Читать книгу In dieser Minute - Steffen Georg Beitz - Страница 6

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Paris, 7. Januar 2011

Sie hatten alle Lichter gelöscht, um durch die Giebelfenster das Leuchten besser sehen zu können, das von der Welt da draußen ausging. Rahim stand hinter ihm, hielt ihn eng umschlungen und schmiegte seine Wange an Dirks Schulter. Dirk atmete tief ein. Der Winter hatte die ganze Stadt in Unschuld gekleidet. Paris erschien ihm wie die Kulisse eines riesigen Märchenparks. Die Dächer waren mit Zuckerguss aus Schnee überzogen, die Autos krochen in Zeitlupe, die Menschen auf den Bürgersteigen machten kurze, vorsichtige Schritte. Der Kälteeinbruch hatte Paris den Segen bedächtiger Langsamkeit geschenkt. So hatte Dirk die Stadt noch nie gesehen. Alles, was hinter den Mauern mit den weißen Hauben lag, kam ihm wie ein ungreifbares Rätsel vor. Jedes Haus schien ein Geheimnis zu wahren, das ein Unheil in sich trug, Augen hatte, um aus den Fenstern zu schauen, doch gleichzeitig unsichtbar blieb. Nur der Halbmond und der Große Wagen über dem verschneiten Hinterhof unten ihnen, der Frieden über der von der Straße abgekehrten Hausseite schienen einer anderen, heileren Welt anzugehören.

Plötzlich sagte Rahim in die Stille hinein: „Hast du heute schon Nachrichten gehört? Rohani hat zwei Lehrer hinrichten lassen.“ Nun flüsterte Rahim, doch es klang umso lauter: „Sie haben dem einen das Becken gebrochen, dem anderen die Füße mit siedendem Wasser verbrüht. Dann hatten sie die Geständnisse: Feindschaft gegen Allah und seinen Propheten und Propaganda gegen die Islamische Republik.“ Die letzten Worte stieß Rahim unter großem Druck hervor, als würde er gewürgt. Dirk drehte sich um und umschloss Rahims Gesicht mit beiden Händen. „Liebst du mich?“, fragte Rahim matt.

Rahims Zimmer unterm Dach bot gerade genug Platz für ein großes Bett und Bücher. Bücher in Regalen, auf dem Boden, zu Türmen gestapelt, wie ein Gebirge rings um das Notebook auf dem Schreibtisch, Bücher auf den Fensterbänken, sogar als Ständer für Lampen. Hunderte von stummen Zeugen dieses Augenblicks.

Anstelle von Worten küsste Dirk Rahim sanft. Er wollte Rahims Mund, der ihn schon immer an den violetten Flieder im Schrebergarten seiner Eltern erinnert hatte, frisches Leben einhauchen, seiner Seele die Last nehmen. Er griff nach Rahims Hand, zog ihn ins Bett und eine ebenfalls schneeweiße Decke über sie beide, drückte ihn fest an sich und schenkte ihm die ganze Hitze seines Körpers. Er wollte Rahim Mirdamadi aus den Fängen seiner Dämonen befreien. Doch würde er die Macht dazu haben?

Irgendwann wachte Dirk auf. Sofort schlug sein Herz schneller. Rahim stand wieder vor dem Fenster. Dieses Mal trat Dirk hinter ihn. Tauwetter hatte eingesetzt. Der Schnee war gewichen.

„Sie wissen immer, wo ich bin. Immer. Und sie kommen wieder. Wann sie wollen.“

Rahims Stimme klang rau und heiser. Dirk wurde bewusst, wie eng und finster Rahim die Welt vorkommen musste. Unwillkürlich suchten nun auch seine eigenen Augen hinter den dunklen Fensterscheiben der gegenüberliegenden Wohnungen nach gedungenen, berechnenden Knechten, Werkzeugen eines gnadenlosen Regimes, die herumschnüffelten, beschatteten, belauschten und möglicherweise gerade jetzt da unten aus der Deckung eines Müllcontainers zu ihnen hinaufstarrten. Dirk fuhr ein Schauer über den Rücken. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Was konnte er nennen, das die Macht hatte, Rahim trotz seiner schrecklichen Gewissheit zu trösten und mit der unaufhaltsamen Wucht eines nahenden Frühlings zu kommen, der Haseln selbst dann blühen ließ, wenn nachts noch tiefe Minusgrade herrschten? Statt etwas zu sagen, umarmte er Rahim nun heftiger und drückte ihn mit einer Mischung aus Hilflosigkeit und dem Versuch einer Kraftübertragung an sich. Ja, er wollte Teheran und der Zerbrechlichkeit ihres Glücks den Krieg erklären. Doch er war weder Befehlshaber einer Armee, noch verfügte er über eine schlagkräftige Waffe. Er wünschte, sie wären durch irgendeinen Zufall in einen schlicht gestrickten Agentenfilm geraten, an dessen Ende sich die Bedrängten als Helden entpuppten, die das Böse besiegten.

Rahim wand sich plötzlich aus der Umarmung und trat einen Schritt zurück. „Du hast großes Glück, weißt du das?“, sagte er, und es klang beinahe wie ein Vorwurf. Er schaute sich um und beschrieb mit der Hand einen großen Bogen, als könnte er mit dieser Geste durch die Wände seines Zimmers bis an den Rhein gelangen. „Düsseldorf, deine Gärten – das ist schön. Du bist so frei. Ich wünschte, ich könnte dein Leben haben.“

„Dann komm zu mir und bleib!“ Doch Rahim schüttelte nur den Kopf und drehte sich wieder zum Fenster. Dirk fasste ihn beim Arm, zog ihn zu sich, so dass er seinem Blick nicht ausweichen konnte, und wiederholte: „Dann komm und bleib!“ Er sagte es so eindringlich und beschwörend, dass er innerlich bebte. Noch nie zuvor war ihm etwas so ernst gewesen. Der Fliedermund öffnete sich, holte tief Luft und schloss sich wieder. In dieser Minute, die jetzt war, wollte Dirk nichts anderes als ein Leben an Rahims Seite. Mit allem, was dazu gehörte. In Düsseldorf, in Paris, anderswo, auf der Flucht. Es war ihm gleich. Solange sie nur zusammen waren.

„Du weißt, dass das nicht geht.“

Rahims Antwort klang in Dirks Ohren kategorisch, fast beiläufig.

„Warum nicht? Wo ist das Problem? Wenn ich Französisch lernen kann, kannst du Deutsch lernen. Ich helfe dir. Bei allem. Es gibt viele Iraner, die in Deutschland leben. Gut leben.“ Dirk musste kurz an Herrn Golschiri denken, den Arbeitskollegen seines Vaters, der unter dem Schah Rechtsanwalt gewesen war und nun Lkws fuhr. Und an seinen Nachbarn Reza, der früher als Chirurg gearbeitet hatte, ebenfalls fliehen musste und jetzt nachts am Bahnhof in einem Taxi, das ihm nicht gehörte, stundenlang auf Kunden wartete. Ob sie tatsächlich ein gutes Leben hatten, konnte Dirk natürlich nicht sagen, und er hätte die letzten beiden Wörter am liebsten zurückgenommen.

„Das ändert doch nichts. Ich werde auch dort immer auf der Flucht sein.“

„Dann komme ich eben nach Paris“, sagte Dirk.

„Du hast keine Ahnung, wovon du redest!“, entgegnete Rahim aufgebracht. „Willst du in einer Wohnung leben, die jederzeit aufgebrochen und auseinandergenommen werden kann? Willst du ständig in der Angst leben, dass sie uns irgendwo auflauern und ihre Knarren an die Schläfe halten?“ Für einen Moment hallte Rahims Frage nach wie ein abgefeuerter Schuss.

„Ja!“, sagte Dirk und schaute Rahim dabei fest in die Augen. Weil er davon überzeugt war, dass es für diese Liebe einen Preis zu entrichten galt. Und wenn dieser Preis einen Verlust an Sicherheit bedeutete, dann war er bereit, ihn zu zahlen.

Plötzlich stürzte Rahim zu einem Bücherregal, warf einen Arm voll Bücher herunter, griff nach einer Schublade, leerte sie auf den Boden, schleuderte die Kissen vom Bett aus durch die Zimmertür in den Korridor. „So, ja? So willst du leben?“, rief Rahim. Er war den Tränen nahe.

Dirk fiel ihm in den Arm, als Rahim wieder auf das Bücherregal zusteuerte. Sie rangen miteinander.

„Findest du…“, stieß Dirk hervor, während er versuchte, Rahims Unterarme unter Kontrolle zu bekommen. „Findest du, dass du Strafe verdient hast? Manchmal kommt es mir so vor. Ist doch so, oder? Ist doch so!“, rief er wütend, presste die Lippen aufeinander, schob Rahim mit dem Rücken zur Zimmertüre und stemmte sich dabei mit seiner ganzen Körperkraft gegen ihn. Rahim wehrte sich ächzend. Doch Dirk war stärker, und schließlich ging Rahim mit einem klagenden Schrei zu Boden. Dirk setzte sich auf seinen Brustkorb und hielt ihn an den Oberarmen fest. „Es sind nur Kissen und Bücher, verdammt!“

„Das sagst du nur, weil du keine Ahnung hast, wie es wirklich ist“, presste Rahim hervor. „Sie schaffen es, dass du dich nirgendwo mehr sicher fühlst, nicht einmal in deinen eigenen vier Wänden.“

„Aber bei dir fühle ich mich sicher. Und ist es nicht das, worauf es ankommt?“

„Ich will nicht die Verantwortung dafür tragen, dass dein Leben für immer verdorben ist. Du verdienst etwas Besseres. Du wirst zur Geisel. Das kannst du nicht wollen.“

„Lass mich für mich selbst entscheiden!“ Dirk ließ Rahim los und legte sich neben ihn auf den Boden. „Ich hatte als Kind auch Angst vor den anderen.“

„Ich rede nicht von einem Schulhof.“

„Ich weiß. Aber für mich war es mehr als das. Es war fast die ganze Welt. Bis auf den Garten meiner Eltern gab es keinen Ort, an dem ich mich sicher gefühlt habe.“ Dirk drehte sich zu Rahim und legte seinen Arm um ihn. „Rahim, bitte! Gib uns eine Chance!“

Der Morgen graute schon über Paris. Und während für die kommenden Fußballweltmeisterschaften in Russland Strafgefangene Stadien bauten und in Katar inzwischen bereits Hunderte Gastarbeiter auf den Baustellen umgekommen waren, kehrte Rahim Dirk langsam den Rücken zu und schwieg.

In dieser Minute

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