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Düsseldorf

Während Dirk durch die nächtlichen Straßen nach Hause ging, atmete er tief den süßen Duft blühender Weißdornbüsche ein. Der Regen hatte ihn auf seinem Wolkenzug von Paris gen Osten eingeholt und setzte nun träge ein. Er genoss die Tropfen auf seiner Haut. Sie fielen wie Rahims Worte, berührten ihn wie Rahims Hände und Lippen.

Einzelne dunkelhaarige Männer mit hochgezogenen Schultern und den Händen in den Hosentaschen kamen ihm auf dem Bürgersteig entgegen und eilten vorbei. Wohin gingen türkische Männer an einem Sonntagabend im Regen? Holten sie sich am Kiosk Zigaretten, trafen sie sich mit Freunden auf ein Karten- oder Brettspiel oder waren sie auf der Suche nach schnellem Sex, nach Liebe?

Die Hälfte seiner Einrichtung stammte von IKEA, einiges vom Sperrmüll. Er besaß auch ein paar Klassiker, skandinavisches Design, welches er dafür liebte, dass es organische Formen hatte und doch klar und nüchtern war – eine Nachbildung der Natur – wie die Stühle und Sessel von Arne Jacobsen, die er auf Ebay entdeckt hatte, oder wie der Teewagen und die Vasen von Alvar Aalto, die er bei einer Auktion von Fundsachen ersteigert hatte. Verrückt, was Leute in Zügen vergaßen!

Er trocknete Gesicht und Haare mit einem Handtuch und schaute dabei aus dem Fenster. Auf dem Sportplatz gegenüber seiner Zweizimmerwohnung wurde im Flutlicht immer noch Fußball gespielt. Es waren die Jungs von Makkabi. Er erkannte sie auch von weitem an ihren schwarzen Trikots. Ihm fiel ein, dass er jedes Mal, wenn er ihnen nahe genug war, mit seinen Blicken ihre Nasen abtastete. Etwas in ihm drängte ihn dazu, zu prüfen, ob sie die Form eines Hakens hatten. Juden-Nasen. Dumm. Abscheulich. Rahim hatte auch eine. Was sollte das? Und doch wusste er nichts dagegen zu tun. Es ließ sich nicht abstellen. Dieser unergründliche Drang zu kategorisieren in ihm war stärker als seine Vernunft. Wahrscheinlich galten auch ihm Blicke, die kein anderes Ziel verfolgten als auszumachen, ob etwas an der Art und Weise, wie er die Gießkanne hielt oder den Spaten ansetzte, ihn als Schwuchtel entlarvte.

Er warf sich aufs Bett, schob seine Hand in die Hose. Er zog Rahim aus. Nein, dieser zog sich für ihn aus. Lässig, ohne Hast, ohne auch nur einen Augenblick das Objekt seiner Begierde aus den Augen zu lassen. Ja, so wollte er ihn. Rahim öffnete sein Hemd, schälte sich aus der engen Jeans und kam näher. Und mit ihm seine Wärme. Sein Mund beugte sich über ihn und Dirk stöhnte vor Lust.

Vielleicht war Rahim nur eine Brise, die flüchtig das Gras streifte, das sich nach der Berührung aller Elemente sehnte. Doch Dirk wollte nicht glauben, dass sie sich zufällig begegnet waren. In so vielen Filmen kreuzten sich die Wege der Hauptfiguren, die aus unterschiedlichen Richtungen kamen und in unterschiedliche Richtungen gingen, weil es zu ihrer Geschichte gehörte, dass sie sich begegneten. Sie sträubten sich anfänglich dagegen, ihr Leben für den anderen zu öffnen, aber letztlich blieb ihnen keine Wahl. Sie erkannten, dass sie ihrem Schicksal nicht entgehen konnten. Warum sollte sein Leben nicht auch ein solches Drehbuch haben?

Am Morgen schien die Sonne. Der Frühling hatte die ganze Stadt erfasst. Dirk konnte ihn auf seinem Fahrrad sehen, riechen, fühlen. Mit einem Mal wirkte alles wie neu, ungesehen. Er jagte durch grünende Alleen, vorbei an Vorgärten, in denen die Köpfe blühender Narzissen und Tulpen im Wind schaukelten und um deren Blüten die ersten Bienen wetteiferten. Was für ein Genuss, die Straßenbahn ohne ihn fahren zu lassen! Er trat noch fester in die Pedale und atmete den Fahrtwind tief ein.

Da war schon der große, austreibende Walnussbaum neben dem Haus, dahinter der luftige, schulterhohe Wall aus Hainbuchen, in dem die braunen Blätter des Winters, die noch immer an den Zweigen hafteten, von spindelförmigen Knospen verdrängt wurden. Alles sah aus wie frisch geküsst und zu neuem Leben erweckt. Er erinnerte sich an den Moment, als er zum ersten Mal durch diese Hecke trat. In jener Minute ahnte er bereits, dass dies sein erster Pflegegarten sein würde. Der Montagsgarten.

Er wollte nicht bereits existierende Gärten erhalten – Hecken stutzen, Baumkronen zurückschneiden, Rasen mähen, Laub harken. Er wollte Gärten gestalten, wo es sein musste umgestalten, bestenfalls neu anlegen. Nach dem Prinzip der Natur, die er nachbildete. Und seine Kunden sollten ihm dabei weitgehend freie Hand lassen. So oder so ähnlich stand es in seiner Anzeige. Er hatte es diplomatischer ausgedrückt, als Angebot, aber unmissverständlich. Und dann schrieb als Erste Olga Laurent. Ehemalige Opernsängerin. Zweiundsiebzig. Den Rest sah er mit eigenen Augen: eine kleine, elegante Frau, weiße, volle Haare, wache Augen, geschmackvoll geschminkt, Perl-Ohrringe, eine malvenfarbene Bluse, Armreifen und Ringe aus Gold und Elfenbein, ein enger, schwarzer Rock, hohe Lackschuhe.

Sie schloss das gusseiserne Tor in der Buchenhecke hinter ihm. Beinahe wie ferngesteuert betrat er einen rechteckigen Rosengarten. Vor ihm Rabatte mit Strauch- und Zwergrosen. Metallschildchen gaben ihnen Namen. Alte Sorten. Dahinter wieder eine Hecke, dieses Mal nur kniehoch. Immergrüner Buchsbaum. Noch ein Durchgang. Zu beiden Seiten des Weges aufgeschüttete Hänge mit jeweils einem Dutzend Weinstöcken. Die weißlichen Triebspitzen hatten einen karminroten Rand. Gelbgrüne Jungblätter waren wie mit Spinnweben behaart.

„Chardonnay“, bemerkte Dirk knapp.

„Bravo, junger Mann! Bravo!“, rief die Gartenbesitzerin, erstaunt und begeistert zugleich.

Dirk konnte seine Neugier kaum zügeln. Er musste sehen, was noch kam. Der Weg machte zwischen blühenden Birnenquitten auf der einen, Schlehen und Sanddornsträuchern auf der anderen Seite nun eine unerwartete Biegung nach links. Dahinter wurde er schmal und schlängelte sich durch große organische Beete mit unzähligen Stauden. Es gab Hortensien, Pfingstrosen, Lavendel, Rittersporn, Stockrosen, Garten- und Schwertlilien. Dazwischen hatten weitere Blumen ihre Samen selbst ausgesät und längst ihre Köpfe herausgestreckt – Fingerhüte, Löwenmäulchen, Kapuzinerkresse, Lupinen, Ringel- und Kosmos-Blumen.

„Ein burgundischer Garten“, stellte Dirk fest.

„Alle Achtung!“, strahlte Olga Laurent und betrachtete ihn aufmerksam von der Seite. „Ich stamme von Hugenotten ab, wissen Sie. Mein Vater war ein sehr traditionsbewusster Mann. Er hat diesen Garten in den dreißiger Jahren entworfen. Gefällt er Ihnen?“

„So sollte ein Garten aussehen.“

Die Opernsängerin antwortete mit einem hellen, ansteckenden Lachen, das wie das Geläut von Glocken klang.

Ein alter Garten. Vor langer Zeit angelegt, heute wie natürlich gewachsen. Eine Landschaft. Hier gab es nichts, was umzugestalten wäre. Was für ein Glück! Was für ein Pech!

„Kommen Sie!“

Sie ging auf eine hohe Rotbuchenhecke zu und verschwand darin. Kurz davor machte der Weg erneut eine scharfe Biegung, jetzt nach rechts, so dass der Eindruck entstand, als befände man sich schon am Ende des Grundstücks. Dirk folgte ihr.

„Wow!“, entfuhr es ihm.

„Wunderschön, nicht wahr?“

Umgeben von weiteren Rotbuchenhecken stand ein leeres, rechteckiges Gewächshaus auf einem hohen Sockel aus rustikalen Ziegeln. Der Abstand zur Hecke betrug mehrere Meter. So drang selbst zur Sonnenwende im Dezember noch Licht hierhin, nicht aber der auskühlende Wind. Auch der First verlief sauber von Ost nach West – alles wie aus dem Lehrbuch. Die leicht gewellten Glasscheiben ließen den Schluss zu, dass das Treibhaus ebenfalls aus der Zeit vor dem Krieg stammte. Von der Holzkonstruktion und den Leisten, die die Scheiben hielten, blätterte weißer Lack. Dirk war gespannt, wie es roch. Die Gartenbesitzerin öffnete eine der beiden Flügeltüren. Sie traten ein. Dirk atmete tief ein. Kein Schimmel, kein Moder, das Gewächshaus roch einfach nur nach Erde. Ein grauer Natursteinweg, ansonsten war es völlig leer. Dirk schaute Olga Laurent fragend an.

„Adolf, mein bisheriger Gärtner, hatte keinen Sinn hierfür. Es ist immer noch gut in Schuss, nicht wahr? Kanadische Zeder! Mein Vater hat das Treibhaus genutzt, um Gemüse zu ziehen. Sie können hier schalten und walten, wie Sie wollen. Einverstanden?“

Sie hielt ihm ihre Hand hin. Dirk schlug ein.

„Wunderbar! Nun lassen Sie uns ein wenig plaudern, ja? Kaffee?“

Und schon eilte sie mit kurzen Schritten Richtung Haus. Dirk folgte ihr mit gebremstem Enthusiasmus. Plaudern. Die betagte Dame war verdammt gesprächig. Warum konnte er nicht einfach das Grundstück betreten und in Ruhe seine Arbeit machen? Ihr Reich war das Haus, seines der Garten. Gut, das war ein wenig antiquiert, ein Arbeitsverhältnis wie in der Klassengesellschaft des 19. Jahrhunderts. Aber eben ganz nach Dirks Geschmack. Er wollte sich um die Pflanzen kümmern, nicht den Ersatzsohn, Enkel oder sonst was für seine Kunden mimen.

Als er ihre Gründerzeitvilla durch die Terrassentür betrat, war er erstaunt, dass sie nicht nach einem alten Menschen roch, sondern nach Seife. Die Teppiche und Möbel wirkten schwer und kostbar. Eine Wand bestand vollständig aus einem Regal mit Büchern und Schallplatten. Überall Vasen mit frischen Tulpen, Narzissen, Hyazinthen. Einige Ölgemälde, viele Schwarz-Weiß-Fotografien mit Portraits von geschminkten Frauen und Männern. Schauspieler? Sänger?

„Setzen Sie sich, junger Mann!“, rief Olga Laurent und deutete mit dem Kinn auf einen großen Ledersessel, der auch in einem englischen Salon stehen könnte. Sie setzte sich ihm gegenüber und stellte gleichzeitig zwischen ihnen ein Tablett mit Kaffeekanne, Tassen, Zuckerdose und Milchtöpfchen mit Blumenmuster und Kokosmakronen ab. Während sie einschenkte, sagte sie fröhlich: „Sie werden Fragen haben, nicht wahr? Schießen Sie los!“

Dirks Blick wanderte durch ihr Gesicht, als stünden seine Fragen dort geschrieben. Eigentlich war doch schon alles geklärt. Sie hatte auf seine Annonce reagiert, die alle wesentlichen Angaben enthielt. Auch den Tagessatz. Er kannte jetzt auch den Garten. Was gab es da noch zu bequatschen?

„Reden ist nicht Ihre Stärke, nicht wahr?“, bemerkte sie schmunzelnd. „Das kenne ich bereits von Adolf. Ihr Gärtner seid Eigenbrötler.“ Olga Laurent fixierte ihn über ihre Tasse hinweg. Sie schien ihre kleine Provokation zu genießen. Dirk nahm einen Schluck und zuckte mit den Schultern. „Also“, fuhr sie unbeirrt fort. „Sie haben es nur mit mir zu tun. Einen Herrn Laurent gibt es nicht. Gab es nie. Habe ich auch nie vermisst.“ Sie lachte und klang dabei wieder wie eine Glocke. „Was noch? Ja. Ich möchte von Ihnen einfach nur saubere Rechnungen. Ich habe Geld genug. Mit Steuerbetrug belaste ich mich nicht.“

„Okay“, sagte Dirk und nahm wieder einen Schluck. Er wollte die Tasse sobald wie möglich leeren.

„Sie sind doch keine fünfundzwanzig, nicht wahr?"

„Sechsundzwanzig."

„Woher wissen Sie so viel über Gärten?“

Dirk blickte sich hilfesuchend im Wohnzimmer um. „Nun, die Lehre, nehme ich an…“, stotterte er und wusste, dass er nun kurz über seinen Schatten springen musste, wenn er vermeiden wollte, dass die feine Dame ihn für gänzlich gestört hielt. „Und ich bin in einem Schrebergarten aufgewachsen“, fügte er daher rasch hinzu.

„Wirklich?“, rief Olga Laurent interessiert. „Und wo ist dieser Garten?“

„Oberhausen.“

„Und Ihre Eltern haben ihn noch?“

Dirk nickte. Dann stellte sie ihre Tasse ab und betrachtete ihn wieder aufmerksam. Während sie beide schwiegen, bildete sich Dirk ein, dass sie nun mit sich selbst sprach: Lass für heute gut sein, Olga! Du hast es mit einem harten Brocken zu tun. Das braucht seine Zeit. Plötzlich schien sie sich einen Ruck zu geben: „Gut. Welchen Tag haben wir heute? Montag. Was halten Sie von montags? Passt Ihnen das?“

Sie konnte jeden Tag haben, denn sie war seine erste Kundin. Aber das sollte sie nicht wissen. Und so antwortete er trocken: „Ja, das geht.“

Nun, zwei Wochen später, stellte er sein Rad hinter ihrem Haus ab. Für das Gewächshaus hatte er eine Fuhre Mist und Rindenmulch bestellt. Beides wartete schon in großen Haufen draußen vor der Hecke auf ihn. Krümelige Komposterde fand sich reichlich auf dem Grundstück selbst, altes Laub auch. Er musste das Frühjahr hierfür nutzen. Alles andere konnte warten. Zuerst lockerte er den harten, völlig ausgetrockneten Boden auf, trug mehr als dreißig Zentimeter ab und ersetzte ihn durch das neue Erdgemisch aus Kompost, Blättern, Mist und Mulch. Als es Mittag wurde, erschien Olga Laurent vor dem Glashaus.

„Es gibt belegte Brötchen und Kaffee, junger Mann. Möchten Sie? Kommen Sie, leisten Sie mir Gesellschaft!“

Brötchen und Kaffee klang gut. Aber wenn er einmal angefangen hatte, arbeitete er am liebsten durch. Er schaute sich gerne selbst dabei zu, wie das, was er sich vorgenommen hatte, Schubkarre für Schubkarre Wirklichkeit wurde. Hatte sie nicht gesagt, er könne tun, was er wolle? Und jetzt störte sie ihn doch. Eifrig lief sie wieder voraus. Ein wenig missmutig trottete er hinterher. Gärtner sind Eigenbrötler, hatte sie gesagt. Diese Gleichung gefiel ihm nicht. Gärtnersein, das war eine Mischung aus Arbeit und Meditation, die der Anwesenheit eines weiteren Menschen nicht bedurfte.

Auf der Terrasse wartete nicht nur ein gedeckter Tisch, sondern auch eine Schüssel mit Wasser, Seife, Bürste, Handtuch. Sie hatte an alles gedacht. Er setzte sich auf einen der beiden Gartenstühle, sie schenkte ein und fragte vergnügt: „Und, was haben Sie mit dem Treibhaus vor?“

„Gemüse ziehen. Wie Ihr Vater.“ Damit griff er zu einem Brötchen mit Fleischwurst, biss hinein, nahm einen Schluck Kaffee und schaute erst auf, als er bemerkte, dass sein Gegenüber regungslos geworden war. Ihm blieb fast das Brötchen im Hals stecken, als er sah, dass ihre Augen sich mit Tränen gefüllt hatten, während ihre Hände matt in ihrem Schoss lagen. „Ist Ihnen das nicht recht? Sie haben doch gesagt…“

Sie schüttelte energisch mit dem Kopf, zog ein Stofftaschentuch hervor und schnäuzte sich. „Keine Sorge. Entschuldigen Sie bitte“, murmelte sie. Dann richtete sie sich auf und zwang sich zu einem Lächeln: „Ein Anflug von Sentimentalität. Das kommt in meinem Alter schon mal vor.“

„Wenn Sie keine Verwendung für Gemüse haben…“

„Doch, doch. Nur zu. Machen Sie sich keine Gedanken.“

Dann mümmelten sie an ihren Brötchen, schlürften an ihren Tassen, und schauten abwechselnd in alle Himmelsrichtungen, selbst zum Himmel und unter den Tisch.

„Ich glaube, das Wetter wird sich heute halten. Was meinen Sie?" Dirk brummte zustimmend. Er konnte nur noch an das Glashaus hinter den Hecken denken und stand unmittelbar nach Verzehr des zweiten Brötchens auf. Auch sie erhob sich. Ihr Lächeln war milde und bitter zugleich. „Sie machen das schon richtig, junger Mann. Nur weiter so! Lassen Sie sich durch die Launen einer alten Dame nicht irritieren! Ja?“

Dirk grinste gequält und stürzte davon, um die Glasscheiben des Gewächshauses mit einem Spachtel von Schmutz und Moosen zu befreien und anschließend mit dem Schlauch abzuspritzen. Mein Gott, was hatte er denn schon gesagt? Er folgte doch nur seiner Philosophie: Gemüseanbau war nun einmal die Bestimmung dieses Treibhauses. Dafür ist es angelegt worden, dafür sollte es auch wieder genutzt werden. Es ging um Respekt vor der Geschichte dieses Gartens, um Ehrfurcht vor dem Ort, darum, dieses vernachlässigte Glashaus wieder zum Leben zu erwecken. Für ihn war das ein ganz klarer Fall. Aber er hatte Olga Laurent tief berührt. Das war nicht seine Absicht gewesen. Sie musste ihren Vater sehr geliebt haben. Und obwohl sie selbst heute am Ende ihres Lebens stand, war sie nach wie vor sein Kind. Dirk wurde bewusst, dass seine neue Geschäftsidee auch ihre Tücken hatte.

„Das sind Swantje und Nikolaus. Swantje, Niko… sagt mal ‚Guten Tag’!”

Der Junge umfasste den Ball in seinen Armen noch fester und starrte zu Boden. Das Mädchen zog seine Augenbrauen zusammen und sah ihn böse an.

„Na, sagt mal…“, tadelte die Frau verunsichert ihre Kinder und versuchte die Situation rasch zu überspielen: „Ja, dann zeige ich Ihnen mal das Grundstück.“

Die zweifache Mutter war Karla Stör und gerade in einen Neubau eingezogen. Das Haus hatte ein Gesicht wie viele andere in der Straße und noch keine Seele. Vielleicht würde es nie eine haben, dachte Dirk. Aber das Gelände… riesig. Vielleicht acht- oder neunhundert Quadratmeter Brachland. Eine hohe, alte Ziegelmauer. Und nichts außer Brennnesseln, Löwenzahn, wuchernden Peitschen stachliger Brombeeren und drei großen Ulmen entlang der Mauer. Es war ihr Grundstück, das Karla Stör zu einer sicheren Kandidatin für den Dienstags- und Mittwochsgarten machte. Dirk zumindest hatte sich schon entschieden.

Karla Stör griff mit einer Hand in ihren braunen Pagenkopf und streifte ihre Haare nach hinten, mit der anderen machte sie eine fahrige Bewegung in Richtung Grundstück.

„Das war mal der Fuhrpark einer Spedition. Wir haben die Büroräume abgerissen und neu gebaut.“ Dann stemmte sie beide Hände in die Hüften und fügte mit Empörung hinzu: „Hier ist nie was gemacht worden.“

„Ich schau es mir mal näher an“, antwortete Dirk schnell und lief auf die Brennnesseln zu, in der Hoffnung, sie abschütteln zu können. Doch sie blieb dicht hinter ihm.

„Na ja, wir können keine großen Sprünge machen. Haben ja gerade erst gebaut. Aber wir haben gedacht, wir fangen mal an“, hörte er sie sagen. Sie sprach laut. Es sollte wohl auch bestimmt klingen. Aber auf Dirk wirkte es nicht überzeugend.

„Autsch! Verdammte Brombeeren!“, fluchte sie.

Dirk blieb stehen, blickte um sich und nahm Anlauf zu einer Offensive. „Die Ulmen müssen jedenfalls bleiben.“

„Die drei Bäume da?“, sie deutete mit dem Kinn in deren Richtung und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ja? Warum? Wir hatten eigentlich gedacht…“

„Stehen unter Naturschutz.“

„Ja, aber die nehmen ja total viel Licht weg.“

„Gesetz ist Gesetz.“ Karla Stör hatte nun dieselben Furchen auf der Stirn wie vorhin ihre Tochter. Dirk entschied sich für ein Ablenkungsmanöver. „Haben Sie sich mal die Blätter angeguckt? Die sind asymmetrisch angeordnet. Das ist ganz selten. Die jungen Blätter kann man sogar essen, Salat draus machen.“

Karla Stör schwieg. Dann sagte sie: „Ich weiß nicht. Muss ich auch mit meinem Mann besprechen.“ Ihre Stimme hob sich: „Machen Sie mal einen Entwurf?“

Dirk nickte. Gegen seine Überzeugung. Denn bei einem solch großen, unbekannten, nicht angelegten Gelände musste er doch erst einmal genau hinschauen, was der Boden hergab, die vorhandenen Pflanzen über seine Qualität verrieten. Dieses fremde Territorium musste er zuallererst behutsam entdecken und sich dem künftigen Garten mit Bauchgefühl nähern, bis der Charakter des Ortes Züge annahm, sich Preis gab. So würde er vorgehen. Aber sie wollte einen Plan.

„Ich schaue mich um, ja?“, sagte Dirk und wendete sich von ihr ab. Erleichtert stellte er fest, dass sie ihm nicht mehr hinterherkam, sondern auf die ungeliebten Ulmen zuging.

Also, die Ulmen blieben. Sie schotteten im Sommer den Verkehrslärm ab. In ihrem Schatten konnten Farne, Bärlauch, Akeleien, wilde Erdbeeren, Buschwindröschen wachsen. Ein Waldboden. Ja, das war gut. Aber was wurde aus den anderen siebenhundert Quadratmetern? In was mündete der Wald? Mit den Händen in den Hosentaschen und dem Blick auf den Boden durchkämmte er langsam die Wildnis. Neben Brennnesseln und Löwenzahn gab es auch Ampfer, Knopfkraut, Gänsefuß, Kamille, Vogelmiere, Breit- und Spitzwegerich. Die Spedition hatte ihre Fahrzeuge auf nährstoffreichen Boden geparkt. Wurde Zeit, dass man ihn zum Leben erweckte. Plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen. Vor ihm im Gras wärmte sich eine glänzende Blindschleiche in der Sonne. Und sofort durchfuhr ihn die Idee – der Bildband, der in seiner Küche stand, über Roberto Burle Marx, den Erfinder des tropischen Landschaftsgartens. Der Brasilianer deutschjüdischer Abstammung hatte kurz vor der Machtübernahme der Nazis sein Handwerk im Botanischen Garten von Berlin-Dahlem erlernt. Gärtnern war für ihn Malerei mit Pflanzen. Ja, das war es: Ein schmaler Pfad, der sich durch eine dichte, üppige Landschaft schlängelte. Ein Park mit organischen, geschwungenen Formen. Heimische Pflanzen, die durch ihre großen Blätter oder außergewöhnlichen Blüten und Früchte tropisch anmuteten, wie Mispeln, Eibisch, Funkien, Bergenien, Pestwurz, Rhabarber. Seerosen, Wasserlilien, Teichlinsen in Becken. Er hätte einen Luftsprung machen können, so beseelt war er von seinem Konzept. Dankbar betrachtete er die Blindschleiche, die nach wie vor bewegungslos den warmen Tag genoss.

Am nächsten Morgen händigte er Karla Stör seine Skizze aus, während er auf die Stiefmütterchen starrte, die sie auf die erste von ihm frei gelegte Fläche gepflanzt hatte. Er begann damit, weitere Brombeeren zurückzuschneiden, um an die Wurzeln zu gelangen. Nach einer halben Stunde erschien Karla Stör mit seinem Papier. Sie sah heute anders aus. Ihre Haare glänzten, sie trug Lippenstift und ein sommerliches Trägerkleid.

„Können wir das mal durchgehen?“ Er nickte kurz. „Was ist das?“, sie zeigte mit dem Finger auf das Ende der Waldzone an der Mauer. Auch ihre Stimme klang heute anders. Mädchenhafter.

„Der Kompost. Für Ihre organischen Abfälle.“

„Okay. Und das?“

„Eine Mauer aus Sandsteinen. Es gibt hier jede Menge auf dem ganzen Gelände verstreut.“

„Und wofür?“

„Abwechslung. Eine andere Vegetation. Eidechsen und Blindschleichen werden sich da ansiedeln. Das ist was für die Kinder.“

„Blindschleichen“, wiederholte sie tonlos. „Wo sollen die herkommen?“

„Die sind schon da.“

Karla Stör blickte sich unwillkürlich nach allen Seiten um und suchte den Boden ab. Dann brachte sie sich erneut in Position und stemmte wieder eine Faust in die Hüften. „Und wo sollen die Spielgeräte hinkommen?“

„Welche Spielgeräte?“

„Na, eine Schaukel, ein Klettergerüst oder so.“

Stahlgerüste in seinem Garten? Dirk versuchte sein Einsetzen zu verbergen. „Die sollten direkt am Haus stehen. Sie wollen die beiden doch im Blick haben. Kann ja schnell mal was passieren. Ist auch eine Frage der Bauordnung.“

Sie presste den Mund zusammen. Vielleicht überlegte sie schon, was sie ihrem Mann über das Ergebnis ihrer Verhandlungen mit dem Gärtner berichten sollte: Er hat sich in allen Punkten durchgesetzt? „Na ja, ich mache mir auch Gedanken über die Kosten…“, wendete sie ein und zuckte mit den Achseln.

Dirk horchte auf. Aha! Das war zwar die negativste Art der Zustimmung, aber hatte sie nicht gerade zu seinem Entwurf grundsätzlich ja gesagt? Jetzt hatte er sie ganz dicht am Köder. Gleich biss sie an. „Keine Sorge. Vieles kann man selbst ziehen. Jungpflanzen sind wesentlich billiger als ausgewachsene. Die Materialkosten für die Betonbecken sind lächerlich. Ich mache Ihnen einen Kostenvorschlag und dann sehen wir weiter, okay?“

Sie nickte und lächelte ein wenig gequält. Und dann bemerkte er, dass sie seinem Blick nicht standhalten konnte, sondern anfing zu blinzeln. Er war der Stärkere in diesem Ringen. Und er wollte diesen Garten verwirklichen. So zwang er sich fast zu Redseligkeit: „Bei so einem Großprojekt muss man einen Schritt nach dem anderen machen. Wenn Sie Geduld haben, können wir die Kosten ganz leicht im Zaum halten.“ Er sah sich um und fügte hinzu: „Der nächste Schritt sind erst einmal die Brombeeren. Die müssen so oder so weg, oder?“

Damit streifte er wieder die Handschuhe über und griff zu der Schere im Gras. Im selben Augenblick stand der Junge neben seiner Mutter und klagte: „Mama, ich hab Durst.“

Als die beiden zum Haus zurückgingen, beglückwünschte Dirk sich selbst zu seiner heutigen Gesprächsführung. Der Rest des Tages gehörte ihm und der Telenovela in seinem Kopf: Wildkräuter wurden zu Flamingoblumen, Drosseln zu Papageien, Regenwürmer zu Babyboas, jeder Gesteinsbrocken war Gesims einer Villa aus der frühen Kolonialzeit und er selbst Roberto Burle Marx. Rahim war der Großgrundbesitzer. Er trug einen Panama-Hut, eine Hose und ein lasziv aufgeknöpftes Hemd aus weißem Leinen. So wirkte seine Haut noch dunkler. Er schritt herrschaftlich das von Dirk geschaffene Paradies ab. Dann blieb er stehen und drang seinem Gärtner mit seinen schwarzen Augen tief ins Herz. Mit einem kleinen Wink lotste er ihn ins Haus. Meterlange Vorhänge schirmten das Tageslicht ab. Eine Hand, eine zweite, ein fester, warmer Körper schmiegte sich an ihn. Erregter, heißer Atem. Draußen krächzte ein Papagei triumphierend.

Bevor Dirk am Abend ging, pflanzte er noch die Stiefmütterchen in einen alten Tontopf, den er auf dem Grundstück gefunden hatte, und stellte ihn auf die Terrasse. Das war frech und riskant. Sie könnte ihm dafür den Laufpass geben und es auf Manager-Deutsch mit mangelnder Kundenorientierung begründen. Aber ihr Blinzeln und der Lippenstift wiegten ihn in der Sicherheit, dass sie es vorzog, wenn er blieb.

Jetzt nach Hause und die Stunden bis Freitagabend zählen? Nein. Er rief Stávros an und verabredete sich mit ihm zum Billardspielen in ihrer Stammkneipe am Worringer Platz. Stávros war mundfaul, was Dirk entgegenkam.

„Und – alles klar?“, fragte Stávros beiläufig, beugte sich über den grün bespannten Tisch, zog die Augen konzentriert zusammen und stieß die weiße Kugel quer über den Filz. Dirk brummte und nickte dazu. „Mit den Gärten – dat läuft gut an?“

„Ja. Und bei dir?“

„Hab nächste Woche so 'ne Scheiß-Klausur. Aber sonst alles im grünen Bereich.“

Sie kreisten stumm um den Tisch. Dirk war dankbar dafür, dass Stávros seine Einsilbigkeit erwiderte. Abwechselnd bestellten sie Altbier, indem sie den vorbeieilenden Kellnern ein Handzeichen gaben, immer mit festem Blick auf die Billardlandschaft. Während sie die Kugeln über den Tisch hin- und her klackern ließen, lief irgendwas von den Spice Girls. Der Nachbartisch, eine Gruppe ausgelassener, affektierter junger Männer, imitierte den Gesang theatralisch. Offenbar inspiriert durch diese Darbietung, schaute Stávros, während er den Spielstock in Position brachte, kurz auf und fragte: „Woran erkennt man einen schwulen Schneemann?“ Dann versetzt er der weißen Kugel einen kräftigen Stoß und raunte: „Die Karotte steckt im Arsch.“ Er kicherte heiser.

Dirk lächelte gequält. Es war eher eine Grimasse als ein Lächeln. Sie hatten nie darüber gesprochen. Warum auch? Vielleicht ahnte Stávros es und wollte es so herauskitzeln. Vielleicht hatte er auch keinen Schimmer. War auch egal. Dirk war der Witz peinlich. Auf einmal war alles peinlich. Die femininen Jungs nebenan. Stávros. Die Tatsache, dass er den Abend mit jemandem verbrachte, der ihm kaum etwas bedeutete. Ein Typ wie Stávros hätte vielleicht entgegnet: „Pass auf, dass du nicht gleich selbst 'ne Möhre im Hintern hast!“ Dirk jedoch richtete unbarmherzig seine Augen auf Stávros´ Zottelmähne, die Brustbehaarung, die aus seinem karierten Holzfällerhemd quoll, seine runden Schultern, die unsportliche Statur und beschloss heimlich seinen Rückzug. Diese Kneipe, die Spice Girls, Stávros – nie wieder. Alles verbrannte Erde.

Als sie sich genauso lässig verabschiedeten, wie sich begrüßt hatten – zum letzten Mal, aber das ahnte Stávros noch nicht – und Dirk mit dem Duft der blühenden Ligusterhecken entlang des Heimwegs allein war, wollte er vom Asphalt abheben und mit einem Satz in Rahims Arme fliegen.

Kenji Nemoto wohnte wie Olga Laurent und Karla Stör auch in Oberbilk. Einfach ideal! In einem schlichten, weißen Bungalow im Stil der Sechziger Jahre. Das leichte Mauerwerk und die dünnen Vordächer ließen das Gebäude fast schweben. Doch das Haus stand in einer Wüste aus wucherndem Giersch, Löwenzahn und Waschbetonplatten.

Dirk ließ seinen Blick über das Grundstück gleiten. Über den Jägerzaun des Nachbargartens wuchsen prächtige violette Fliederdolden herüber. Die Zweige waren so schwer bepackt, dass sie tief herunterhingen. Er dachte sofort an Rahim, schloss die Augen und atmete den Duft der Blüten ein. Ihm war, als müsse er taumeln, so stark und köstlich war der Geruch. Er könnte diese Blüten ansingen. Es gab für ihn kein besseres Rauschmittel, nichts, was mehr Verzückung stiftete. Der federleichte Duft von Blüten, der sich aus dunkler, fester Erde nährte, öffnete Räume, in denen die Schwerkraft für ihn nicht mehr galt – eine Tür ins Universum.

Nemoto hustete, tief und bronchial. Er war ein hagerer, etwas gehetzt wirkender Mann, verdiente sein Geld, indem er Landsleuten, die der deutschen Sprache nicht mächtig waren, bei der Ansiedlung in Deutschland half. Er besichtigte Wohnungen und Häuser, beauftragte Handwerker, wickelte Behördengänge ab, füllte Formulare aus, beriet bei steuerrechtlichen Fragen, begleitete seine Kunden bei Arztbesuchen. Ein Geschäftsmann. Dirk vermutete daher schwierige Verhandlungen, als er mit ihm das ungepflegte Grundstück abschritt, und legte sich seine Argumente zurecht. Er hätte sagen können: „Bungalows sind die bescheidensten Häuser der Welt. Ihr Wesen ist zurückhaltend. Sie wollen den Menschen mit der Natur versöhnen. Doch sie brauchen einen Garten dafür, der diese Bezeichnung verdient. Nur so kann das Haus über die großen Fenster auch die Natur in den Wohnraum holen.“ Stattdessen sagte er: „Hier muss ein japanischer Garten hin“, als schüttelte er etwas Lästiges ab.

„Warum?“, fragte Nemoto, der trotz des grauen Aprilhimmels eine große Sonnenbrille trug. Vielleicht um sein Alkoholproblem zu kaschieren. Doch die dunklen Gläser halfen nur auf den ersten Blick. Sein Atem verriet ihn.

„Der einzige Baum auf diesem Grundstück ist ein Ginkgo.“

Als Nemoto kurz mit den Achseln zuckte und „Okay“ sagte, konnte Dirk kaum glauben, so schnell ans Ziel gekommen zu sein. Das war einfach gewesen. So war es ihm am liebsten. Kein langes Schachern, kein endloses Hin und Her. Ein weicher, feuchter Händedruck des Japaners. Das war’s. Dirk hatte seinen Donnerstagsgarten. Er konnte sein Glück so schnell kaum fassen. Er durfte tatsächlich eine Landschaft schaffen, die seine eigene Handschrift trug. Der Japaner ließ ihn, den Deutschen, einen traditionellen japanischen Garten anlegen. Unglaublich!

Und so schritt Dirk gleich zur Tat. Während in Irak erneut in Gottes Namen fünfzehn Menschen bei Anschlägen getötet und Kinder zu Waisen wurden, maß Dirk die Fläche des Grundstücks mit langen Schritten aus. Dann hockte er sich auf einen Baumstumpf und übertrug sie auf Kästchenpapier. Es galt, die ganze Fülle und Schönheit der Natur einzufangen, eine beherrschte Ästhetik, die gleichzeitig das Ungezähmte einer Landschaft hatte. Eine zurückhaltende, minimalistische Gestaltung, die tiefe Ruhe erzeugte. Asymmetrie war wichtig, damit sich das Ganze aus keinem Blickwinkel vollends erschloss. Gleichzeitig musste der Garten aber von Wohnzimmer und Terrasse aus einsehbar sein.

Dirk hatte in dreißig Minuten alles Notwendige aufgezeichnet. In seinem Kopf war der Garten bereits angelegt. Den Blick auf die Straße würde dichter Bambus abschirmen. Ein wild und ursprünglich wirkender Rahmen. Um den Stamm des schattenspendenden Ginkgos setzte sich zeitloses Moos an. Neben dem Laubbaum, der seine gelb verfärbten Blätter im Herbst abwarf, stand eine Gruppe niedriger, immergrüner Kiefern – Augenblick und Ewigkeit. Ein unebener Weg, der die Wahrnehmung schärfte. Steinbrücken, die über Wasser aus Kies führten, der durch geharkte Linien Wellen vortäuschte. Inseln aus Thymian und großen Steinen, die wie liegende Hunde im Bachbett ruhten. Am Ende des Weges eine Bank umgeben von Kamelien, Rhododendren und Zwergazaleen – Gewähr für eine monatelange Abfolge weißer, rosafarbener, purpurner und violetter Blütenpracht. Darin zwei, drei Pflaumenbäume oder Kirschen, die blühten, verblühten, Früchte trugen, kahl wurden und wieder erblühten. Schweigen. Schauen. Frieden. Eine Zuflucht in einer Welt, in der Google freiwillig für die chinesische Regierung das Internet filterte, Microsoft auf Anordnung von Peking regimekritische Blogs sperrte und Yahoo verschlüsselte Benutzerdaten von Dissidenten übermittelte und so deren Verhaftung ermöglichte. Auch Nemoto musste Sehnsucht nach einem Ort haben, an dem er das alles vergessen konnte.

Als er dem Japaner die Skizze zeigte, sagte der nur wieder schnell: „Okay. Okay.“

Dirk erwischte sich dabei, wie er fast tadelnd seinen Kopf schüttelte. Wie konnte jemand nur so teilnahmslos sein! Es ging doch um seinen Garten. Und wenn das nicht zählte, ging es immerhin um sein Geld.

Und dann fügte Nemoto hastig hinzu: „Haben Sie das mit dem Boxer gehört?“ Dirk schüttelte nun tatsächlich mit dem Kopf. „In Japan soll ein Berufsboxer vier Leute umgebracht haben. Zwanzig Tage hat die Polizei ihn verhört. Ohne Anwalt. Sie haben ihn geschlagen und zur Unterschrift gezwungen. Natürlich hat er gestanden. Dem Richter hat er gesagt, dass er unschuldig ist. Doch er bekommt die Todesstrafe. Das war Ende der Sechziger. Heute ist der Mann siebzig. Er sitzt seit fast vierzig Jahren in der Todeszelle und ist fast verrückt geworden. Im Laufe dieser vierzig Jahre gab es in Japan etwa sechzig Justizminister. Keiner hat die Hinrichtung des Boxers autorisiert. Aber sie lassen ihn auch nicht frei. Können Sie sich das vorstellen?“ Dirk wusste nicht, was er sagen sollte. Ein Mörder, der wahrscheinlich unschuldig war. Ein Greis im Todestrakt. Was hatte das mit seiner Skizze zu tun? „Wenn Sie in Japan zum Tode verurteilt worden sind, kriegen Sie Einzelhaft. Sie dürfen weder mit den Wärtern noch mit den anderen Häftlingen sprechen. Zwei oder drei Mal die Woche können Sie eine halbe Stunde Sport treiben, getrennt von den anderen. Ansonsten sollen Sie möglichst regungslos in Ihrer Zelle sitzen. Jeder Tag kann Ihr letzter sein. Sie erfahren erst morgens, ob Sie ein paar Stunden später hingerichtet werden. Sie legen einen drei Zentimeter dicken Strick um Ihren Hals. Drei Beamte drücken auf je einen Knopf. Einer davon öffnet eine Falltür. Sie stürzen und brechen sich das Genick. Ein Arzt kontrolliert, wann Ihr Tod eintritt. Im Schnitt dauert es fünfzehn Minuten.“

Passte eine solch spirituelle Anlage überhaupt zu diesem Kunden? Hatte er sich nicht ein Bild von Nemoto allein auf der Grundlage gemalt, dass dieser aus Japan stammte und vor seinem Haus zufällig ein Ginkgo stand? Wie schlicht und klischeehaft. Er hatte seinem Kunden seinen eigenen Willen aufgezwungen. Das war wenig professionell.

Als könne er Dirks innere Stimme hören, sagte Nemoto: „Sie denken vielleicht, ich mache mir nichts aus dem Garten. Aber das stimmt nicht. Ich spreche nachts mit dem Ginkgo.“ Der Japaner nickte. Er nickte fast nach jedem zweiten Satz, als wolle er unter seine Worte einen doppelten Boden einziehen. Als wolle er sagen: „Das kannst du mir wirklich glauben!“ Und ohne eine Entgegnung abzuwarten, drehte Nemoto sich um und lief auf den Bungalow zu.

Merkwürdiger Typ, dachte Dirk und schweifte mit dem Blick zu dem Flieder auf dem Nachbargrundstück.

Der Freitagsgarten gehörte Heinrich Linßen. Er hatte den alten, knöchrigen Mann bisher nur einmal gesehen. Er erwartete Dirk an der Türschwelle. Im Rollstuhl. Grimmig.

„Das ist der Schlüssel zum Tor, dieser ist für den Schuppen, der öffnet den Keller – für den Wasseranschluss.“ Dirk nickte. „Noch Fragen?“ Dirk verneinte. „Gut.“ Heinrich Linßen fuhr den Stuhl zurück und schloss die Tür. Kein unnötiges Wort. Dirk war es recht so.

Ein verwildertes Grundstück. An den Rändern viel zu hoch geschossene Sträucher. Oben lange, zur Sonne strebende Triebe, unten kahl. Weiden und Haselnüsse, die wie mit ausgestreckten Armen in den Himmel zu wachsen schienen. Von Misteln fast aufgefressene Apfelbäume in hüfthohem Gestrüpp. Ein vernachlässigter Ort, der dringend seiner Zuwendung bedurfte. Als er es im Morgengrauen mit dem Distelwald in Heinrich Linßens Garten aufnahm, waren die Vorhänge im Haus noch zugezogen. Die kühle Aprilluft auf der Haut. Die aufgehende Sonne. Der Gesang der erwachenden Vögel. Das Vergnügen, zum Spaten greifen zu können, nicht gekrümmt vor irgendeinem Bürobildschirm zu hocken, sondern mit jeder Bewegung jede Faser seines Körpers zu spüren. Einfach herrlich! Während er in den Gärten von Olga Laurent und Karla Stör vor deren Besitzerinnen auf der Hut sein musste, versprach der Freitagsgarten von Heinrich Linßen ihm endlich das, was ein Garten sein sollte – eine Insel des Friedens, auch für den Gärtner. Von hier aus ging es nur noch unter die Dusche und dann in den Zug nach Paris.

In dieser Minute

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