Читать книгу Ronnys Flucht - Steinar Sörlle - Страница 5

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Ronny erwacht in seinem kleinen Zelt. Mit Traumbildern, die hängengeblieben sind. Er sieht den Stein, sieht ihn erneut fliegen. Lautlos diesmal. Durch das Fenster. Sieht Nicks Gesicht dahinter. Nicks wütendes, graues Gesicht. Der Stein und die Topfpflanze liegen am Boden. Die lauten Stimmen. Ronny stützt sich auf die Ellbogen und streckt den Kopf hinaus. Eine rote Sonne scheint durch die tiefen Wolken. Die Farbe breitet sich auf dem See aus. Einige Spatzen pfeifen. Viel zu laut und hoch, findet er. Wie das Quietschen eines Schubkarrenrades.

Er packt seine Sachen. Sieht vor sich den Zug, der im Tunnel verschwindet. Ronny hatte sich eine Weile am Bahnhof aufgehalten. Er wollte ja weiter. Aber als die Waggons am Bahnsteig einfuhren, meinte er, in jedem der Fenster bekannte Gesichter zu erkennen. Menschen standen vom Sitz auf und winkten ihm zu. So erging es ihm mehrere Male.

Danach hatte er hier sein kleines Zelt aufgeschlagen, direkt am Rande der Stadt. Doch nun wollte er weg, wollte weiter. Zu lange hatte er sich hier aufgehalten. War ziellos im Zentrum herumgestreunt. Hatte Geld abgehoben und etwas eingekauft. Es war wie im Traum. Oder wurde er langsam wahnsinnig? Denn er hatte den Vater um eine Straßenecke biegen sehen. Als die Gestalt deutlicher wurde, war er es doch nicht. Das nächste Mal kam der Vater aus einem Photogeschäft und wurde noch schneller zu einer anderen, fremden Person. Beim dritten Mal redete Ronny mit ihm, bevor er zu nahe kam. Ich sehe dich schon, sagte er zu sich. Obwohl er wußte, daß es nur Einbildung war. Später aß er an einem Ort zu Mittag, den er meinte, einmal mit ihm zusammen besucht zu haben. Er zeichnete den Vater auf die Serviette. Er bekam so feine Falten. Wie Zweige an einem Baum. Man konnte sie gut aufs Papier bekommen. Merkwürdig war nur, daß der Vater so ärgerlich aussah. Er schien zu sagen: «Was ist das für ein Quatsch. Flucht? Mach, daß du nach Hause kommst, du Narr. Nick ist gar nicht so schlimm!»

Ronny bricht das Zelt ab, packt alles ein. Geht an der steil aufragenden Bergwand entlang zur Stadt. Sie scheint über die nächsten Häuser zu hängen. Konnte jeden Augenblick kippen. Aber alle Menschen gehen friedlich herum. Als seien sie gedopt, denkt er. Ronny steuert wieder auf die Post zu. Er wollte schließlich nach Kopenhagen und in den Freistaat! Bisher hatte er jedesmal hundert Kronen geholt. Hat Angst, mehr Geld bei sich zu tragen.

Schon vorher ist er mehrmals an einer Gruppe im Park vorbeigelaufen. Jetzt stehen sie wieder da, sehen nicht sehr vertrauenserweckend aus. Sie rauchen. Ist es Hasch? Bierflaschen machen die Runde.

«Bist ’n du für ’n Typ? Suchste was?»

Ein Kerl, der am Rande der Gruppe gestanden hat, nähert sich. Ronny erkennt ihn wieder. Hat versucht, Geld zu schnorren, als er voriges Mal vorbeiging.

«Isses unser Krösos? Heut haste aber ’n paar Kröten? Nur für mich, ha? Hab ’nen verdammten Hunger.»

Der Kerl ist schon erwachsen, aber nicht alt. Trägt Lederjacke und Jeans. Hat langes Haar und ein blasses Gesicht mit Bartstoppeln. Jetzt tastet er mit dunklem Blick Ronny ab.

«Hör zu, Kleiner. Ich seh, daß du abgehaun bist. So verrückte Burschen riech ich auf Meilen. Hast Angst, merk ich an deinen Augen. Spielst Tourist, was? Ham se dich rausgeschmissen? Aus der Penne und alles?» Er beugt sich vor. «So hat’s bei mir auch angefangen. Schon viel gutes Essen auf der Hose, was?» Ronny guckt an sich herunter. Sieht nur zu deutlich die Flecken. «Feinen Scheitel haste.» Der Kerl lacht. «’N paar Groschen für ’n Pils wirste doch haben?» Da rennt Ronny davon. «Komm morgen wieder!» ruft ihm der Kerl nach.

Ronny betritt unsicher die Post. Bisher ist alles gut gegangen. Ob sie inzwischen eine Vermißtenanzeige aufgegeben haben? Er füllt den Schein aus. Die Schrift wird groß und krakelig. Ähnelt eher den Buchstaben eines ABC-Schützen oder dünnen, knorrigen Zweigen. Das kommt vom Zittern, sagt er zu sich. Er zerreißt den Schein in kleine Fetzen und füllt umständlich einen neuen aus, diesmal in Blockbuchstaben.

Heute sieht ihn die Frau hinter der Scheibe an. Verdammt, warum bin ich bloß an den gleichen Schalter gegangen, schießt es Ronny durch den Kopf. Das war wegen der blöden Nummer, die er ziehen mußte. Schalter zwei. Bingo! Dieselbe Frau dreimal hintereinander. Sie schreibt langsam auf einen Zettel, dann schiebt sie seine Karte in den Computer. Da drinnen summt es. «Nein, er will sie nicht», sagt sie und lächelt, aber nur mit dem Mund, stellt Ronny fest. Ihre Augen mustern ihn. Scheinen größer zu werden. Ronny sieht nur große, blaue Augen.

«Nein», sagt sie wieder. «Tut mir leid. Da ist ein Fehler in der Anlage. Kari!» sie ruft hinüber zum nächsten Schalter. «Bist du on line? Ja?»

Sie steht auf und geht nach nebenan. Dort stecken sie die Köpfe zusammen.

Sie werfen einen raschen Blick auf Ronny. Dann bücken sie sich nach etwas weiter hinten auf dem Tisch und reden weiter.

Liegt da nicht eine Zeitung? Ronny reckt sich. Natürlich! Sie deuten darauf!

Hau ab, Ronny, hau ab! dröhnt es in seinem Kopf.

Die Frau kommt wieder an seinen Schalter. Ronny steht da. Noch gibt es die Glasscheibe zwischen ihm und denen da drinnen. Sehen sie so aus, als hätten sie etwas vor? Nein.

Jetzt lächelt sie ihn freundlicher an. «Ich bin neu hier, verstehst du.» Ihr Blick ist wachsam, prüfend. «Wenn du das nächste Mal kommst ...»

Ronny zuckt erneut zusammen.

Aber da summt es im Computer. Die Karte kommt ordnungsgemäß heraus, und die Frau lächelt in gespielter Erleichterung. «Na, jetzt hat es geklappt. Jetzt bist du registriert.» Das wirkt auf Ronny wie eine Drohung. «Registriert». Sie schiebt ihm das Sparbuch und einen Hunderter hin. «Irgendwann funktioniert es immer, weißt du», sagt sie, legt den Kopf schräg und versucht ihn aufmunternd anzulächeln.

Draußen auf der Straße brauste es in Ronnys Kopf. Warum zum Teufel hatte er nicht mehr abgehoben? Wie konnte er nur so dumm sein? Warum hatte er nicht eine Null angehängt? Wie er es vorgehabt hatte? Er betrachtete den Hunderter. Der reichte gerade fürs Essen. Und das Geld für die Fähre von Oslo aus? In die Post würde er sich kaum noch einmal hineinwagen. Zuerst mußte er jedenfalls die Zeitungen lesen. Nachsehen, ob tatsächlich bereits eine Vermißtenanzeige vorlag. Eigentlich glaubte er nicht daran. Sie hatten auch früher nie Krach geschlagen, wenn er ein paar Tage weg war. Ronny ging die Straße hinunter und schräg hinüber zum Kiosk. Zögernd trat er heran, schnappte sich das Lokalblatt und das Dagbladet, steckte beide ein und bezahlte.

Nach ein paar Schritten blieb Ronny stehen. Zog langsam die Zeitungen aus der Tasche und blätterte darin, während er den Bürgersteig entlangging.

«Na, haste jetzt Kohle?» Ronny schaute direkt in ein Paar braunschwarze Augen. Er zuckte zusammen. Sahen sie ihn nicht drohend an?

«Erschrocken, was?» grinste der Kerl aus dem Park. «Ein paar Kröten kannste doch rausrücken, wennste mit Hundertern wedelst? Los, sei kein Frosch, dann verpfeif ich dich nich.»

Ronny wollte weglaufen, war aber nicht dazu imstande. Er spürte, wie ihn eine schleichende Lähmung befiel. Als sei er bereits so gut wie gefangen. Er kramte in der Hosentasche nach einigen Zehnermünzen und gab sie schnell dem Kerl.

«Mehr haste nich?» Der Kerl sah ihn vorwurfsvoll an. «Na ja, dank dir, Kumpel.» Er schlang unversehens seine Arme um Ronny, als würde er ihn umarmen.

«Nein!» schrie Ronny. Plötzlich kam wieder Leben in ihn. «Hör auf, mich zu verfolgen! Verstehst du! Schluß damit!» rief er und marschierte schnurstracks die Straße hinunter.

Ronny ging in einen Supermarkt. Kaufte Brot und Milch und eine Dose Labskaus. Draußen blieb er stehen, war ratlos. Die Frau an der Kasse hatte ihm sechzig Kronen herausgegeben. Das war alles, was er besaß. Wieder dachte er an die Post. Aber es war, als würden seine Schuhe festkleben, wenn er versuchte, diese Richtung einzuschlagen. Nimm dich zusammen, sagte er zu sich und tastete nach dem Sparbuch in der Gesäßtasche. Fast wie eine Gewohnheit. Aber die Hand griff ins Leere. Da stimmte etwas nicht. Er suchte fieberhaft in allen Taschen. Nein, es war und blieb verschwunden.

Da fiel es ihm ein. Die Umarmung! Die dankbare Umarmung des geschwätzigen Schnorrers. Konto sperren, fiel ihm sofort ein. Ha, dann kam er selbst auch nicht mehr weiter.

«Du mußt ihn finden, Ronny», sagte er zu sich selbst. Aber er war erst mal zu schlaff, irgend etwas zu unternehmen. Er suchte sich unten am Hafen eine Bank und setzte sich. Blätterte in der Zeitung, unfähig, ein Wort zu lesen. Saß da und hörte die Möwen schreien, immer hysterischer.

Er war kurz davor, sich die Ohren zuzuhalten. Da entdeckte er es. Etwas Bekanntes. Er mußte sich die Augen reiben, um klar zu sehen. Das Bild. Das war er selbst. «Junge aus dem Elternhaus verschwunden», stand darunter. Ronny schloß die Augen. War das schon das Ende? War sein Ausrücken vorbei? Er sank erschöpft auf die Bank und heulte.

«He, hör auf zu flennen», flüsterte es hinter ihm. «Da haste dein Buch. Wollte mir bloß ’n paar Scheinchen holen, jetzt sin se hinter mir her. Das Scheusal am Schalter hat die Bullen gerufen.»

«Du kannst es behalten, du Blödmann.» Ronny sprang auf. «Du Blödmann! Du Blödmann!» In seiner Verzweiflung ließ er seine ganze Wut an dem Dieb aus.

«Ich brauche es nicht mehr. Hörst du. Ich brauche es nicht mehr», schrie er.

«Wie meinste das?» zwinkerte der Dieb. «Ich wills nich, hab ich gesagt. Mach mal halblang, du bist ja völlig durchgedreht.»

«Verdammter Idiot!» schrie Ronny. Tränen liefen ihm aus den Augen. «Da, schau her.» Er hielt die Zeitung hoch.

«Ach du Scheiße», seufzte der Dieb. «Jetzt hocken wa im selbn Boot.»

Ronnys Flucht

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