Читать книгу Ronnys Flucht - Steinar Sörlle - Страница 7
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ОглавлениеFünf Minuten vor acht standen sie vor dem großen Einkaufszentrum, direkt da, wo man zur Stadt abbiegt.
Ronny und Flekken hatten die Wartezeit hinter einem Bretterstapel im Hafen verbracht. Dort hatten sie kalten Labskaus gegessen und gefroren. «Besser is das Leben nich», hatte Flekken geantwortet, als Ronny mit den Zähnen klapperte. Aber später zog Ronny seinen Schlafsack heraus und legte ihn über die Beine von beiden. Flekken rückte näher. Es schien, als lebte er auf und würde munter. Er legte Ronny eine Hand um die Schulter. Ronny wußte nicht, ob er das mochte, blieb aber sitzen.
«’N echter Gewaltmarsch», keuchte Flekken, als sie beim Einkaufszentrum ankamen. «Muß wieder Wärme in mich kriegen. Schlau von mir, ’n paar Meter vor dir gehen, da sieht uns keiner zusammen», sagte er mit einem seltsamen Lächeln.
Sie schlurften hinüber zu dem großen Parkplatz mit den Fahnenstangen. Stapften an dem langen Steingebäude entlang. An der Ecke hielt Flekken an und guckte vorsichtig. «Dacht ichs doch. Sie laden den Laster ab. Wenn er wegfährt von der Tür, sin wir drin.» «Drin?» fragte Ronny.
«Achtung, er fährt. Los, hinter mir her. Renn!» Flekken winkte dem Fahrer zu. Aber sehr vorsichtig, kam es Ronny vor.
Der Lastwagen gab Gas. Während er an ihnen vorbeirollte, hielt Flekken Ronny am Arm fest. «Wir müssn rein zum Warteraum», sagte er heiser und schnell. «Es gehn noch mehr Züge.» Der Lastwagen war noch nicht weg, da hatte Flekken eine Eisentür geöffnet und Ronny hinter sich her gezogen.
Ronny und Flekken hockten in einem dunklen Verschlag. Nur durch einen schmalen Spalt unter der Tür fiel Licht herein. Erst nach einer Weile konnten sie einander erkennen.
«Warmes Plätzchen zum Warten, was!» meinte Flekken. «Willst wohl wissn, wies weitergeht? Wo wa hinwolln, da kommen wa hin, glaub dem Flekken.»
Genau das tat Ronny nicht. Er hatte schon lange ein ungutes Gefühl, worauf er sich da eingelassen hatte. Jetzt fühlte er sich unwohler als je zuvor. Er wetzte unruhig hin und her.
«Warten wir wirklich auf einen neuen Lastzug?»
«Scht! Red nich so laut. Hier mußte flüstern, du Trottel!» erwiderte Flekken. «Klärt sich alles.»
Ronny war davon nicht so überzeugt. Er rätselte, wie es wohl zu der Vermißtenanzeige in der Zeitung gekommen war. Hatten die vielleicht in der Schule angerufen?
Ronny sah Studienrat Sjønningsens besorgten Blick über den Brillenrand. «Du wirst wohl einmal ein Kunstmaler, wie dein Vater. Wenn du dasitzt, zeichnest du entweder oder du träumst. Eigentlich bist du die ganze Zeit woanders, du entfliehst mir.»
Ronny spürt einen kleinen Stich in der Brust. Hinten im Aufsatzheft hatte er eine Karikatur von ihm gezeichnet. Aber Sjønningsen lachte nur. «Diese Zeichnung hat mit uns beiden eine gewisse Ähnlichkeit», sagte er. «Den ängstlichen Ausdruck habe ich schon einmal gesehen. Bei dir.» Eigentlich mochte Ronny diesen Studienrat Sjønningsen. Er zeigte Interesse. Hat sich auch manchmal Ronnys andere Zeichnungen angeschaut und genickt. «Ja, ja, du scheinst beim Zeichnen ein sicheres Gespür zu haben. Sie werden dich vor so manchem bewahren, deine Bilder», nickte er. «Sagen viel darüber aus, wie es dir geht.»
Sjønningsen war einer der wenigen Menschen, die wirklich etwas sahen und begriffen, dachte Ronny. Ebenso wie Rita, seine Freundin. Sie wußte alles. Am Abend, bevor er sich davonmachte, war er mit ihr zusammengewesen.
«Ich haue bald ab», hatte er gesagt.
«Und was ist dann mit mir?» fragte Rita traurig.
«Dich verlasse ich nie ganz», antwortete Ronny. «Ich rufe an oder schreibe.»
«Ich muß nach Hause», sagte Rita. Sie beugte sich zu ihm und gab ihm rasch einen Kuß. Er spürte einen Moment ihre weichen Brüste und hielt sie fest. Die Wärme ihrer braunen Augen drang tief in ihn. In dem Augenblick wollte er nicht abhauen.
Ronny saß in dem dunklen Verschlag und wärmte sich an Ritas Blick. Jäh wurde er aus seinen Träumen gerissen: Die Tür wurde einen Spalt geöffnet.
«Ist es hier?» rief eine Männerstimme.
Flekken packte Ronny am Arm. Seine Augen flackerten angstvoll im Finstern. Ronny war davon überzeugt, daß seine Flucht beendet war. Hier und jetzt. Er konnte ebensogut aufstehen und seinen Namen nennen.
«Nein, das ist nur die Besenkammer. Die Reinigungsmaschinen für die Böden stehen da auch», antwortete eine Frauenstimme weiter weg. «Wir sollen nur die Regale auffüllen. Das muß reichen.»
Die Tür wurde wieder geschlossen.
«Das war knapp», stöhnte Flekken. «Hätte für unsereins ’ne ganz andre Reise werden können.» Erleichtert blies er einen übelriechenden Atem aus.
Erschrocken und wütend flüsterte Ronny:
«Behalte das, was du im Magen hast, für dich. Du brauchst nicht so deutlich darauf hinzuweisen, wie grausig es da unten aussieht. Du verfaulst wohl von innen her?»
«Ja», erwiderte Flekken flüsternd.
Sie waren nun fast eine Stunde in dem Verschlag gehockt. Ihre Arme und Beine wurden langsam steif, und Ronny fragte sich, wohin sie der Lastwagen bringen würde. Was weiter geschehen würde. Er hatte nicht den Eindruck, als sei Flekken der große Organisator. Aber er hatte etwas von Kopenhagen gemurmelt. Oder hatte er sich verhört? Ronny hatte nur vorsichtig gefragt.
«Los, es is soweit.» Flekken sprach so plötzlich und wieder mit lauter Stimme, daß Ronny zusammenzuckte. Flekken öffnete die Tür. «Ja, die Luft is rein. Der Laden is aufgeräumt. In ’ner halben Stunde geht’s los mit dem Bodenputzen, da möcht ich nich mehr auf den Reinigungsmaschinen hocken.»
Sie kamen hinaus auf einen Korridor mit glattem Bodenbelag. An seinem Ende befanden sich zwei Schwingtüren aus dickem Kunststoff.
«Daß ihre Verpackungskisten nich verkratzt wern», erklärte Flekken. Er zog Ronny hinter sich her, schob sich mit dem Rücken durch die Kunststofftür. Auf der anderen Seite blieb er stehen und öffnete eine normale Tür auf der rechten Seite des Korridors.
Da standen sie auf einmal im Supermarkt.
«Wir sind den falschen Weg gegangen», sagte Ronny.
«Nix», antwortete Flekken. «Wir sin genau richtig, wenns nach Kopenhagen gehn soll. Komm.»
Ronny folgte zögernd.
Sie gingen durch die Lebensmittelabteilung in einen großen Raum mit Gartenmöbeln und Haushaltswaren.
«Derselbe Besitzer», erklärte Flekken. «Drum is nix abgesperrt. Da», fuhr er fort und zog eine Leiter aus Leichtmetall heraus.
Ronny blieb stehen. Hier sollten sie sich verstecken, um dann wieder nach draußen zu fliehen? Was ging in dem Kopf von dem Kerl bloß vor? Oder stimmte es, was er sagte, daß sie später mit einem Lastzug hier wegkämen? Flekken grinste.
«Guck nich so blöd. Wir müssn rauf in die Höh, dann gehts weiter. Hab diese Route ausprobiert. Is bombensicher.»
«Keine Flucht ist bombensicher», antwortete Ronny. Bei sich dachte er: Und ich bin knapp davor, mich genauso verrückt zu benehmen wie nach dem Aussteigen aus dem Intercity. Fange wieder zu phantasieren an. Er zögerte. Wollte zurücklaufen. Wieder raus.
«Komm schon. Wir ham nich so lang Zeit.» Flekken schubste ihn vorwärts.
Jetzt gingen sie zurück in die Lebensmittelabteilung. Bei einer der größten Tiefkühltruhen blieb Flekken stehen.
«Da. Halt fest und zieh!» Er hielt Ronny das eine Ende der Leiter hin. «Zieh schon, los!» Sie zogen, jeder an seinem Ende, und die Leiter wurde länger und länger. Es war eine Teleskopleiter. Sie bestand aus mehreren zusammenhängenden Teilen und war ziemlich lang ausziehbar. Das sah Ronny jetzt.
Erstaunt stand er da und schaute zu, wie Flekken sie zur Decke richtete. Die Leiter war genau zehn Zentimeter zu lang. Aber Flekken lachte nur und stieß gegen die Decke. Da hob sich oben eine Platte.
«Da gehts rauf zur Freiheit», grinste Flekken. Er kletterte hinauf. «Komm nach», sagte er. «Gleich wirste sehn, was du nich mal geträumt hast.»