist auch das Internet, der Inbegriff unserer modernen Welt, wie ein Wurzelnetzwerk aufgebaut.

Weil Pflanzen durch ihren einzigartigen evolutionären Weg eine wesentlich zeitgemäßere Struktur aufweisen als Tiere, kann es in puncto Robustheit und Innovationskraft niemand mit ihnen aufnehmen.

Wir täten gut daran, dem Rechnung zu tragen, wenn wir uns Gedanken über unsere eigene Zukunft machen.

Pflanzenrevolution

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