Читать книгу Warrior & Peace - Stella A. Tack - Страница 15
Sie waren mächtig, unsterblich, gelangweilt und hatten eindeutig zu viel freie Zeit
Оглавление»Du wirst zurück in die Menschenwelt gehen! Deine Mutter wurde bereits benachrichtigt. Sie wird wissen, was zu tun ist. Hier unten kannst du zumindest nicht bleiben!« Aufgebracht lief Hades im Salon auf und ab. Sein Gesicht war eine kalte Maske des Grauens. Bei jedem wütenden Schritt waberten dunkle Wolken um seine Füße. Persephone hatte sich derweil auf einem rotgoldenen Diwan niedergelassen und trank genüsslich Ambrosia. Es war bereits ihr fünftes Glas.
»Nun übertreib aber nicht, mein Lieber! So berauschend ist dieser Geruch nicht. Er stinkt beinahe …«
»Mach dich nicht lächerlich, Persephone! So etwas habe ich seit Jahrtausenden nicht mehr gerochen und wenn die Vampire Interesse an ihr bekommen, ist es nicht mehr sicher genug für sie hier unten!« Hades schüttelte heftig den Kopf. »Nein! Aphrodite weiß, was zu tun ist. Bis dahin wirst du die Unterwelt nicht mehr betreten, hast du mich verstanden, Warrior?«
»Ja, Daddy«, murmelte ich kleinlaut. Ich durfte die Unterwelt zu meiner eigenen Sicherheit nicht mehr betreten? Kein Problem! Leider würde mich das von Madox trennen.
Er hatte sich nach Spades Enthüllung – Die Vampire der Unterwelt sind hinter Warriors blumig duftendem Hintern her! – und Hades’ zwangsläufig folgendem Ausraster hinter mir aufgebaut und funkelte jeden finster an, der mir zu nahe kam.
»Na und?«, schnaubte er soeben und verschränkte die Arme vor der Brust. Seine Flügel raschelten aufgeregt. »Was hat es schon zu bedeuten, dass sie nach Blumen riecht? Es schadet doch niemandem. Mutter hat auch einen lebenden Blumengarten auf ihrem Kopf.«
Hades warf seinem Sohn einen vernichtenden Blick zu.
»Stell dich nicht dümmer, als du bist, Sohn. Wenn selbst ihr Geruch anziehend wirkt, müssen wir sie von der Umwelt isolieren. Sie könnte alles ins Chaos stürzen. In ihr schlummert viel mehr Zerstörungskraft, als diese Idioten vom Olymp anerkennen wollen. Aphrodite sollte es ebenfalls besser wissen. Sie konnte es noch nie leiden, von einem ihrer Kinder in den Schatten gestellt zu werden.«
Schnaubend riss Persephone die grünen Augen auf. »Nun übertreib nicht schon wieder so maßlos, Hades. Die Kleine ist doch nur ein Mensch!« Sie sah unendlich genervt aus und schien es nicht lassen zu können, ständig die Nase zu rümpfen, als würde etwas schlecht riechen.
Hades starrte mich aus intensiv lila leuchtenden Augen an. Unruhig rutschte ich auf meinem Hintern herum. »Vielleicht ist sie ein Mensch …«, sagte er gefährlich leise. »Vielleicht aber auch … nein! Ich werde im Olymp einen neuen Arzttermin beantragen.«
»Glaubst du … bin ich krank?«, fragte ich besorgt, während Hades sich schwerfällig in seinen Ohrensessel fallen ließ. Seine Flügel hingen kraftlos herab.
»Ich weiß es nicht, Kind. Wir werden sehen. Bis dahin halte dich zurück. Ein weiteres Missgeschick werde ich dir nicht durchgehen lassen. Jetzt geh! Ich will dich nicht mehr sehen!«
Mir schnürte sich die Kehle zu. »In Ordnung. Auf Wiedersehen, Daddy. Gute Nacht, Persephone.« Schnell verließ ich den Raum und strebte zum Ausgang. Eine warme Hand hielt mich kurz vor den großen Flügeltüren auf.
»Hey, Prinzessin, warte! Ist alles in Ordnung?«
Seufzend sah ich zu Madox auf, der mich besorgt musterte.
»Sicher, Mad. Ist nicht so schlimm, aus diesem Höllenloch geschmissen zu werden. Aber ich … ich werde dich vermissen. Dort oben ist es schrecklich langweilig und im Vergleich zu menschlichen Schulen sind Sokrates’ Daumenschrauben ein feuchter Pups«, witzelte ich schwach. Da mich weder die Schule im Olymp noch in Abaddon hatte aufnehmen wollen, war ich wahrscheinlich das einzige Kind von Göttern, das in eine normale Menschenschule gegangen war. Ich hatte im letzten Sommer meinen Abschluss gemacht, mehr schlecht als recht, und schwitzte gerade über den Aufnahmeprüfungen für die Uni, in die ich eigentlich gar nicht gehen wollte. Aber irgendetwas musste ich schließlich tun. Oder?
Zustimmend riss Madox die Augen auf und stieß einen anerkennenden Pfiff aus. »Wow, Mädchen. Du bist wirklich die Einzige, die es schafft, sogar aus der Hölle geworfen zu werden.«
Ich boxte ihm gegen den Oberarm. Fest.
Er lachte. Tat so, als würde es ihm auch wehtun, bevor er mich wieder liebevoll anlächelte. »Jetzt ernsthaft. Ist es dort oben wirklich so langweilig? Ich dachte immer, in den menschlichen Schulen gibt es heiße Cheerleader mit kurzen Röckchen und wilden Partys.«
Ich rümpfte die Nase. »Die sind die Schlimmsten!«
Er grinste frech. »Mach dir nichts draus, Prinzessin. Ich überlege mir etwas, um dich aufzumuntern. Aber jetzt geh! Der alte Herr sieht aus, als würde er gleich an einem Herzinfarkt sterben.« Lächelnd drückte er mich an seine warme Brust und küsste mich auf den Kopf, bevor ich aus der Haustür trat und die kühle Nachtluft von Abaddon einatmete. Breite Stufen führten von dem Anwesen aus nach unten. Eine Limousine wartete in der Auffahrt auf mich. Charon, Fährmann der Unterwelt, hatte jahrhundertelang Seelen über den Styx in die Außenwelt begleitet. Zumindest so lange, bis Hades im Sinne des neuen Zeitalters den Seelenfluss umleiten ließ und stattdessen eine vierspurige Autobahn hatte bauen lassen. Charon, erstaunlich pragmatisch für einen Gott, hatte sich jobtechnisch angepasst und fuhr seitdem eine schnittige Limousine anstatt seiner löchrigen Galeere. Ich mochte ihn. Er war zwar ein wenig wortkarg, aber immer freundlich.
Charon lächelte, als er mich auf sich zukommen sah, und verbeugte sich höflich. Der göttliche Fährmann war extrem hochgewachsen und hager. Die gräuliche Haut, die niemals Sonne sah, spannte sich über seinen Schädel. Die Augen lagen tief in den Höhlen. Er blinzelte nicht. Niemals. Auf seinem kahlen Schädel saß eine altmodische Chauffeursmütze. Ein dunkles Jackett mit passender Krawatte baumelte um seinen dürren Hals.
»Guten Abend, Charon«, begrüßte ich ihn abwesend und ließ mich seufzend in die weichen Lederkissen der Limousine sinken. Das Innere roch nach Leder, Zigaretten und süßer Ambrosia, welche mein Vater in einem kleinen Kühlschrank unter der Trennwand der Limousine aufbewahrte. Charon schloss die Tür hinter mir, stieg auf der Fahrerseite vor der heruntergelassenen Trennwand ein und ließ den Wagen anspringen. Langsam setzten wir uns in Bewegung und ließen das prunkvolle Anwesen meines Vaters hinter uns. Alte rostige Straßenlaternen beleuchteten eine lange, mit Schotter ausgelegte Einfahrt, während kränklich schwarze Bäume mit schneeweißen Blättern das Anwesen vom Rest der Unterwelt abschotteten. Zwischen den Stämmen waren schwach die rot schimmernden Augen von Höllenhunden auszumachen, die ihre Runden um das Haus zogen. Was sich neben den Höllenhunden noch für grauenhafte Wesen in den Wäldchen herumtrieben, wusste nur Hades allein. Hin und wieder konnte man aber Schreie hören, die meistens in einem nassen Gurgeln endeten. Gefolgt von lustvollem Schmatzen.
Vollkommen lautlos durchfuhr die schwarze Limousine ein breites schmiedeeisernes Tor, das den Wagen ungehindert passieren ließ. Schnittig rollte er auf die Straße und wurde stetig schneller, sodass unsere Umgebung zu formlosen Klecksen verschwamm. Hier und da konnte ich ein paar Wolkenkratzer erkennen, in denen sich die wirtschaftlichen Unternehmen der Unterwelt befanden. Hades verdiente viel Geld mit dem Vertrieb von Rohgütern wie Edelgasen sowie immer rarer werdenden fossilen Brennstoffen. Neben der Belieferung von Waffen an Nord- und Südamerika, Deutschland und Russland, dem Aktienhandel und illegalen Briefkastenunternehmen in Thailand verdiente er sein Geld zusätzlich mit dem Vertrieb von Fast-Food-Ketten in der Menschenwelt. Insbesondere die Vereinigten Staaten und die Vereinigten Arabischen Emirate waren in den letzten einhundert Jahren von Abaddon und dessen Rohstoffen abhängig geworden.
Müde lehnte ich meinen Kopf an die kalte Fensterscheibe und beobachtete, wie sich Charon gekonnt einen Weg durch den Höllenverkehr bahnte. Helle Lichter von Werbetafeln, die für Shampoo und McDonald’s – ebenfalls ein Unternehmen meines Vaters – warben, flackerten an mir vorbei. Wolkenkratzer aus Eisen, Stahl und Glas drängten sich dicht an dicht. Abaddoner verstopften die Straßen, sodass Ampeln den überquellenden Verkehr regeln mussten. Langsam näherten wir uns einem breiten Tunnel am anderen Ende der Stadt, über dessen grauen Steinwände ein grünes Zeichen mit dem Wort EXIT angebracht war. Die dumpfe Tunnelbeleuchtung durchdrang das Innere der Limousine, als Charon das Fahrtempo drosselte und vor einem der Zollhäuschen stehen blieb. Rot leuchtende Schranken verhinderten jedes Weiterkommen, sodass sich bereits eine Schlange von wartenden Autos und Taxis gebildet hatte. Entnervt trommelte Charon mit den knochigen Fingern auf das lederne Lenkrad, während wir nur langsam nach vorne krochen. Die Scheibe auf der Fahrerseite fuhr schnurrend herunter, als wir neben dem Zollhäuschen stehen blieben und sich eine kaugummikauende Furie aus dem kleinen Fenster zu uns beugte. »Das macht 8,50«, nuschelte sie und ließ eine rosarote Kaugummiblase platzen. Charon zog genervt einen Ausweis aus seiner Brusttasche und hielt ihn ihr unter die Nase. Gelangweilt musterte sie das Stückchen Papier. Eine schmale Augenbraue schoss in die Höhe.
»Aha, vom Boss persönlich. Wo solls denn hingehen? Und können Sie dem Boss mal verklickern, dass wir hier unten gerne eine Gehaltserhöhung hätten? Die Gewerkschaft droht schon mit Streik.«
Charon knirschte als Antwort nur mit den Zähnen. Wie gesagt, er war eher ein schweigsamer Typ.
»Ich sags ja nur!«, erwiderte die Furie augenrollend und blies noch eine Kaugummiblase auf.
»Einfach nach London, bitte!«, fuhr ich sie an.
»Kein Stress, Mädel.« Die Zollschranken öffneten sich. Charon stieg sofort aufs Gas und ich wurde ruckartig in den Sitz gedrückt. Der Tunnel vergrößerte sich zu einer vierspurigen Autobahn, sodass wir zusammen mit Hunderten weiterer Fahrzeuge die Hölle in Richtung Großbritannien verließen. Immer wieder glaubte ich, Charons dunklen Murmelblick auf mich gerichtet zu fühlen. Aber jedes Mal, wenn ich aufsah, starrte er konzentriert auf die Straße. Er war noch schweigsamer als sonst, also wandte ich meinen Blick stattdessen nach draußen. Straßenschilder zeigten in die verschiedensten Abzweigungen des breiten Tunnels und deuteten die unterschiedlichen Kontinente und deren Städte an. Die Fahrt nach London dauerte zum Glück nicht lange. Nach nur wenigen Kilometern setzte Charon den Blinker und lenkte die Limousine durch die Verzweigungen des Tunnels. Ein Schauer jagte mir über den Rücken, als wir eine unsichtbare Barriere durchfuhren, die Abaddon von der Menschenwelt trennte. Der Tunnel wurde enger, die Lichter wurden gedimmt, bis wir die Hölle vollends hinter uns ließen und vor einer roten Ampel auf den verregneten Straßen Londons stehen blieben. Regentropfen klatschten gegen die Fensterscheibe. Draußen war es bereits stockdunkel. Ein Blick auf die Uhr zeigte mir, dass es beinahe Mitternacht war. Wir kamen zügig voran und bogen schon nach wenigen Minuten in die Einfahrt eines großen Hauses am Rande des Hyde Parks ein. Kalter Wind schlug mir entgegen, als ich seufzend die Autotür öffnete. Ungehindert prasselte mir der Regen ins Gesicht, bevor Charon lautlos neben mir auftauchte und einen Regenschirm über uns aufspannte.
Zaghaft starrte ich auf das große Stadthaus, dessen Fenster trotz später Stunde noch hell erleuchtet waren. Mit einem flauen Gefühl im Magen schlug ich die Autotür zu und wurde von Charon bis zur Tür begleitet. Breite weiße Marmortreppen führten nach oben. Die Eingangstür war aus massiven Glas und antikem Holz. Ich scherzte gerne, dass der Eingang zum Tartaros nicht unfreundlicher aussehen konnte. Das ganze Haus verströmte kalte Abneigung. Vielleicht ein Grund, warum sich nie Menschen hierher verirrten. Obwohl es mitten in London stand.
Besagte Grusel-Tür schwang auf, noch bevor ich überhaupt die Gelegenheit bekam, auf die Klingel zu drücken. Oder die Kurve zu kratzen. Ich hatte mich noch nicht ganz entschieden. Offensichtlich wurde mir die Entscheidung abgenommen. Ein Schwall warmer Luft wehte nach draußen. Sofia, das olympische Hausmädchen meiner Mutter, stand im Türrahmen und bedachte mich mit einem herablassenden Blick. Für Charon hatte sie nur ein angewidertes Naserümpfen übrig. Ziemlich frech, wenn man bedachte, dass sie nur eine Muse und Charon ein Gott war. Diesen schien das nur wenig zu jucken. Er machte nicht viel Aufheben um seine Person, was ihn in meinen Augen nur noch sympathischer machte.
»Miss Pandemos, ihre Gottmutter erwartet sie bereits im Salon«, näselte Sofia und starrte angewidert auf die deutlich hervortretenden Knochen des Gottes. Dieser verzog die brüchigen Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. In seinen dunklen Augenhöhlen glomm es gefährlich auf. Die Abneigung, die sich Olympier und Abaddoner entgegenbrachten, war in diesem Augenblick kaum zu übersehen.
»Danke, Charon, wir sehen uns nächste Woche«, fuhr ich schnell dazwischen und lächelte den Gott dankbar an. Ich neigte respektvoll den Kopf und folgte dem Dienstmädchen ins warme Innere. Charon blieb stumm vor der Tür stehen. Der Regen trommelte leise auf den Stoff seines Schirms.
»Richten Sie bitte meinem Vater aus, dass ich gut nach Hause gekommen bin und … und dass es mir leidtut«, bat ich ihn. Er nickte stumm. Ich war gerade dabei, die Tür zu schließen, als Charons dürre Finger meine berührten, mich zurückhielten. Verblüfft hielt ich inne. Blickte auf die tiefen Furchen, die sich in das Gesicht des Gottes eingegraben hatten. Beinahe sahen sie wie Falten aus.
»Bitte, schämen Sie sich nicht für das, was Sie sind«, raunte der Gott mir durch den Türspalt zu. Seine Stimme klang dunkel und rau, als hätte man seine Stimmbänder mit einem Reibeisen bearbeitet.
»Wie bitte?« Ich riss die Augen auf.
»Schämen Sie sich nicht. Mit Ihnen ist nichts falsch. Sie sind ein gutes Mädchen. Es war mir immer eine Freude, Sie begleiten zu dürfen.«
»Ich … d-danke, Charon. Ich fahre auch immer gerne mit Ihnen mit«, stotterte ich. Der Fährmann hatte gerade mehr mit mir gesprochen als … na ja, jemals. Er starrte mich an. Beinahe traurig. Irgendwie hatte ich das Gefühl, die tiefere Bedeutung seiner Worte nicht verstanden zu haben.
Charon öffnete den Mund, doch Sofias näselnde Stimme unterbrach ihn. »Bitte, schließen Sie die Türen, Miss Pandemos. Es zieht.«
Ich drehte den Kopf. Das Mädchen stand mit vor der Brust verschränkten Armen in der Eingangshalle und lauschte schamlos.
»Ja, gleich«, erwiderte ich genervt, verdrehte die Augen und wandte mich wieder Charon zu, doch das Auto verschwand gerade brummend um die nächste Ecke. Ich starrte den roten Rücklichtern hinterher, bis mir selbst zu kalt wurde und ich schaudernd die Tür schloss.
»Sie müssen nicht immer so unfreundlich zu ihm sein, Sofia. Er ist ein Gott, kein Ungeziefer«, sagte ich zähneklappernd zu dem Hausmädchen.
»Er ist ein Abaddoner«, erwiderte Sofia schlicht.
»Ihr habt doch alle einen Vogel«, knurrte ich leise und stapfte an ihr vorbei. Die einvernehmliche Abneigung der Olympier gegen die Abaddoner war mir immer wieder ein Rätsel. Der Kalte Krieg zwischen den beiden Völkern existierte, seit Hades von seinem Bruder Zeus aus dem Olymp geworfen wurde und die Unterwelt übernommen hatte. Das böse Blut der beiden Brüder zog sich wie eine hässliche Wunde durch die letzten viertausend Jahre. Wenn man mich fragte, hatten die Götter mehr als nur einen Sprung in der Schüssel. Sie waren mächtig, unsterblich, gelangweilt und hatten eindeutig zu viel freie Zeit. Leider saß genau solch eine Göttin, mit elegant übereinandergeschlagenen Beinen und finsterem Gesichtsausdruck, im hell erleuchteten Wohnzimmer und wartete auf mich. Zaghaft blieb ich in der offenen Wohnzimmertür stehen. Suchte nach einer Fluchtmöglichkeit.
»Mutter! Warrior ist hier!«, petzte meine Schwester Opal sofort.
Abrupt fuhr Aphrodites Kopf in meine Richtung. Leuchtend blaue Augen taxierten mich. Der kaum verhohlene Ekel, der ihr dabei über die perfekten Gesichtszüge huschte, verriet, wie wenig sie ihre Emotionen derzeit im Griff hatte. Meine Nackenhaare stellten sich auf und ich musste das ängstliche Wimmern angestrengt herunterschlucken.
»Willst du nicht hereinkommen, Kind?«, fragte mich die Göttin mit tödlich ruhiger Stimme. Ihre großen katzenhaften Augen folgten jeder meiner Bewegungen.
»Ja! Komm doch rein, Warrior, wir warten auf dich«, flötete Diamond freundlich und klopfte einladend auf den freien Platz des weißen Sofas neben sich. Wie immer sah sie einfach umwerfend aus. Diamond besaß strahlend hellblondes Haar, das ihr in silbrigen Kaskaden über den Rücken floss. Große eisblaue Augen musterten meine verhüllte Gestalt. Wie alle meine Schwestern, so war auch sie gertenschlank und geschmeidig. Das Gesicht ein Inbegriff von strahlender Schönheit, das jeden Mann schwach werden ließ. Der einzige Makel an ihr waren die etwas zu schmalen Lippen, die sie geschickt mit Make-up voller schminkte. Tatsächlich besaß jedes Kind der Aphrodite einen kleinen Makel, der ihrer übernatürlichen Schönheit ein wenig Menschlichkeit verlieh. Während Diamonds Lippen schmal und blass waren, hatte Ruby Probleme mit einer etwas zu langen Nase.
Opal, deren porzellangleiche Schönheit von ebenholzfarbenen Haaren umrandet wurde, war mit ihren vierundzwanzig Jahren immer noch flach wie ein Brett und hatte niemals die ein Meter fünfzig überschritten.
»Hallo, Mutter, alles in Ordnung?«, fragte ich die Göttin zaghaft und wurde mir dabei überdeutlich bewusst, wie jämmerlich unzulänglich ich neben meiner Familie aussah. Aphrodite schnalzte scharf mit der Zunge und deutete auf den Platz neben Diamond. Zögerlich setzte ich mich auf das weiche Polster, das sich beklemmend kalt anfühlte. Die Spannung im Raum war zum Schneiden dick. Elegant lehnte Aphrodite sich nach vorne und musterte mich mit kaltem, abweisendem Blick. Unruhig zog ich meine Kapuze tiefer in die Stirn. In Mutters Gesicht zu sehen war meistens ziemlich verwirrend. Alle paar Augenblicke veränderten sich ihre Züge. Saß soeben noch eine zierliche Asiatin mit schwarzen Haaren und exotisch dunklen Augen vor mir, so änderte sich im nächsten Augenblick ihre Erscheinung zu einer großen Schönheit mit hellen Haaren und stahlgrauen Augen. Ein Gesicht war schöner als das andere. Dutzende Frauengesichter mit grünen, blauen, grauen und braunen Augen starrten auf mich herab. Ihr Kinn wurde spitz, herzförmig, einmal schmal oder keck mit Grübchen in der Mitte. Ihre Wangenknochen formten sich von scharf hervorgehoben zu weichen Konturen, unterstrichen von Dutzend verschiedenen Hautfarben.
»Könntest du dich bitte für ein Gesicht entscheiden, Mutter? Ich bekomme von diesem Hin und Her Kopfschmerzen!«, unterbrach ich die angespannte Stille im Raum. Meine Schwestern schnaubten belustigt, während die Göttin herausfordernd eine Augenbraue nach oben zog. Niemand hatte das wahre Gesicht der Liebe jemals gesehen. Niemand wusste, wie sie unter all der schillernden Perfektion und geballten Magie wirklich aussah.
»Was soll ich nur mit dir machen, Warrior?«, fragte die Göttin schließlich, wobei die Kälte in ihrer Stimme einer Messerschneide gleich durch die stickige Luft schnitt. Ich wappnete mich gegen ihren Zorn, der wie eine Gewitterwolke über meinem Kopf hing.
»Kannst du dir vorstellen …«, fuhr die Göttin fort und grub ihre rot lackierten Fingernägel in das Leder ihres Sessels. »… wie demütigend es für mich gewesen ist, von Zeus persönlich aus dem Olymp geholt zu werden, weil meine eigene Tochter – meine Tochter! – erneut Missfallen erregt hat?«
»Ich … ich … es tut mir wirklich leid, das war nicht meine Absicht«, stotterte ich zaghaft und wünschte mich plötzlich zurück in die Hölle. Was hatte Hades ihr erzählt, dass sie so wütend auf mich war? Und wieso wusste Zeus davon?
Aphrodite zitterte. »O nein, Warrior, diesmal kommst du mir nicht so leicht davon. In den letzten Jahren hatte ich gehofft, dass du lernen würdest, Respekt vor den Göttern zu zeigen. Zweitausend Jahre zuvor hätte ich dich für solch eine Blamage von den Zentauren zerfetzen lassen. Du bist viel zu sehr ein Abaddoner, um noch als Olympierin durchgehen zu können. Dein Blut ist schmutzig! Ich hätte es wissen müssen. In dem Augenblick, als du zur Welt gekommen bist und diesen Gestank von Andersartigkeit verbreitet hast. Ich hätte dich aussetzten und von den Menschen großziehen lassen sollen, wie Zeus es mir geraten hatte. Aber nein! Ich behielt dich. Schenkte dir das Leben eines Gottkindes und wie dankst du es mir? Ich bin mittlerweile das Gespött des gesamten Olymps.« Das Gesicht der Liebe verzog sich zu einer wütenden Fratze. Dabei sah sie immer noch atemberaubend schön aus. Ein wütender, naseschnaubender Engel. »Willst du mir freiwillig erzählen, was du heute angestellt hast? Oder muss ich dich dazu zwingen?«
Zitternd öffnete ich meinen Mund. Ihre Worte schmerzten wie eine Ohrfeige. Ich schluckte schwer. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie meine Schwestern mit neugierigen Augen auf meinen Zusammenbruch warteten. Alleine Diamond formte mit besorgtem Gesichtsausdruck die Worte: Erzähle es ihr.
Erneut sah ich zu Aphrodite auf. »Ich habe nichts falsch gemacht«, hörte ich mich schließlich sagen. Ich klang bockig. Mein Mund sprach einfach ohne meine Zustimmung.
Heißer Trotz stieg in mir auf. Schön! Meine Mutter schämte sich für mich? Hielt mich für eine Missgeburt, wie es all die anderen auch taten? Dann würde ich ihr auch nicht den Gefallen tun und winselnd um Vergebung bitten. Ich hatte nichts Falsches gemacht … theoretisch.
Störrisch presste ich die Lippen zusammen.
»Ach, ist das so?«, fragte die Göttin trügerisch ruhig. Ein seltsames Leuchten huschte über ihre Augen. »Ich wurde also von Zeus aus dem Olymp geworfen, um nach meiner ungehorsamen Tochter zu sehen wegen rein gar nichts?«
Ängstlich kniff ich die Augen zusammen und duckte mich instinktiv, als die geballte Macht der Göttin mich fixierte und wie ein Faustschlag in den Magen traf. Keuchend krümmte ich mich zusammen und spürte, wie mir die Tränen in die Augen schossen.
»Das ist deine letzte Chance, mir freiwillig zu erzählen, was heute passiert ist, Warrior!«, warnte mich Aphrodite. Die Macht in ihrer Stimme riss mir die Worte praktisch aus dem Mund. Ich sollte es ihr erzählen! Sollte ihr beichten, dass ich meinen Ausweis vergessen, den Arzttermin verpasst und aus Versehen für den Tod von einem der Höllenhunde verantwortlich war. Außerdem roch ich so penetrant nach Blumen, dass die halbe vampirische Unterwelt hinter mir her war und ich nicht mehr nach Abaddon durfte. Ich sollte es ihr einfach beichten, meine Strafe kassieren und in mein Zimmer verschwinden. Ich sollte … Ach, ich sollte viel und würde es dennoch nicht tun.
»Wie du willst!«, fauchte Aphrodite. Magie erfüllte den Raum und durchschnitt meine sorgfältig errichtete Selbstbeherrschung so mühelos wie ein heißes Messer, das durch Butter schnitt. Unbarmherzig trat die Göttin der Liebe auf mich zu, packte mein Kinn und drang mit roher Gewalt in meinen Verstand ein. Wie ein heißer Schürhaken schlug ihre Macht durch meinen Schädel und begann sich durch meine Gehirnwindungen zu bohren. Schmerzerfüllt schrie ich auf und schmeckte süßes Blut auf der Zunge, während Aphrodite meinen Kopf durchwühlte. Hilflos wand ich mich unter dem festen Griff ihrer Finger, als sie mit erschreckend chirurgischer Genauigkeit meine Erinnerungen der letzten Stunde freilegte.
»Zeig mir, was du schon wieder angestellt hast, Warrior. Zeig mir, wieso dein Vater glaubt, ich sollte dich am besten heute noch wegsperren! Was verbirgst du vor mir?«
»Mutter, bitte nicht!« In den kalten hellblauen Augen der Göttin konnte ich mein eigenes verhülltes Spiegelbild sehen. Die bleiche Haut unter den scharfen, rot lackierten Fingernägeln. Ich sah mich selbst. Klein, schwach und minderwertig. Wenn die Göttin Informationen wollte, konnte niemand sie davon abhalten.
Niemand konnte die Liebe belügen.
Gewaltsam holte sie meine Gefühle hervor. Diese ungefilterte Flut ließ mich zitternd nach Luft schnappen. Die Kapuze rutschte mir vom Kopf. Eine Kaskade aus goldenen Locken floss über meinen Rücken. Sterne tanzten vor meinen Augen, während sich der Geruch nach Rosen mit dem süßen Geschmack von Blut in meinem Mund vermischte.
»Bitte, Mutter! Aufhören!«, stieß ich keuchend hervor.
Leider hatte die Göttin erst mit ihrer Bestrafung begonnen. Eine Erinnerung nach der anderen kam an die Oberfläche. Sie entriss mir jeden gehässigen Gedanken gegen meine Brüder, jedes Lachen mit Sokrates, jedes Gefühl der Zuneigung für Madox. Angst und Abneigung gegen die Hölle kamen hervor. Das Gefühl der Einsamkeit.
Klackernd fiel meine Sonnenbrille zu Boden, sodass ich ungeschützt in das blendend helle Gesicht der Liebesgöttin blicken musste. Tränen quollen mir aus den Augenwinkeln. Der Schmerz in meinem zerwühlten Kopf wurde beinahe unerträglich. Er pulsierte, fühlte sich dick und geschwollen an, während meine Nase zu bluten begann. Warme Nässe füllte meinen Mund. Es kam mir vor, als würde die Liebesgöttin mein hässlichstes Innerstes nach außen kehren, bis nur noch eine leere Hülle zurückblieb.
Langsam wurde mir schwarz vor Augen. Meine Atmung stockte und mein Herz pochte vor Anstrengung. Ohne Mitgefühl sah die Göttin auf mich herab. Keinerlei Menschlichkeit war in ihren Augen zu erkennen. Sie würde mich umbringen! Panik überfiel mich, als mich die Erkenntnis wie eine Ohrfeige traf. Meine Mutter würde mich in diesem Zustand sofort und ohne mit der Wimper zu zucken töten. In Augenblicken wie diesen war sie nicht meine Mutter, sondern die Göttin. Wenn sie wollte, würde sie mir auch noch den letzten Rest meiner Gedanken entreißen, bis mein Herz vor Anstrengung versagte. Panisch versuchte ich, meine Hand zu heben. Versuchte, ihren Griff um mein Kinn zu lockern, und schaffte es nicht einmal mehr, richtig zu atmen. Immer schneller spürte ich meine Erinnerungen und Gefühle hervorquellen. Spürte, wie sich mein Hirn in konfuse Leere auflöste, bis sich ein Bild, viel schärfer und klarer als all die anderen, vor meine Augen schob. Aphrodite sah es ebenfalls. Ihre Nägel rissen vor Schreck die Haut an meiner Wange auf. Das Bild eines wunderschönen jungen Mannes mit dunklen blauen Haaren tauchte vor uns auf. Beinahe glaubte ich, den Geruch nach Ozon einzuatmen, während kleine Blitze durch seine Haare zuckten. Seine Präsenz war, obwohl sie nur eine Erinnerung war, genauso überwältigend wie wenige Stunden zuvor. Eine atemberaubende Aura von Macht umgab ihn. Die Erinnerung des Jungen runzelte seine Stirn. Das Grau seiner Augen war kälter als Eis, während er uns ebenfalls zu beobachten schien.
»Bei allen Göttern! Er …«, hörte ich Aphrodite wie aus weiter Ferne flüstern. Die Worte drangen tief in meinen Verstand ein. Die Erinnerung begann sich zu regen. Sein Gesicht verzog sich zu einer wütenden Grimasse. Grelle Blitze zuckten über seine Alabasterhaut.
»Lass sie los!«, bellte der Junge. Seine Stimme dröhnte mit der Macht eines Gewitters durch meinen Kopf. Mein Verstand wackelte, als hätte ein Blitz ihn durchschlagen. Aphrodite und ich schrien gleichzeitig auf. Die Finger der Liebesgöttin lösten sich von meiner Haut. Wie zäher Schleim floss ihre Präsenz aus meinem Kopf heraus. Keuchend schnappte ich nach Luft. Schwarze Punkte tanzten vor meinen Augen. Langsam ebbten die Schmerzen zu einem heftigen Pochen ab. Meine Erinnerungen wirbelten aufgeschreckt durcheinander. Mir wurde schlecht, als mich Aphrodite hart von sich stieß. Ihre Augen waren weit aufgerissen. Die Lippen geöffnet, während sie heftig ein- und ausatmete.
Magie peitschte unvermindert in wütenden Böen um ihren perfekten Körper, der unaufhörlich sein Aussehen veränderte. Neben ihr standen meine Schwestern und starrten uns entsetzt an. Diamond war furchtbar blass um die Nase. Opal sah aus, als würde sie jeden Augenblick mit einem affektierten Schrei in Ohnmacht fallen. Eine drückende Stille legte sich über das Wohnzimmer.
»M-Mutter?«, fragte ich und schluckte den bittersüßen Geschmack nach Blut hinunter. In den Augen der Göttin stand nackte Mordlust. Ihr Körper zitterte immer noch. Zappte von einem Aussehen zum nächsten.
»Was hast du getan? Du miese kleine …«, setzte sie an, als sich plötzlich eine zarte Hand auf ihre Schulter legte. »Mutter. Ich denke, Warrior hat ihre Lektion gelernt. Sie wird auf ihr Zimmer gehen und es in den nächsten Tagen nicht mehr verlassen. Das verspreche ich!« Diamond lächelte tapfer. Die Augen der Göttin verengten sich zu Schlitzen. Trotzdem schienen Diamonds sachliche Worte und ihre ruhige Stimme sie auf den Boden der Tatsachen zurückzubringen. Das hektische Wechseln ihrer Erscheinung ließ nach. In meinen Ohren knackte es, als würde ein großer Druck aus ihnen weichen. Die Luft schien endlich wieder ungehindert durch meine Lunge zu strömen.
»Mutter, ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte Ruby schockiert. Den warnenden Blick, den Diamond ihr dabei zuwarf, schien sie gar nicht zu bemerken.
Ruckartig fuhr der Kopf der Göttin zu ihr herum. Ihre Haare wurden tiefschwarz, genau wie ihre Augen. »Mach dich nicht lächerlich, ich bin eine Göttin!«, zischte sie, während Ruby nach hinten stolperte und beschwichtigend die Hände hob.
»Ich … Mutter, selbstverständlich!«, stammelte Ruby, doch die Göttin drehte sich, ohne weiter auf sie zu achten, zu mir. Der Blick, den sie mir dabei zuwarf, zog mir die Eingeweide zusammen.
»Du wirst dieses Haus nicht mehr verlassen, Warrior! Du wirst in dein Zimmer gehen und dort ab sofort bleiben. Du hältst dich von sämtlichen Ausgängen und Fenstern in diesem Haus fern. Du redest mit niemandem. Habe ich mich klar ausgedrückt?«
Zitternd nickte ich. »Ich werde mein Zimmer nicht verlassen«, flüsterte ich mit heiserer Stimme.
»Und?«, fragte die Göttin in trügerisch sanftem Ton.
»Ich werde mit niemandem über heute reden.«
»Ganz genau. Dein Vater war so freundlich, ein paar Höllenhunde vorbeizuschicken, damit das auch so bleibt.«
Ihr Lächeln hätte jeden Höllenhund in die Flucht geschlagen. Gänsehaut breitete sich auf meinem Rücken aus.
»Diamond, du passt auf sie auf!«, wies Aphrodite meine Schwester an. Diese nickte stumm und schlug die Augen nieder.
»Sehr schön, dann werde ich jetzt in den Olymp zurückkehren.« Mit gerümpfter Nase klopfte sie sich imaginären Staub von den Kleidern. Ein Geruch nach geschmolzenem Zucker verbreitete sich im Raum, als die Göttin in einem grellen Lichtblitz verschwand.
Wie betäubt saß ich auf dem Sofa und spürte, wie mir heiße Tränen über die Wange liefen. Warmes Blut verklebte mir Nase und ein paar Haarsträhnen, die mir aus der verrutschen Kapuze hervorgequollen waren.
»Nun komm schon, Warrior! Hör auf zu weinen, wisch dir den ekelhaften Rotz aus dem Gesicht und verhülle dich. Du siehst grauenhaft aus.« Die spitze Bemerkung von Diamond durchbrach meine Schockstarre. Als ich zu ihr hochblickte, hielt sie mir ein Taschentuch entgegen.
»Danke«, hauchte ich, zog die Kapuze tiefer ins Gesicht und drückte mir das Schnoddertuch aufs Gesicht.
»Sie wurde regelrecht zerstückelt«, kicherte Opal leise und warf mir einen mitleidigen Blick zu. »Sie ist einfach nur peinlich.«
»Halt deinen Mund«, fuhr Diamond unsere Schwester an und bedachte mich mit einem strengen Blick. »Steh auf, leg dich ins Bett, Warrior, und wisch dir endlich das Blut ab.«
»Ist das überhaupt Blut?«, fragte Ruby naserümpfend, als ich mich mit steifen Gliedern aufstellte.
»Natürlich ist es das«, murmelte ich schwach und zuckte bei dem rauen Klang meiner eigenen Stimme zusammen.
»Und seit wann ist es silber?«, fragte Ruby patzig, was mich verwirrt auf das Taschentuch in meiner Hand hinabblicken ließ.
»Das …« Mir blieben die Worte im Hals stecken.
»Das sieht aus wie Quecksilber«, staunte Diamond und beugte sich näher zu mir herab. »Lass mal sehen!«
»Was? Nein!« Erschrocken zuckte ich vor ihren neugierigen Fingern zurück und zerknüllte die Rotzfahne.
»Warrior!«, warnte mich Diamond und sah mich streng mit ihren kristallblauen Augen an. »Wenn etwas mit dir nicht stimmt, müssen wir das sofort dem Olymp melden.«
»Hast du sie noch alle? Mutter wird mich umbringen! Mit mir ist alles in Ordnung.«
»Aber wenn …«
»Nichts, wenn!« Giftig starrten wir uns an. »Es ist nichts! Und wenn ihr nur ein wenig Mitleid mit mir habt, lasst ihr mich jetzt bitte ins Bett gehen? Es war nicht gerade ein angenehmer Tag.«
Unentschlossen kniff Diamond ihre Lippen zusammen und erdolchte mich mit einem eisigen Blick. Es kostete mich viel Kraft, überhaupt noch auf den Beinen zu stehen. Kraft, die rapide zu schwinden begann. Der Tag fühlte sich bereits unendlich lang an.
Schließlich nickte die blonde Schönheit, während ein Ausdruck von unerwarteter Sanftheit über ihre Züge huschte. »Na schön, Warrior. Geh nach oben. Aber hör auf Aphrodite. Verlasse nicht das Zimmer, ich werde dich ansonsten nicht beschützen können.«
»Werde ich nicht«, murmelte ich, ließ die drei im Wohnzimmer zurück und ging durch den mit Marmor ausgelegten Eingangsbereich. Eine geschwungene Treppe führte nach oben in den Schlafzimmerbereich. Wie auch bei Hades war das Stadthaus meiner Mutter ein Zeugnis längst vergangener Jahrhunderte. Es war um die Jahrhundertwende erbaut worden und seitdem nur spärlich mit den neuesten technischen Errungenschaften ausgestattet worden. Die Wände waren stilistisch hoch gebaut und mit cremefarbenen Stuckverzierungen versehen. Überall hingen Bildnisse der Liebesgöttin an den Wänden. Kunstgegenstände aus längst vergangener Zeit stellten meine Mutter in den verschiedensten Gestalten und mit den unterschiedlichsten Gesichtern dar. Stets ein verführerisches Lächeln auf den vollen Lippen. Wie gefährlich die Liebe in Wirklichkeit war, zeigte kein einziges davon. Die wenigen Minuten, die ich brauchte, um von dem Salon in mein Zimmer zu gelangen, glichen dem Besuch in einem Museum. Jede Stufe, die ich mich hochquälte, zog sich schmerzhaft in die Länge, wobei ich mich fest ans Ebenholzgeländer klammerte. Der unerwartet heftige Zorn meiner Mutter würde noch die nächsten Tage seine Auswirkungen zeigen, mein Zusammenstoß mit dem Höllenhund heute Nachmittag nicht zu vergessen.
Das Leben eines Gottkindes war grundsätzlich nicht einfach. Aber das Kind der Liebe und des Todes zu sein, das war besonders scheiße. Selbst ohne mein Handicap. Die schönsten und mächtigsten Kinder konnten zumindest hoffen, in den Olymp aufgenommen zu werden und als Zofe oder Günstling der Götter zu dienen. Die weniger glücklichen von uns mussten sich mit einem Leben im ewigen Schatten einer glanzvollen Welt zufriedengeben und ihr Glück in der Welt der Sterblichen oder in der Unterwelt finden. Die Kriminalitätsrate unter den Gottkindern war enorm hoch. Viele waren Mitglieder der Mafia oder arbeiteten für die menschliche Regierung in politischen Belangen.
Für mich blieben all diese Wege versperrt. Der Olymp wollte mich nicht und für die Welt der Sterblichen war ich eine zu große Gefahr. Im Grunde blieb mir nur Abaddon, und wie dort meine Zukunft aussehen sollte, wollte ich mir gar nicht erst ausmalen. Meine Augen brannten und ich blieb kurz stehen. Vielleicht sollte ich mir Madox schnappen und für ein paar Jahre untertauchen. Als Kind hatte ich immer Prinzessin werden wollen. Madox übrigens auch. Leider sah ich unsere Chancen in dieser Hinsicht als schwindend gering an. Wir könnten nach Bali fliegen und das Tauchen lernen oder so etwas. Aber nein! Ich konnte ja keinen Badeanzug anziehen. Verdammt. Ich biss mir auf die Unterlippe und setzte meinen Weg nach oben fort. Vielleicht war es gar keine so schlechte Idee, die nächste Zeit in meinem Zimmer zu verbringen. Ich war eine absolute Katastrophe! Vollkommen erschöpft wankte ich endlich in mein persönliches Reich. Ich machte mir nicht einmal die Mühe, das Licht einzuschalten. Mit brennenden Augen streifte ich mir die Schuhe von den Füßen und fiel mit dem Gesicht voran ins Bett. Jetzt konnte ich nur noch für einen schnellen und hoffentlich albtraumlosen Schlaf beten.