Читать книгу In dieser Minute - Steffen Georg Beitz - Страница 7

Оглавление

2

Paris, 2. April 2010

Er hatte den frühen Abendzug genommen. In Deutschland und Belgien herrschte tiefschwarze Nacht. Doch sobald der Zug die Vororte von Paris passierte, riss der Himmel auf und ein voller Mond leuchtete wie ein Scheinwerfer über der französischen Metropole. Licht für eine große Bühne. Dirk konnte es kaum erwarten. Er legte seine Stirn an die kalte Scheibe. Würde es wie in der Gauloises-Reklame sein, in der Männer mit Drei-Tage-Bart und nacktem Oberkörper lässig an der Reling lehnten und die Sonne auf dem Deck von Seine-Schiffen genossen oder im Pyjama mit ihrem Hund im Schatten des Eiffelturms Gassi gingen? Liberté toujours. Konnte es das geben, eine Stadt „frei von Konventionen und anderen Zusätzen“?

Gare du Nord. Überall hohe Häuser. Die vielen Schornsteine wirkten wie Nasen, durch die die Wohnungen atmen. Und während eine afghanische Polizeibeamtin, die gegen Gewaltverbrechen an Frauen ermittelte, in Kandahar brutal ermordet wurde, streifte Dirk seinen Rucksack über, stieg aus und sog die Bahnhofsluft tief ein. Es roch nach einer Mischung aus verrostendem Metall, Dieselabgasen, Frittierfett. Und da war noch ein Duft, den vielleicht auch andere wahrnahmen, aber vermutlich nur er identifizieren konnte – der Geruch von im Straßenstaub zertretenen Kastanienblüten. Herb und süß zugleich nahm er Dirk für einen Augenblick die Orientierung. Er konnte nicht anders, und es war schon immer so gewesen. Alles, was ihn aus dem Reich der Botanik anflog, nahm ihn umgehend ganz ein. Keine Blüte, kein Blatt, keine Rinde konnten sich der genauen Bestimmung durch ihn entziehen. Den Duft von Hyazinthen und Narzissen, Sellerie- und Liebstöckelblättern konnte er mit geschlossenen Augen genauso zuordnen wie die glatte oder rissige Oberfläche von Baumstämmen.

Ringsum schwarze Menschen. Der Bahnhof von Paris schien in afrikanischer Hand zu sein. Ein orthodoxer Jude mit Kippa und Schläfenlocken schnupperte hingebungsvoll an Parfümfläschchen in einer grell ausgeleuchteten Drogerie. Asiatische Reisegruppen mit Atemschutzmasken zwängten sich mit schwerem Gepäck durch das Gewühl. Jugendliche ohne Fahrkarten schwangen sich wie Geräteturner über die Absperrungen zu den Bahnsteigen der Metro. Alles machte auf Dirk den Eindruck einer monumentalen Theateraufführung. Da, der Metroplan. Rahim schien ganz in der Nähe zu wohnen. Mal sehen. Eine Station mit der 4, dann in die 2, von der 2 in die 13. Die Untergrundbahn war schnell, voll und ohrenbetäubend laut. Die Türen schlugen ruckartig und scheppernd auf und zu. Schon raste der Zug in den nächsten Tunnel, während der ganze Wagen rappelte und zitterte. In der 2 zupfte ein Mann an einem Saiteninstrument und sang dazu melancholische arabische Lieder, als könnte er den Lärm und das ständige Rein und Raus der Fahrgäste ausblenden.

Dirk ging plötzlich durch den Kopf, dass er eigentlich gar nicht wusste, worauf er sich eingelassen hatte. Vielleicht war er auf dem Weg zu einer richtig coolen Party, möglicherweise aber auch zu einer steifen Familienfeier mit strenger Sitzordnung. Wo würde sein Platz sein – schon neben Rahim oder noch am Ende der Tafel? Würden sie sich zur Begrüßung küssen oder wieder von vorne anfangen? Was wusste er schon von Rahim? Fast nichts. Als er sich heute Morgen rasiert hatte, spielte das Radio Your Song von Elton John. Wie oft hatte er dieses Lied schon gehört. Doch erst heute kam ihm der Gedanke, dass hier ein Mann einem Mann seine Liebe erklärte.

Die Türen der Metro öffneten sich und gaben den Blick frei auf ein Plakat, das für eine Ausstellung warb. Das Foto eines Mannes, der einen anderen an einem Strand auf seinen Schultern trug. Würde es so sein oder gab es das nur in der märchenhaften Bilderwelt von Annie Leibovitz, in der Schauspieler und Popsänger wie Sagengestalten wirkten und Augenblicke wie die zwei Männer am Strand wie eine Ewigkeit inszeniert waren? Und was, wenn Rahim mit nüchternem Blick keinen Gefallen mehr an seinen roten Haaren und seinen Segelohren fand?

Guy Môquet. Hier war es. In der Metrostation ein Obstladen mit halbierten Kokosnüssen, Ananas, Bananen, Trauben, Datteln. Oben ein siebenstöckiges, klotziges Hausmann’sches Eckhaus aus Sandstein. Davor ein weiteres Geschäft mit Früchten und Gemüse, das auch noch geöffnet war und seine üppigen Auslagen auf beiden Seiten des engen Bürgersteigs feilbot. Und das um 22.00 Uhr. Daneben ein schlauchähnliches Café, vor dem drei Bistrotische standen. Einer davon war noch frei und zog Dirk magisch an. Er lehnte seinen Rucksack an die Hauswand, setzte sich und bestellte einen petit noir. In dichter Folge fuhren Autos vorbei, aus denen Gelächter, erregte Stimmen von Jugendlichen und die tiefen Bässe von House-Musik drangen, die bis in seine Magengrube vibrierten. Auf dem Weg ins zerstreuende Vergnügen schienen alle von dem Fieber der Samstagnacht übermannt worden zu sein. An dem einen Nachbartisch saßen zwei junge, rauchende Frauen, die munter schnatterten. Die eine präsentierte der anderen stolz ihre grün lackierten Fingernägel. Zu dem anderen Tisch, an dem ein dunkelhaariger Typ mittleren Alters ein Glas Rotwein trank, trat nun der Kellner. Beide redeten eine Sprache, die Dirk nicht einzuordnen vermochte. Armenisch, Georgisch, Kirgisisch… keine Ahnung. Er nippte an der bitteren, belebenden schwarzen Brühe und wusste selbst nicht, warum er so kurz vor dem Ziel noch einmal durchatmen musste. Sein erster Eindruck von Paris war grell, farbig und laut. Greller, farbiger und lauter als Düsseldorf jemals sein würde. Paris erschien ihm wie ein Strudel, der ihn erfasste und ins Unbekannte trug. Als ihm ein junger Mann aus einem vorbeifahrenden Wagen zuzwinkerte, leerte er die Tasse, bezahlte, lud seinen taubengrauen Rucksack, dem seit der letzten Trekkingtour eine Schnalle fehlte, wieder auf, ging zurück zu dem Eckhaus mit dem Obst- und Gemüsegeschäft, trat zur Haustür und gab den Code ein, den Rahim ihm geschickt hatte. Die Tür sprang auf. Im Flur waren Olivenbäume in bunten marokkanischen Töpfen an die Wände gemalt. Es roch nach Chlor wie in einem Hallenbad. Eine Flügeltür. Links zum Hinterhaus B. Dirk überflog die Klingelschilder. Nguyen/Bâ/Mirdamadi. Voilà! Die abgetretenen Holzstufen quietschten. Mit jeder Etage wurde der Tumult aus Stimmen, Gelächter und Musik lauter. In Dirks Vorstellung wartete Rahim schon ungeduldig und freudestrahlend an der Türe.

Es war erst eine Woche her, dass er ihm zum ersten Mal begegnet war. In einem Klub in Köln. Dumpfes, monotones Stampfen vermischte sich mit Sirenengeheul und einem Knattern wie von Presslufthämmern. Es war der Tag, an dem ein schweres Erdbeben die chinesische Provinz Sichuan erschütterte. Dirk hatte es am Morgen im Radio gehört. Er nippte an seinem Glas Wodka Lemon. Zuckende Lichtblitze blendeten ihn und gaben der tanzenden Menge etwas Mystisches. Die tiefen Bässe grollten in seinem Bauch. Gleichzeitig bebte die Erde in Sichuan weiter und weiter. Tausende Rettungskräfte räumten schon seit dem Vortag die verschütteten Straßen mit Baggern und Dynamit. Eine Amateuraufnahme auf Youtube hielt fest, wie ein dunkelgrünes Militärfahrzeug mit Soldaten einen schlammigen Abhang hinunterrutschte, sich überschlug und in den Fluten eines reißenden Flusses versank. Der Film brach hier ab. Dirk hatte sich das Video wieder und wieder angesehen und jedes Mal gehofft, dass es doch noch zeigen würde, wie sich die Soldaten befreiten und ans Ufer schwammen. Aber es endete immer an derselben Stelle.

Trotzdem: lachen, alles vergessen. Haben Menschen nicht immer schon aus diesem Grund getanzt? Der Mann neben ihm grinste anzüglich. Dirk lehnte sich an die Theke, schloss die Augen und ließ seine Gedanken zu der hypnotischen Musik treiben.

„Bock auf 'ne Nummer?“, brüllte ihm der Grinsende ins Ohr, um die Musik zu übertönen.

Dirk wandte sich ab und bahnte sich einen Weg bis zu der Stelle, wo die Theke sich krümmte. Hier hinten war weniger los, sogar noch ein Hocker frei. Er setzte sich. Der Club war ein vollständig schwarz gestrichenes, riesiges Rechteck. Dahinter Toiletten und schmale Korridore, die zu dunklen Räumen ohne Türen führten und einen schnellen, wortlosen Quickie ermöglichten. Dirk beobachtete, wie Männer dorthin schlenderten und nach einiger Zeit wieder auf der Tanzfläche auftauchten. Wer schwul und unter dreißig war und wen das Schicksal irgendwo zwischen Niederrhein, Ruhrgebiet und Bergisches Land verbannt hatte, pilgerte Samstagnacht hierhin. Selbst aus der Diaspora der Voreifel und jenseits der belgischen Grenze nahmen junge Männer den letzten Zug nach Köln und verbrachten die Nacht in diesem finsteren Schuhkarton. Nicht Dirks Welt. Sein Element war Tageslicht, Frischluft, gleich welches Wetter, gleich welche Jahreszeit, der schwere Geruch von Erde. Doch manchmal, besonders in der Nacht, wollte er fremdes Terrain betreten, die Seiten wechseln, vor allem, wenn er nicht wissen konnte, was dieser Ausflug mit sich brachte. Er war sechsundzwanzig. Vielleicht zu jung, um genau zu wissen, wonach er suchte.

Gekonnt mischte der DJ zwei alte Stücke von Jimmy Somerville und Depeche Mode, um sie dann wieder in schweren Synthesizer-Beats aufzulösen. Dirk war wach, seine Sinne geschärft. Er schaute sich aufmerksam um. Die Nebelmaschinen arbeiteten auf Hochtouren um die Tanzenden und schafften mit ihren süßlichen, nach Bonbons riechenden Schwaden den Eindruck eines nächtlichen Sumpfs, aus dem sich Geister erhoben. Ein Asiat auf dem benachbarten Stuhl malte dem Barkeeper immer wieder vergeblich ein Rechteck in die Luft.

„Die Cocktail-Karte!“, rief Dirk.

Der Mann hinter dem Tresen legte den Zeigefinger an die Stirn und tat so, als hätte er einen Geistesblitz.

Der Nachbar drehte seinen Kopf zur Seite. Sein Gesicht, das etwas Leidgeprüftes hatte, passte gar nicht zu seinem Teenager-Körper. Er lächelte: „Merci!“

„De rien.“

„Du sprichst Französisch?“

Dirk nickte. Ja, dank einer stotternden Lehrerin, die Piaf und Camus geliebt und in den Pausen nicht mit den Kollegen, sondern mit den Schülern auf dem Hof um die Wette gepafft hatte, sprach er Französisch. Als die Getränke kamen, stieß der Nachbar mit ihm an und sagte: „Ich heiße Minh.”

„Dirk.“

Und dann schnellte eine weitere Hand hinter Minh hervor, gefolgt von schwarzen Locken, die große, dunkle Schlafzimmeraugen und violette Lippen einrahmten. Ein Bild von einem Mann.

„Und ich bin Rahim.“

Dirk schlug ein. Rahims Griff war fest und warm. Er strahlte, schürzte die Lippen, hob sein Glas, trank und hielt dabei den Blickkontakt, ohne ein einziges Mal mit den Wimpern zu zucken. Diese Lippen. Ein Ton zwischen dem Rot des Feuers und dem Blau des Himmels.

Dann stand Rahim auf und machte einen Schritt auf die Tanzfläche. Er trug Jeans, ein schwarzes T-Shirt mit V-Kragen und Turnschuhe. Die Art, wie er die Hüften kreisen ließ und seine Arme dazu hob, wie er sein Shirt ein wenig hochschob und sich über den sandelholzfarbenen Bauch strich – hier war jemand, der genau wusste, wie er wirkte. Eigentlich ein Typ, bei dem sich Dirk keine großen Chancen ausrechnen würde. Denn er hatte selbst diese rotblonden Haare und eben diese abstehenden Ohren. Da stand nicht jeder drauf. Doch dann besaß er auch ziemlich symmetrische Gesichtszüge. Und die waren eine Augenweide, an der sich Blicke von Männern und Frauen verfingen.

Weiter tanzend, kam Rahim langsam auf Dirk zu. Seine Reize rasten wie ein Hochgeschwindigkeitszug durch Dirks Blutlaufbahn. Woher nahm Rahim die Sicherheit, dass er willkommen war? Dirk könnte das nicht. Im Gegenteil. Es kam immer wieder vor, dass seinem Gegenüber völlig verborgen blieb, dass er ihm gefiel. Als gälte es, sein Verlangen wie einen Schatz zu hüten. Und tatsächlich genügte ihm manchmal die bloße Gewissheit, einen Mann zu wollen, ohne sein Interesse auch zu bekunden und das Bild zu gefährden, das er sich aus der Distanz von ihm gemacht hatte. So konnte es passieren, dass er unberührt und allein nach Hause fuhr, ohne zu bereuen. Er ging, wie er gekommen war und doch nahm er etwas mit – die Vorstellung von der bestmöglichen Begegnung mit einem Mann. Vermutlich musste man so werden, wenn man sich wie Dirk schon sein ganzes Leben lang in die stumme Einsamkeit von Gärten zurückgezogen hatte und dabei doch tief beglückt war angesichts der Vollkommenheit, die ihn umgab.

Rahim steuerte eindeutig und ausschließlich auf Dirk zu, während dieser regungslos auf dem Hocker saß und seine Hände ein Glas umklammerten. Es war der fünfzehnte Todestag von Octavio Paz. Die heiße Nachmittagssonne wärmte sein Grab auf dem Friedhof in Chihuahua. Um Mitternacht war in Fukushima der letzte Atomreaktor abgeschaltet worden. Und hier schwebte dieser Fliedermund wie ein Magnet auf Dirk zu, kam näher und näher. Wie eine Verheißung. Wie ein Versprechen.

„Du bist süß!“, raunte Rahim ihm ins Ohr und strahlte siegesgewiss.

Dirk spürte, wie das Blut in seinem Hals pochte. Dann zog Rahim ihn auf die Tanzfläche. Die Musik war wie ein Sturm, die ausgelassene Menge um sie herum dicht gedrängt. Es gab auch neidische Blicke, denn schließlich war insgeheim jeder für eine solche Begegnung hier, besonders diejenigen, die dies am Vehementesten abstreiten würden. Doch Dirk war blind dafür. Er sah nichts und niemanden außer Rahim. Seine wippenden Locken. Jedes Zucken seiner violetten Lippen. Jedes Zwinkern seiner Augen. Und es schien, als wenn genau dies Rahims Absicht war. Denn er ließ keinen Abstand zwischen ihnen entstehen. Und im Spiegel von Rahims Augen gab es nur noch sie beide. Dafür ist die Nacht gemacht, dachte Dirk. Um von Glück durchströmt zu taumeln, zu fliegen, um allem anderen in der Welt da draußen zu entkommen, wie dem Video über die Soldaten, die den Auftrag erhalten hatten zu helfen und selbst zu Opfern wurden.

Dann tat Rahim etwas, was noch nie jemand vor ihm für Dirk getan hatte – er hielt inne, nahm Dirks Hände, küsste sie und sah ihm dabei tief in die Augen. Dirk musste unwillkürlich lachen, doch gleichzeitig spürte er einen Druck auf seinen Tränendrüsen. Dann kam Rahim dicht an sein Ohr und rief gegen das Getöse, das aus den Boxen kam: „Ich mag dich. Sehr.“

Und als wäre dies Teil einer Inszenierung, die Rahim veranlasst hatte, brach die Musik in diesem Augenblick plötzlich ab, und sie standen blinzelnd und verdutzt in gleißend weißem Licht.

„Wir haben eine Rauchentwicklung im zweiten Stock. Bitte geht alle ruhig zum Ausgang auf die Straße. Es besteht kein Grund zur Panik“, rief der DJ durch ein Mikrofon.

Sofort setzte ein hundertfaches Stimmengewirr wie das Summen in einem Bienenstock ein und alle drängten in dieselbe Richtung. Dirk übersetzte, worauf sich Rahims große Augen noch mehr weiteten. Er gab Minh, der nach wie vor an der Theke saß, ein eindeutiges Handzeichen, griff nach Dirks Arm und zwängte sich in einem Zickzackkurs seitlich an der sich gegenseitig vorwärts schiebenden Menschenmenge vorbei und zog dabei Dirk hinter sich her. Der vergaß fast den Ernst der Lage und starrte stattdessen wie gebannt auf Rahims braune Hand, von der seine helle Hand umschlungen war. Und da war er, dieser Moment, der nur wenige Sekunden dauerte, in dem Dirk sich jedoch großzügig beschenkt fühlte. Wie in der vergangenen Woche, als er vor dem Haus seines Kunden Kenji Nemoto den frisch austreibenden, alten Ginkgo gesehen hatte und vor seinem geistigen Auge das Bild des japanischen Gartens entstand, den er um diesen Baum anlegen würde. Es bedurfte nur eines einzigen Augenblicks, um ihm die Vision zu schenken, wie er als Nemotos Gärtner das verwahrloste Grundstück vor dessen Haus verwandeln würde. Genau so wollte er mit Pflanzen umgehen und sein Geld verdienen. Mit Intuition. Es war eine innerliche Bereicherung, zu erleben, wie dies auch gelang. Dieser Gingko biloba, dieses erdgeschichtlich lebendige Fossil mit seinem tief gefurchten Stamm, seinen waagerecht schwebenden Ästen und den hellgrünen, abgerundeten Fächerblättern verlangte nach einem eleganten Rahmen, der seiner ostasiatischen Herkunft entsprach. Den künftigen Garten mit seinen Kiefern und Steinformationen konnte Dirk bis in die kleinste Einzelheit vor sich sehen. Daran musste er nun denken, als er seinen Blick auf Rahims Griff um seine Hand heftete, ein Griff, der ihn auch mehr sehen ließ als das, was er in diesem Augenblick zu bedeuten schien.

Mit dem Sirenengeheul eintreffender Löschfahrzeuge stolperten sie auf die Straße, auf deren Pflaster sich schon das Licht von Flammen spiegelte. Aus der zweiten und dritten Büroetage über dem Klub loderte offenes Feuer. Polizisten lotsten sie auf die Verkehrsinsel in der Mitte der schon gesperrten dreispurigen Fahrbahn. Dort standen sie alle und stierten auf den Qualm und das Geflacker, dessen Hitze sich selbst in dieser Entfernung noch auf ihre Gesichter legte. Um sie herum setzte eine Diskussion ein, ob man sein Eintrittsgeld zurückverlangen sollte und ob die Versicherung des Klubbetreibers dafür nicht aufkommen müsste.

Rahim hielt immer noch Dirks Hand. Als der Griff fester wurde, wandte sich Dirk ihm zu. Rahims Brauen waren zusammengezogen, seine Züge hatten etwas Gequältes und im Schein der Flammen schienen sich seine Lippen in das Dunkelblau eines Erfrierenden zu verfärben. Er murmelte Minh kurz etwas zu und drehte sich dann wieder zu Dirk: „Wir müssen zum Hotel. Unsere Sachen holen. Unser Zug fährt bald.“

Und während in Kabul der Mutter der ermordeten Polizistin ein abgetrennter Finger mit einem Ring zur Identifikation vorlegt wurde und ihre Knie plötzlich nachgaben, nickte Dirk nur widerwillig. In ihm jagten gleichzeitig Warum-, Wann- und Wo-Fragen und die Angst, Rahim könnte sich belanglos mit einem „War schön“ oder „Vielleicht sieht man sich ja wieder“ verabschieden.

Doch Rahim schien zu erkennen, dass er ihm eine aufrichtige Erklärung schuldig war. Er wies kurz mit der Hand zu dem brennenden Haus, sah dann Dirk fest an und sagte: „Ein Teil meiner Familie ist in einem Kino ums Leben gekommen. Es ist auf Anweisung von Chomeini in Brand gesteckt worden. Weil dort Frauen und Männer mit ihren Kindern gemeinsam im Dunkeln saßen. Das war 1978. Acht Jahre, bevor ich geboren wurde. Trotzdem habe ich immer wieder Alpträume davon.“ Er machte eine kurze Pause und fügte hinzu: „Ich kann das nicht sehen.“

Dirk nickte. Dieses Mal, weil er verstand. „Ich will dich wiedersehen“, sagte er, erstaunt über sich selbst und gleichzeitig stolz, dass ihm dieser Satz rechtzeitig über die Lippen gekommen war. Denn oft fiel ihm erst im Nachhinein ein, was er am liebsten gesagt hätte, als er geschwiegen hatte.

Es entstand eine weitere Pause, in der Minh erwartungsvoll zu Rahim hochsah und als der zögerte, selbst die Initiative ergriff: „Rahim hat nächsten Samstag Geburtstag.“

„Kommst du?“, fügte Rahim hinzu, seinen Blick starr auf Dirk geheftet.

„Ja, sehr gerne."

Sie tauschten Telefonnummern aus, eine Umarmung für Minh und einen Kuss für Rahim. Und als er ihnen hinterher sah, stand für Dirk fest, dass er die Einladung nach Paris annehmen würde. Es war unmöglich, an Rahim vorbeizugehen. So unmöglich, wie wenn er sich zwingen würde, eine Blüte nicht zu beachten, die ihn förmlich hypnotisierte, die ganz von alleine seinen Kopf in ihre Richtung bewegen ließ und ihm nicht anderes erlaubte, als dass er seine Augen schloss, um von ihrem Geruch zu kosten. Rahim nicht zu wollen, wäre, als wenn er vor einem Feld aus Thymian stünde, ohne darüber zu streichen und einen Strom aus würzigem Duft freizusetzen, den er tief einsaugen musste. Er wollte Rahim, ihm die Kleider vom Körper streifen, die Gärten auf seiner Haut, die im Neonlicht der Tanzfläche wie Tannenhonig geschimmert hatte, entdecken, sie mit seinem Speichel bewässern, Wurzeln in ihnen schlagen. Denn Rahim vermochte etwas, was noch nie jemandem vor ihm gelungen war. Er löste aus, dass etwas in Dirk zu blühen begann.

Doch im Türrahmen zu der Wohnung unterm Dach stand nun nicht Rahim, sondern Minh mit seinen traurigen Augen. „Dirk! Du bist es! Ich hatte wirklich gehofft, dass du kommst. Schön! Komm rein!“, strahlte er und schloss die Tür hinter ihm.

„Ist er das? Der Deutsche? Ja?“

Ein quirliger schwarzer Mann mit einem kreisrunden Gesicht und hochgezogenen Brauen ließ zappelnd ein Glas von der einen in die andere Hand wandern. Er war also schon der bunte Hund. Gerade noch hatte ihn die wohltuende Einsamkeit seiner Pflegegärten umgeben, nun blendete ihn grelles Rampenlicht. So kam es ihm zumindest vor.

„Ja, das ist Dirk!“

Eh bien. Bonsoir, bonsoir! Ich heiße Amadou. Amadou Papa Bâ. Willkommen, willkommen bei uns! Ich trink' zwar keinen Alkohol, aber ich mach' trotzdem hier den Barkeeper.“ Während Minh Dirk den Rucksack abnahm, gab Amadou ihm gestikulierend zu verstehen, dass er ihm folgen solle. Wie ein Fluglotse, der eine Maschine auf dem Rollfeld anwies, riss er die Arme nach oben und bahnte sich und Dirk einen Weg in die Küche. Was für ein Energiebündel! „Mesdames, Messieurs, hoher Besuch aus Deutschland! Das ist Dik.“ Amadous Zeigefinger deutete nun auf verschiedene Köpfe. „Dik, das ist André. Fatima. Djamel. Manon. Jade. Louis. Camille. Zoé.“ Die Aufgerufenen nickten ihm zu, Dirk nickte zurück. „Also, was bekommst du?“

„Habt ihr Gin Lemon?“

„Sicher! Mit Eis?“

„Ja.“

Amadou mixte in Windeseile alles zusammen. Dann klingelte sein Handy. Auf dem Bildschirm lächelte Barack Obama. Bevor Amadou dran ging, konnte sich Dirk die Frage nicht verkneifen: „Wo ist Rahim?“

Amadou reichte ihm sein Glas und antwortete: „Irgendwo im Getümmel. Ich sag' ihm Bescheid, okay?“ und bahnte sich schon seinen Weg durch die Menge.

Amadou war also weg, Minh auch nicht zu sehen, geschweige denn Rahim. Um ihn herum nur fremde Gesichter. Eine junge Frau, deren Namen er vergessen hatte, wandte sich der Arbeitsplatte mit den Salatschüsseln und Baguettes zu. Sie schnitt sich ein Stück Käse ab, streifte ihn flüchtig mit ihrem Blick, konzentrierte sich kauend wieder auf das Buffet und fragte beiläufig: „Also du bist Dik. Are you American?

„Nein, Deutscher.“

„Ah ja?“

Es klang wenig interessiert.

„Und woher kennst du Rahim?“

„Ich kenne ihn nicht gut. Auch noch nicht lange.“

„Du musst unbedingt das Taboulé von Fatima probieren. Echt gut!“ Damit kehrte sie ihm den Rücken zu.

Dirk hatte keinen Appetit. Sein Magen flatterte. Er leerte sein Glas, wartete noch einen Augenblick. Dann begab er sich auf die Suche. Die Wohnung war brechend voll mit Menschen, scheinbar ausweglos wie ein Labyrinth-Garten. Er zwängte sich vorbei an gefühlt hundert Leuten. „Pardon. Pardon.“ Ganz hinten, am anderen Ende des Apartments, hielt Rahim Hof, umringt von Gästen, die er mit einer Geschichte von der Uni amüsierte. Aus den Sprachfetzen, die zu Dirk gelangten, schloss er, dass es um einen Prof ging, was der gesagt hatte, worauf Rahim geantwortet hatte und so weiter. Dirk lehnte sich an die Wand. Alle lachten mit Rahim. Faszinierend. Dirk hörte nicht wirklich zu. Doch er verfolgte wie gebannt die Bewegungen der violetten Lippen, sah, wie Rahims Zunge über die weißen Zähne glitt, wie seine Hand über die eigene Brust streifte, er sich immer wieder die Locken aus der Stirn strich, wie sehr er es genoss, im Mittelpunkt zu stehen. Und er sah blendend aus – hellblaues Hemd, die oberen Knöpfe offen, die Ärmel lässig hochgekrempelt, eine enge schwarze Hose, nackte Füße in braunen Ledersandalen.

Plötzlich löste sich Rahim aus dem Kreis und machte vier Schritte in seine Richtung. Er erkannte Dirk, stutzte und rief: „Salut! Alles klar? Hast du was zu trinken?“

Ein kumpelhafter Klaps auf die Schulter für Dirk und schon ging es weiter – Küsse für eine Frau, eine herzliche Umarmung für einen Mann. Das war alles. Was für eine Enttäuschung! Doch was konnte er schon erwarten? Rahim hatte nichts versprochen. Dirks Gedanken rasten zu einem Bett aus Pressspan und mit ranzigem Kopfkissen in einem heruntergekommenen Bahnhofshotel. Dort konnte er auch die Nacht verbringen. Und morgen früh gleich mit dem ersten Zug zurück. Vielleicht hatten ihn die arabischen Liebeslieder und der Mann, der seinen Freund auf den Schultern trug, tatsächlich auf die falsche Fährte in einen Irrgarten im Schatten des Tour Eiffel gelockt.

Jemand legte den Arm um seine Schultern. Dirks Stimme war belegt. Er musste sich räuspern. „Ich brauche jetzt etwas Starkes. Whisky oder so.“

„Nur zu. Nur zu. Viens, mon ami!“, lachte Amadou.

Die Musik wurde lauter gedreht. Einige Gäste tanzten. Im Flur wurde Dirk plötzlich am Arm gepackt und in einen dunklen Raum gezogen, in dem es nach frischer Farbe roch.

Hé! Du hast mich heute noch gar nicht geküsst! Dabei habe ich Geburtstag…“, flüsterte Rahim tadelnd. Er schob Dirks T-Shirt hoch bis über die Brust und legte seinen warmen Mund stöhnend auf die linke Brustwarze. Seine Hände massierten Dirks Ohren, glitten dann über Rücken, Pobacken, die Schenkel hoch zu seinem Schritt. „Wenn alle gegangen sind, bist du der Einzige, der bleibt. Okay? Ich freu' mich auf dich“, schnaufte Rahim. „Warte einen Moment, bevor du rausgehst, ja?“

Rahim öffnete die Tür und schloss sie hinter sich. Dirk sah sich um. Das helle Mondlicht, das durch die Fenster fiel, legte die Umrisse von mehreren Staffeleien frei. Er tastete vergeblich nach dem Lichtschalter und drückte die Klinke herunter. Draußen, an der gegenüberliegenden Wand des Korridors, stand Minh, dessen Züge sich nicht zwischen Freundlichkeit und Schwermut entscheiden konnten. Seine müden Augen wurden durch ein Buddha-Lächeln abgemildert.

„Ist das Rahims Zimmer?“

„Nein. Es ist meins.“

„Ah, Entschuldigung!“ Dirk zog die Tür rasch zu.

„Kein Problem. Hier!“ Minh reichte ihm den bestellten Whisky. „Es wird nicht leicht mit ihm. Aber vielleicht klappt's ja", mutmaßte Minh unverblümt.

„Wie meinst du das? Warum wird es nicht leicht?“, fragte Dirk zurück und schmiegte sich auch an die Wand.

Minh schien einen Augenblick zu überlegen. Dann hob er den Kopf. „Du lebst, wo du geboren bist, richtig?“

„Mehr oder weniger, ja.“

„Rahim ist im Exil. Er ist ein Baum ohne Wurzeln. Bäume ohne Wurzeln fallen schnell um.“

Amadou rief aus der Küche nach Minh. Dieser entschuldigte sich und verschwand im Meer der Gäste. Dirk fand einen freien Sessel im Wohnzimmer, das nun als Tanzfläche diente. Der scharfe Alkohol zerging auf seiner Zunge. Rahim – ein umfallender Baum? Er wirkte so stark, so selbstbewusst. Dirk stürzte den Rest seines Drinks herunter und beobachtete dabei Rahim, der am anderen Ende des Raumes mit einer dunkelhaarigen Frau tanzte, die so attraktiv war wie er. Er führte sie gekonnt, die eine Hand hielt ihre, die andere ruhte oberhalb ihres Gesäßes. Seine Nase streifte ihre Wange. Dirk wollte an ihrer Stelle sein. Sie strahlten sich an, lachten. Was für ein Paar, was für ein Mann! Ein Körper, der in sich wohnte, prall gefüllt mit Sinnlichkeit und Lebensfreude. Einen Wurzellosen stellte sich Dirk anders vor.

Erst jetzt fiel ihm auf, dass nur Frauen mit Männern tanzten. Er blickte um sich. Überhaupt war es schwer, irgendeinen anderen Schwulen in der Wohnung auszumachen.

Dann erklang eine fremde Musik, die von einem einheizenden Dudelsack bestimmt wurde. Rahim öffnete einen weiteren Knopf seines Hemdes und winkte Dirk zu sich vor die geöffneten Fenster, die einen unverbauten Blick auf die vom weißen Mondlicht beschienene Stadt freigaben. Wie ein begehbares Gemälde breitete sich die Landschaft aus Dächern und Schornsteinen aus. Mit Dirk drängten sich immer mehr Gäste um Rahim, so dass er selbst wieder an den Rand des Raumes geschoben wurde, während Rahim mit von Schweiß triefenden Locken wie ein Derwisch durch den ausgelassenen Pulk fegte und aus Gläsern trank, die ihm bereitwillig gereicht wurden. Rahims klatschnasses Hemd klebte nun an seinem Körper und legte die Wölbungen seiner Schultern und seines Rückens bloß. Dirk wollte am liebsten mit ihm einen Satz aus dem Fenster in den Park aus Schornsteinen machen und wie die Brautleute von Chagall mit musizierenden Ziegen und fliegenden Heringen in den nächtlichen Himmel entschwinden.

Als Rahim die Wohnungstür hinter dem letzten Besucher schloss, begann es gerade zu dämmern. Er lehnte sich an die Tür, um sich von ihr abzustoßen, torkelte auf Dirk zu, warf beide Arme um dessen Hals und wies matt mit dem Kopf auf eine geschlossene Zimmertür. „Kein Licht!“, murmelte er, während sie auf ein großes Bett zustolperten.

Zwei Fenster gingen zum stillen Hinterhof hinaus. Von unten drang bläuliches Licht nach oben, als sei der Mond in den Hof gefallen.

„Was ist das?“, fragte Dirk und spähte nach unten.

„Das ist Monsieur Hachoud in seiner Schlachterei. Er schlitzt gerade den Hammeln die Bäuche auf“, kicherte Rahim.

Die Vorstellung von nackten, rosigen Tierleibern stieß Dirk nicht ab. Sie erregte ihn. Er drehte sich um. Rahim stand dicht hinter ihm. Sie umklammerten sich, klopften sich lüstern ab und verschlangen sich mit einer Intensität, die etwas Verzweifeltes hatte.

„Warte!“, ächzte Rahim und begann damit, seine feuchte Kleidung abzustreifen. Trotz seines benommenen Zustands war er einen Moment schneller als Dirk, warf sich aufs Bett, atmete tief und begann genau in dem Augenblick zu schnarchen, als Dirk sich zu ihm legte. Dirks Augen glitten nun über jeden Zentimeter von Rahims unbekleidetem Körper, die Oberarme, die muskulösen Schenkel und Waden. Im Zentrum seiner Brust und unterhalb des Bauchnabels kräuselten sich einige schwarze Haare. Seine Haut schimmerte im frühen Morgenlicht wie eine Decke aus mattem Samt. Sein Glied war dunkel, groß, ohne Vorhaut, immer noch halb aufgerichtet. Die Eichel, die breiten Brustwarzen genauso fliederfarben wie der Mund. Sein Kopf lag seitlich, Dirk zugewandt. Locken fielen über Stirn und Augen.

Dirk rutschte ganz dicht an Rahim heran. Er spürte seine warme Atemluft. „Wohin geht unsere Reise?“, flüsterte er.

Stunden später befand er sich auf einem Abenteuerspielplatz. Als er unter eine Holzbrücke trat, seilte sich ein Mann in Camouflage ab. Er warf sich mit seinem ganzen Gewicht auf Dirk, legte seinen Arm halb klemmend, halb stützend unter seinen Kopf, seine Hand umfasste liebkosend Dirks Wange. Die Lippen des Soldaten waren dicht über Dirks Mund. Er flüsterte: „Das hier ist kein Spiel. Wir sind Tschetschenen.“ Dirk nickte. Er wollte diese Lippen küssen. „Es geht um Grosny. Verstehst du?“

Dirk nickte wieder. „Ja, was soll ich tun?“

Der Soldat küsste ihn zärtlich. „Du rufst noch heute Putin an!“

„Was soll ich sagen?“

Der Soldat drückte seine Lippen wieder sanft auf Dirks Mund. „Du weißt, was zu tun ist.“ Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Wir töten dich – so oder so.“ Dann lief der Soldat davon.

Dirk musste mit einer Bewegung wach geworden sein, denn Rahim öffnete nun auch die Augen. Sofort verbissen sie sich wieder ineinander. Es war wie bei einer Fahrt mit einem Kettenkarussell, beide in derselben Gondel, höher und höher, die Zimmerdecke öffnete sich, sie flogen davon. Auf und davon, weit, weit weg.

Im Tageslicht stand Rahim in einem anthrazitfarbenen Anzug mit weißem Hemd, frisch geduscht und rasiert vor dem Bett. „Ich muss los. Essen mit der Familie. Bis später! Ciao.“

Sie küssten sich. Erst fiel die Zimmer-, dann die Wohnungstür ins Schloss. Dirk fand keinen Schlaf mehr. Er döste nur noch. Dann richtete er sich auf. Ein Blick aufs Handy: 12.30 Uhr. Mein Gott, das ganze Zimmer bestand aus Büchern! Dirk betrachtete einige der Rücken – arabische, wahrscheinlich persische Titel, französische, englische. Enzyklopädien. Moderne persische Dichtung. Geschichte der russischen Lyrik. Und alle Schwestern und Brüder: Wilde, Woolf, Sontag, De Beauvoir, Gogol, Kavafis, sogar Klaus Mann. „Das Bildnis des Dorian Grey“ hatte er selbst gelesen. „Mrs. Dalloway“ und „Die Mandarins von Paris“ kamen ihm auch bekannt vor. Alle anderen Titel sagten ihm nichts. In einem der Regale ein Foto in einem schwarzen Rahmen von einem Jungen, der Rahim ähnlich sah. Dirk hörte Geschirr klappern und trat aus dem Zimmer.

Bonjour, Dirk!“

Dirk nickte und lächelte. Minh stand vor der Spüle in der Küche und beseitigte den Schmutz der Nacht.

„Kann ich dir helfen?“

Minh schüttelte energisch den Kopf. „Nein, das mach ich schon. Mein Geburtstagsgeschenk. Du duschst. Dann solltest du rausgehen und einen Kaffee trinken. Es ist schön heute.“ Minhs Kinn wies zum Fenster. „Und lass dir Zeit! Rahim kommt nicht vor vier zurück.“ Dirk zeigte mit der Hand auf die Tür gegenüber. „Ja! Ein Handtuch liegt schon da für dich.“

Minhs Art hatte etwas Strenges und Sanftes zugleich. Sie reizte nicht zum Widerspruch. Während warmes Wasser die Spuren der vergangenen Nacht an ihm abwusch, stand für Dirk fest, dass er befolgen würde, was Minh empfahl.

Es war tatsächlich wunderbar draußen, warm, mit einer lauen Brise. Die Avenue war voller Leben. Leute kauften ein, Fisch, Kebab, chinesische Billigtextilien. In einer Reinigung, groß wie ein Garagentor, standen asiatische Männer im Dunst dampfender Bügeleisen und hantierten mit weißer Wäsche. Bestimmt jedes fünfte Ladenlokal ein Bistro. Überall dieselben mit Kreide notierten, deftigen Speiseangebote: Rindertartar mit rohem Ei, Gänseleber, Jakobsmuscheln, Riesengarnelen, Seewolf, Lammspieß, Ente. Männer standen an Tresen und schauten ernst auf die Straße. Vor ihnen Gläser mit Bier, Wein, Ricard.

Dirk bog in eine ruhige Seitenstraße ein und setzte sich auf einen braunen Plastikstuhl an einem kleinen Stahltisch mit orangefarbener Kunststoffplatte. Während er sein Croissant in Milchkaffee tunkte, beobachtete er drei Arabisch sprechende Männer an einem der Nachbartische. Sie tranken auch Kaffee, unterhielten sich laut und angeregt und lachten. Ihm wurde fast schmerzlich bewusst, dass er allein war. Hätte Rahim nicht auf das Familientreffen verzichten können? Er hätte zumindest sagen können, dass es vielleicht bis vier dauern würde, ihm leidtat, aber dass er sich beeilen würde. Während er die Araber beäugte, kam fast Wut in ihm auf. Die ließen wahrscheinlich gerade Frauen und Kinder warten und dachten gar nicht daran, ihnen die Einkäufe abzunehmen. Diese Pascha-Kultur. Ob Rahim auch so einer war? Er griff zu der Le Monde, die auf dem Nachbartisch lag und schlug wie immer zuerst den internationalen Teil auf. Ein langer Artikel beschrieb, wie Mubarak und Gaddafi von Deutschland und Italien jahrelang mit Waffen versorgt worden waren. In Aserbaidschan hatten zwei Blogger ein Video veröffentlicht. Es zeigte einen als Esel verkleideten Mann, der bei einer Pressekonferenz das schöne Leben in Aserbaidschan und die Freundlichkeit der Regierung gegenüber Eseln in höchsten Tönen lobte. Nun waren die beiden im Gefängnis. Dirks Gedanken und Gefühle beim Zeitunglesen waren immer dieselben: eine Mischung aus Entsetzen, Mitgefühl, Zorn. Und Ohnmacht. Er faltete die Seiten zusammen, verschränkte die Arme und schaute hoch zu den weißen Schäfchenwolken, die über den Spalt der engen Häuserschlucht zogen. Er stellte sich vor, wie Götter dort oben Schach spielten und alle Menschen ihre Figuren waren. Kleine Bauern, die so lange unermüdlich den König beschützten, bis sie fielen. Ob es auch eine Partie für Rahim und ihn gab? Oder war das Spiel schon vorbei?

Square des Épinettes. Ein kleiner Park, direkt um die Ecke, der je nach Tageslänge zwischen 17.45 und 21.30 Uhr schloss. Er war auf allen vier Seiten umgeben von gleich hohen, herrschaftlichen Sandsteinfassaden. Dazwischen: in Achsen, Winkeln, Gattern eingepferchte, begradigte Natur, ganz dem französischen Sinn für Ordnung und Ästhetik unterworfen. Skulpturen eines Unternehmers und einer Frau in langem Kleid und hochgesteckten Haaren, die mit ausgestreckten Armen dem Besucher entgegenkam. Gedenktafeln, die an die deutsche Besatzung erinnerten. Wie schon an der Metrostation Guy Môquet. Einmal hieß es: Opfer der Repression der Nazis. Dann: getötet von den Deutschen. Unangenehm, dieses Paris. Plötzlich kam es Dirk so vor, als ruhten hinter den blinden Scheiben Dutzende von Augenpaaren auf ihm. Was suchte er hier, der Deutsche, was hatte er hier verloren? Machte einem Iraner im Exil den Hof, der außer einer gemeinsamen Nacht nichts weiter von ihm wollte. Lächerlich.

Eine Gruppe von Gärtnern, stämmige, weiße Frauen mit praktischen Kurzhaarschnitten und schwarze Männer mit üppigen Dreadlocks, pflanzten entlang des Zauns Sträucher und schwemmten die Wurzelballen mit Wasser aus einem Schlauch an. Roten und gelben Hartriegel. Die passten auch in den Garten von Karla Stör. Dirk wünschte sich unter ihre blühenden Ulmen. Oder unter den Ginkgo von Nemoto. Er sehnte sich nach der betäubenden Geruchsmischung aus Frühlingsluft, klumpiger Erde und dem Aroma der Wurzeln, die er mit dem Spaten aufwarf. Wie viel Frieden und Sicherheit die Obhut der Natur doch im Vergleich zu dem Gelände bot, auf das er sich in den Straßen von Paris begeben hatte.

Er legte sich auf eine Parkbank im Halbschatten, schloss die Augen und rang mit sich, ob er nicht einfach wieder fahren sollte. Was hielt ihn hier – die Erinnerung an die Hitze von Rahims Körper? Die Hoffnung, dieses Feuer in ihm neu zu entfachen? Was suchten sie jeweils im anderen?

Schon fast 15.00 Uhr. Nach wie vor hatte er Fluchtgedanken. Noch war Zeit. Er beschloss, dass er auf dem Weg zurück zur Wohnung nach einem Zeichen suchen würde, das ihm die Entscheidung abnahm. Er sah Ball spielende Kinder, alte Männer, die gemächlich mit Hilfe eines Stocks flanierten, herumlungernde Halbwüchsige, die so aussahen, als hätten sie nicht übel Lust, ihn auszurauben oder ihm zumindest die Visage zu polieren. Orchideen vor dicken, grauen Gardinen, jede Menge Hundekot auf den Gehwegen, der Geruch von gebratenen Schweinekoteletts in Panade. Niemand und nichts hatte eine Botschaft für Dirk. An einem Kiosk überflog er weitere Schlagzeilen in einem Zeitungsständer: mehr als eintausend Tote nach dem Einsturz einer Textilfabrik in Bangladesch. In Spanien prügelten sich nordafrikanische Einwanderer mit der Polizei. In Frankreich gab es mehr Arbeitslose als jemals zuvor.

Als er nur noch fünfzig Meter von der Wohnung entfernt war, stand er plötzlich vor dem Schaufenster eines Blumengeschäfts mit einem großen Strauß violetten Flieder, dessen Zweige ihm zuwinkten. Er trat in den Laden. Ein kleiner Raum, vielleicht dreißig Quadratmeter groß, aber hohe Wände, eine salonartige Decke mit üppigem Stuck aus floralen Motiven. Alles, Boden, Decke, Wände hatte denselben erlenholzfarbenen Ton. Vor diesem dunklen Hintergrund und mit Hilfe von Halogenlampen, die Lichtinseln schufen, erstrahlten Anemonen, Pfingstrosen, selbst schlichte gelbe Freesien wie eine leuchtende Offenbarung. Dazwischen große steinerne Töpfe und Schalen, dekorative Wurzeln, riesige Südseeschneckenhäuser – Dirk wusste gar nicht, wohin er zuerst schauen soll. Hier arbeitete jemand, der sein Handwerk verstand. Denn jede einzelne hier ausgeleuchtete Blüte trug eine zweifelsfreie Botschaft für die Passanten: Ihr sucht nach vollkommener Schönheit? Hier findet ihr sie.

Bonjour! Kann ich etwas für Sie tun?“

Vor Dirk stand ein schlanker Mann mit Vollbart, grazilen Gesten und großen, glänzenden Rehaugen. Wahrscheinlich war sein Name Sébastian. Sankt Sebastian, Schutzpatron der gleichgeschlechtlichen Liebe. Dirk zeigte auf den Flieder.

„Drei davon.“

„Sehr gerne! Benötigen Sie auch eine Vase?“

Woher wusste er, dass er die Zweige in eine Männer-WG und damit vermutlich in eine vasenfreie Zone brachte? Der Heilige Sebastian war wirklich ganz und gar im Bilde. Dirk entschied sich rasch für einen einfachen, gläsernen Zylinder. Alles zusammen für den wenig heiligen Preis von fünfundvierzig Euro. Verdammt teuer, dieses Paris.

Während er das Treppenhaus hinaufstieg, nahm er sich vor, Rahim weder Fragen zu stellen noch Vorwürfe zu machen. Die Entdeckung des Blumengeschäfts hatte ihn beflügelt. Als er auf dem Bett lag und der Flieder auf dem Schreibtisch seinen betörenden Duft verströmte, entwarf er in seiner Fantasie einen klassischen französischen Barockgarten. Im Zentrum er selbst, das Schloss, das es einzunehmen galt. Alle Wege liefen wie Strahlen auf diesen Mittelpunkt zu. Auf einem dieser staubigen Pfade würde Rahim zurückkommen, rastlos und voller Ungeduld.

Um zehn nach vier trat Rahim ins Zimmer und schloss die Tür. Während sein Jackett auf den einzigen Stuhl flog und er die Schuhe abstreifte, ohne die Senkel zu lösen, fiel sein erster Blick auf Dirk, der zweite auf die Blütenzweige. Dirk hätte viel zu sagen: dass er Flieder schon als Kind geliebt hatte, dass Flieder eigentlich aus der Gegend stammte, in der Rahim geboren wurde, dass er eine Allee aus Flieder für ihn pflanzen würde, quer durch Teheran oder Paris, wo immer er wollte, und dass sein Mund… Aber er flüsterte nur: „Happy birthday!“

Rahim grinste. Er lockerte den Gürtel, stieg aus der Hose, öffnete sein Hemd, Knopf für Knopf. Dirk war regungslos, sein Gaumen plötzlich trocken. Rahim, nun gänzlich entkleidet, warf auch die Socken hinter sich. „Komm, wir duschen!“ Er holte aus dem einzigen Schrank zwei Handtücher, wickelte eines grinsend um Dirks Hüfte, das andere um die eigene. Mit dem Zeigefinger vor dem Mund öffnete er die Tür, spähte hinaus, ein, zwei tapsende Schritte und beide waren im Bad. Unter dem heißen Strahl, der über ihre Leiber floss, schob Rahim seine Hand zwischen Dirks Zahnreihen. Je öfter Rahim „Chut! Chut!“ hervorstieß, umso weniger bekam Dirk sein Keuchen unter Kontrolle. Dirk griff mit beiden Armen hinter sich, umfasste Rahims Oberschenkel und drückte seinen Körper noch fester an sich. Er empfand nicht den leisesten Widerstand noch Schmerz, sondern nur Begehren, die Lust, mit Rahim zu verschmelzen. Rahim sollte das spüren.

Als sie später erschöpft auf dem Bett lagen und der Abend dämmerte, wurden sie durch die offenen Fenster von den Hinterhofgeräuschen in den Frieden eines ausklingenden Tages gehüllt. Während die Menschen in Dhaka um ihre Angehörigen weinten, die für C&A, Benetton und ihre Kunden gestorben waren, und viel zu viele Bewohner der Pariser Vorstädte ihre Hoffnungslosigkeit mit Pornos, LSD und Cognac erstickten, fielen in einem Hinterhof der Avenue de Saint-Ouen metallene Werkzeuge in unregelmäßigen Abständen klirrend auf den Boden und die gurrenden Tauben auf dem Dach schienen zwei Nachbarinnen zu imitieren, die sich von Fensterbank zu Fensterbank unterhielten. Wunderbar, dieses Paris.

Es klopfte.

„Das Essen ist fertig!“ Minhs Stimme.

„Das Essen ist fertig!“, imitierte Rahim seinen Mitbewohner und warf sich kichernd auf Dirk. „Und wehe, du stehst nicht sofort auf! Dann gibt’s Ärger mit Ho Chi Minh.“

Am gedeckten Tisch saß schon Amadou. Er klopfte Dirk herzlich auf die Schulter und machte beiden Platz, so dass Rahim und Dirk sich gegenübersitzen konnten. Die Küche war quadratisch und klein. Die Schräge des Dachs schränkte den Bewegungsspielraum über dem Tisch weiter ein. Aber sie sah nicht nach einem Junggesellen-Haushalt aus. Es gab Regale mit einer Unmenge an Geschirr. An jedem freien Fleck hingen Töpfe und Pfannen unterschiedlicher Größe und Form und eine Vielfalt an weiteren Kochutensilien. Rahim schien Dirks Gedanken zu lesen.

„Das hier ist Minhs Reich. Er arbeitet als Koch in der Nationalversammlung. Du darfst dich glücklich schätzen.“

„Es gibt grünes Curry-Huhn, Dirk. Magst du das?“, wollte Minh wissen.

„Sicher, sicher!“, beteuerte Dirk.

Der Tisch war vorbildlich gedeckt. Es gab sogar Stoffservietten, weiß wie Kirschblüten. Dirk mochte Stoffservietten. Er schnitt die Fingernägel ganz kurz, weil sich sonst von der Gartenarbeit immer Dreck darunter einfraß. Dadurch waren die Kuppen empfindlich. Er liebte es, mit frisch geschnittenen Nägeln über gestärkte Tischdecken, Bettwäsche und eben Stoffservietten zu fahren. Dankbar betrachtete er Minh, der emsig am Herd hantierte.

Die Badezimmertür ging auf und aus dem heißen Schwaden trat eine kleine, junge Frau im Jogging-Outfit, die ihre blond gefärbten Haare mit einem Handtuch nachtrocknete.

Salut, ich bin Wanda.“ Sie gab Rahim, Minh und Dirk die Hand. Amadou zog sie am Arm zu sich heran und küsste sie. Wanda schaute sich mit wachen Augen um, während sie ihren Kopf weiter frottierte. „Mein Gott, glotzt doch nicht so! Ich weiß, dass er andere hat“, rief sie vergnügt. Dann fügte sie kokett hinzu: „Ich hatte meinen Spaß.“

Amadou wirkte eher amüsiert als verlegen. „In meinem moslemischen Dorf würdest du jetzt dafür rausgeworfen“, tadelte er sie schmunzelnd.

„In meinem katholischen Dorf auch“, prustete Wanda.

Alle lachten. Minh füllte das duftende Essen auf, Amadou öffnete eine Flasche Rotwein für alle anderen und als alle am Tisch saßen und ihre Gläser hoben, riefen sie im Chor: „Tchin, tchin!“ Rahim stellte sein Glas ab und schaute Dirk tief in die Augen.

Wanda streckte sich kauend. „Mmh, das schmeckt toll. Danke, Minh! Ah, endlich Wochenende! Diese Stadt ist so anstrengend. Ganz ehrlich – Paris ist Stress pur, oder? Die Leute verdienen zu wenig, fahren zu lange hin und her, die Preise sind unverschämt, die Wohnungen megateuer und zu klein. Und du gibst jedem, den du auf der Straße oder in der Metro triffst, die Schuld dafür. Und immer mehr Überstunden. In der Telekommunikation bringt sich jede Woche einer um, weil er seine Vorgaben nicht erfüllt. Echt krank!”

„Liegt doch nur daran, dass Frankreich so tut, als gäbe es keine Globalisierung. Du wirst hier gleich gesteinigt, wenn du das Wort Reform nur in den Mund nimmst. Dabei fährt das ganze Land doch voll gegen die Wand“, empörte sich Amadou schmatzend.

„Ich finde, es geht nicht nur um die Wirtschaft“, erwiderte Wanda. „Die Krise geht tiefer. Guck dir doch mal die Scheidungsrate an! Die Hälfte von Paris ist Single. Ich glaube, in keiner anderen Stadt sind die Leute so einsam.“

„Stimmt! Ich hab' noch nie 'ne Frau vor Mitternacht kennen gelernt. Bis dahin seid ihr zugeknöpft“, beschwerte sich Amadou.

„Was heißt denn 'ihr'? Ich bin Polin. Vergiss das nicht!“

„Bei dem Akzent – wie könnte man?“

Wanda versetzte Amadou einen Stoß und lachte.

Nun schaltete sich Rahim ein: „Es färbt auf alle ab, die hier leben. Wenn du in Paris schwul und unter vierzig bist, willst du deine Unabhängigkeit. Ab vierzig will jeder 'ne Beziehung und stellt dann fest, dass er auf dem Fleischmarkt nichts mehr wert ist. Aber du musst ja erst einmal lernen, was das heißt, mit jemandem zusammenzuleben.“

Dirk betrachtete Rahim mit aufmerksamem Blick.

„Hört, hört!“, raunte Amadou, und plötzlich ruhten alle Augen auf Dirk.

Während Minh schweigend alle Gläser auffüllte, wollte Wanda wissen: „Und wie ist das in Deutschland?“

Dirk wusste nicht, was er antworten sollte. Er wollte eigentlich nur weiter zuhören. Er war fasziniert davon, was sich der draufgängerische Senegal, das kecke Polen und der inspirierende Iran zu sagen hatten. Und wenn das zurückhaltende Vietnam dazu stumm blieb, wollte Deutschland auch lieber schweigen. Dirk mochte einfach nur lauschen, wie sie diese Stadt und ihr Leben darin beschrieben, das ganz anders zu sein schien als die Gauloises-Reklame es ausmalte. Denn hier wurde ihm nicht die Welt in einem Zeitungsartikel oder mittels eines Youtube-Videos vermittelt. Hier saß die Welt vor ihm an einem Tisch. Und so antwortete Dirk nur knapp: „So ähnlich.“

Er war erleichtert, als Rahim das Gespräch wieder an sich nahm: „Habt ihr mal Baudelaire gelesen? Die Lyrik, die er Mitte des neunzehnten Jahrhunderts über Paris geschrieben hat? Er beschreibt einen Ameisenhaufen, eine Stadt aus Schlamm, die von Armut und Hunger beherrscht wird. Also entspannt euch – früher war es hier viel schlimmer.“

„Der Student der Literaturwissenschaft. Es gibt nichts, was er nicht weiß“, kommentierte Amadou mit Ironie und beugte sich zu Dirk. „Wie hältst du das aus?“

Dirk grinste in sich hinein. Stimmte schon, Rahim hatte eine große Klappe. Doch er fand es geistreich, was er zu sagen hatte. Sein Blick wanderte über Rahims Locken und Gesicht und verfing sich immer wieder an diesem Mund, der Minhs Gericht mahlend verarbeitete. Er aß so schnell wie er sprach, doch wenn Rahim ihn ansah, nahm er sich Zeit. Er hob erneut sein Glas und stieß nur mit Dirk an, als besiegele er damit einen Bund. Der schwere Merlot und das scharfe Curry verschmolzen auf Dirks Zunge. Er fühlte sich mit diesen vier Menschen in diesem winzigen Raum unter einem von Millionen Dächern von Paris lebendig. Ein warmes Gefühl des Glücks durchströmte ihn.

Wanda ergriff das Wort und wechselte das Thema: „Heute musste ich an diesen Schauspieler denken. Mensch, wie heißt der noch mal? Der, der immer in Trickfilmen synchronisiert!? Egal. In jedem Interview jammert er, dass er immer nur nach diesen Comicfiguren gefragt wird, aber nie nach seinen Theater- und Spielfilmrollen. Er tut mir echt leid. Also, ich denk gerade an ihn, weiß auch nicht warum und plötzlich gehen in der Metro die Türen auf und er kommt rein. Verrückt, oder?“

„Und? Hast du was gesagt?“, fragte Amadou.

„Mir fiel nichts ein. Was hätte ich denn sagen sollen? Ich hab gerade an Sie gedacht? Ich finde Sie auch als Schauspieler gut? Mir wurde klar, dass es keinen Trost für ihn gibt und ich besser das Maul halte.“

Amadou öffnete eine weitere Flasche Wein, Minh verzauberte alle mit Crème Brûlée mit Zitronengras, und als die dritte Flasche zu Neige ging und Amadou damit begann, Wanda zum Bleiben zu überreden, stand Rahim auf und gab Dirk mit einer winzigen Kopfbewegung zu verstehen, dass er ihm folgen sollte. Wie besessen stürzten sie sich erneut aufeinander. Dirk vergrub sich erst in Rahims wilden Haaren, dann zwischen seinen kräftigen Schenkeln. Er rechnete mit Widerstand. Doch Rahim wollte es auch. Sie liebten sich mit schwerem, schnellem Atem, aber schweigend. Dabei vergingen Stunden. Dann und wann hielten sie inne und badeten in den Augen des anderen. Dirk strich über Rahims Nasenrücken. Dankbar liebkoste Rahim Dirks Finger. Hin und wieder seufzte Rahim. Kein beseeltes, vor Glück berstendes Seufzen, sondern ein tieftrauriges. Dann schlossen sich seine Lider und öffneten sich lange Zeit nicht mehr.

Dirk wurde von den schweren Tropfen geweckt, die auf die verzinkten Dächer trommelten. Ein vollkommener Sonntagmorgen. Draußen sinnlicher, fast tropischer Regen. Drinnen Fliederduft und ein Arm um Rahims warmen Körper. Er schmiegte sich an die dunklen Locken, die auf dem weißen Kissen lagen. Doch mit einem Mal schob sich der letzte Abendzug vor das Bett. Dirk sah sich einsteigen. Allein. Ohne Rahim an seiner Seite.

Seine Gedanken wanderten weiter, zu einem anderen Moment seines Lebens, in dem er erst den Eindruck gehabt hatte, vom Schicksal geküsst zu werden, doch dann enttäuscht wurde. Er hatte Timo in einer schwulen Sauna kennengelernt. Sie verstanden sich auf Anhieb, hatten einen tollen Abend miteinander verbracht und Telefonnummern ausgetauscht. Dirk war sich sicher, dass sie sich wiedersehen würden. So hatten sie es jedenfalls verabredet. Dann kreuzten sich zwei Tage später zufällig bei einem Friseur im Bahnhofsviertel wieder ihre Wege. In dem Salon hing ein riesiges Schwarzweißfoto von Istanbul. Acht Friseure schnitten, rasierten und flammten abschließend die Haare in den Ohren wie am Fließband. Dabei tranken sie starken schwarzen Tee mit Würfelzucker aus kleinen, dünnen Gläsern, hörten R&B auf 1 Live und debattierten lauthals untereinander mit Hilfe eines Gemischs aus Deutsch, Türkisch und Arabisch, und alles über die Köpfe der Kunden hinweg – unbeteiligte, austauschbare Statisten bei diesem Spektakel. Dirk war es recht so. Er hasste Smalltalk beim Friseur. Er hasste es, nicht weg zu können und quasseln zu müssen. Er wollte seine Ruhe haben. Aber es gefiel ihm, wenn er sich zum Schluss vorbeugen musste und sie ihm den Kopf mit ihren kräftigen Händen schrubbten, das Shampoo aus seinem Gesicht wuschen, die Haare mit einem duftenden Frotteetuch trockenrubbelten und zur Krönung Eiswasser in seine Kopfhaut einmassierten. Dirk hatte schon ein Cape um, als er im Spiegel Timos Gesicht auf der anderen Seite entdeckte. Der war gerade fertig, stand auf, bezahlte und nickte Dirk beim Rausgehen fast unmerklich zu. Das war’s. Intimitäten, der Austausch sämtlicher Körperflüssigkeiten unter vier Augen – aber auf der Straße kannte man sich nicht mehr.

Rahim war inzwischen auch aufgewacht, drehte sich zu ihm um und räusperte sich: „Wie ist das, deine Arbeit?“

„Was meinst du?“

„Woher weißt du, was richtig ist? Mir würde das schwerfallen.“

Dirk überlegte und antwortete: „Da ist der Ort, die Lage, die Licht- und Windverhältnisse, der Boden. Die Vorstellungen der Kunden. Der Rest ist…“ Dirk suchte nach dem richtigen Wort und fügte dann hinzu: „Instinkt und Eingebung.“

Rahim presste die Lippen aufeinander und nickte anerkennend.

Es regnete den ganzen Tag. Am späten Nachmittag schauten sie sich auf dem Bett liegend im Fernsehen einen alten Schwarzweißstreifen mit Romy Schneider und Alain Delon an. Irgendwann wollte Dirk wissen: „Wer ist das auf dem Foto?“ Rahim schwieg und gab durch nichts zu erkennen, dass er die Frage vernommen hatte. „Wer ist der Junge auf dem Foto?“

Rahim zog seine Hand ruckartig weg. „Was geht es dich an!“, polterte er patzig. Seine Brauen waren zusammengezogen wie in dem Moment, als er auf das brennende Haus gestarrt hatte.

Dirk beschloss, nicht weiter zu insistieren und begann damit, sich anzuziehen und seine Sachen zu packen. Keiner von beiden sagte mehr ein Wort. So trotteten sie das knarzende Treppenhaus hinunter. Dirk setzte sich hinter Rahim auf dessen Moped und schloss die Augen, während Rahim sie durch den lärmenden Verkehr auf den regennassen Straßen manövrierte.

Beten – das war nicht Dirk. Gott war zu weit weg, zu ungewiss. Wie immer, wenn seine eigene Welt zu wanken begann, rief er an, was Wurzeln hatte und fest mit der Erde verbunden war. So hatte er mit der Kastanie gesprochen, die in der Schrebergartenanlage stand und in deren Krone er als Kind und Jugendlicher so oft gesessen hatte, als seine Mutter ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Und so nahm Dirk auch jetzt im Vorbeifahren Verbindung mit den Stämmen der mächtigen Platanen auf, die den Fahrtweg säumten. Am Gare du Nord streifte er sich den Helm ab und reichte ihn Rahim, der ihn zwischen seine Füße klemmte. Rahim löste auch seinen Helm vom Kopf. Erst blickte er zu Boden, dann schaute er fragend auf. „Bis nächste Woche?“

„Klar“, antwortete Dirk so selbstverständlich wie möglich.

„Salut“, erwiderte Rahim knapp, stülpte den Helm wieder über und gab Gas.

In dieser Minute

Подняться наверх