Читать книгу Warrior & Peace - Stella A. Tack - Страница 9

Ein Pieps und ich schlitz dir die Kehle auf

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»So, es ist spät! Ich habe noch zu arbeiten!«, murrte Sokrates nach einigen Stunden, in denen wir verbissen Soldaten abgeschlachtet und Hurenhäuser geplündert hatten. Meine Augen brannten bereits und meine Daumen hatten vor etwa einer halben Stunde den Geist aufgegeben.

Zustimmend nickte ich und schaltete die Xbox aus. »Warum genau arbeitest du noch mal als Kerkermeister?«, fragte ich Sokrates missbilligend, der sich polternd erhob und ein brüllendes Gähnen ausstieß. Himmel! Ich konnte verstehen, warum die meisten Schiss vor ihm hatten. Diese Hauer konnten mir den Hals so was von mühelos durchbeißen. Grunzend kratzte er sich den haarigen Nacken und blickte auf mich herab. »Tja, lieber Menschen foltern als Steuerberater werden wie mein Vater«, gab er trocken zurück. »Komm jetzt! Wenn du schon nicht zurück nach London kannst, solltest du die Nacht zumindest hier unten verbringen. Suchen wir dir ein Taxi und verfrachten dich zu deinem Daddy. Ist ansonsten ein weiter Fußmarsch.«

Ich nickte, warf einen letzten Blick in das geheime Spielzimmer und spürte ein plötzliches Stechen von Wehmut in meiner Brust. So schrecklich die Unterwelt auch war, wie ungern ich auch hier war, so verbanden mich doch einige schöne Erinnerungen mit diesem Ort. Ein kleines Versteck in all dem Chaos, das mein Leben war. Aus irgendeinem Grund hatte ich das Gefühl, diesen Raum für lange Zeit nicht mehr zu sehen.

»Warrior, alles in Ordnung?« Die Stimme von Sokrates ließ mich aufsehen. Sein vertrautes haariges Gesicht weckte in mir den Impuls, die Arme auszubreiten und ihn fest an mich zu ziehen.

»Ich habe dich lieb, Sok«, murmelte ich. Sein Geruch nach Ruß, Schweiß und Blut kitzelte in meiner Nase.

Der Riese grunzte erstaunt. Seine ungeschlachten Gesichtszüge nahmen einen liebevollen Ausdruck an, als er mich ruppig an seine breite Brust drückte und über meine Kapuze strich. »Ich dich auch, meine kleine Missgeburt, aber jetzt hör auf mit dem Quatsch.«

Nickend drückte ich ihn ein letztes Mal an mich und ließ ihn ein wenig beschämt los. Himmel! Es war uns beiden peinlich! Sokrates’ Hals war ein wenig gerötet. Er wirkte unglaublich verlegen.

»Na dann, auf Los gehts los!«, schniefte ich ein letztes Mal und stieß die Tür mit einem dumpfen Knall auf. In stiller Eintracht gingen Sokrates und ich nebeneinander über den gefliesten Boden. Alles wirkte still und friedlich. Nur gelegentlich war das Stöhnen der Sträflinge zu hören, die versuchten, den Schimmel aus den Ecken zu kratzen. Irgendwo über uns rauschte eine Toilettenspülung, dicht gefolgt von dem Stöhnen gequälter Seelen, die die Abflussrohre hinabgespült wurden. Nach einer Weile bogen wir scharf nach links ab und standen unvermittelt vor einer Reihe metallischer Aufzüge. Die Rufknöpfe leuchteten giftgrün im schwachen Licht der LED-Lampen. Mit einem dicken, haarigen Finger drückte Sokrates einen von ihnen. Ein wenig befangen starrten wir auf das blinkende Licht, während sich der rechte Aufzug laut ächzend in Bewegung setzte. Als die stählerne Tür endlich aufschwang, lächelte ich Sokrates ein letztes Mal zu, obwohl er es wegen der Kapuze nicht sehen konnte, und tätschelte seinen gigantischen Bizeps. »Danke, Sok. Bis zum nächsten Mal!«

»Machs gut, Kleine«, knurrte er leise. Knarrend schlossen sich die Türen und ich starrte auf eine Reihe von etwa einhundert Knöpfen neben mir. Mit diesem Lift waren die Ebenen 1 bis 33 sowie 140 bis 266 zu erreichen. Augenblicklich befand ich mich im sogenannten Keller. Oder auch Downtown genannt. Ebene 266. Um eines der Taxis zu erreichen, musste ich nach Uptown, also zumindest auf Ebene 145 hinauf. Seufzend drückte ich den entsprechenden Knopf und lauschte der grässlichen Fahrstuhlmusik, die in Dauerschleife Highway to Hell abspulte. Aber es tat sich nichts. Stirnrunzelnd drückte ich erneut.

Dann ein drittes Mal.

Ich wartete.

Und wartete.

Highway to Hell dudelte noch immer schrill in meinen Ohren.

Genervt starrte ich den Knopf an und drückte ein viertes Mal drauf.

Immer noch nichts.

Verdammt!

So fest ich konnte, hämmerte ich jetzt dagegen, bis er plötzlich feuerrot aufleuchtete.

»Was?«, rief ich. Verwundert beäugte ich das störrische Ding, als plötzlich eine Luke an der Decke des Lifts aufgerissen wurde. Mein Blick schoss nach oben. Der Kopf einer alten Frau mit ellenlangen Nasenhaaren und blutunterlaufenen Augen starrte auf mich herab. Finster verzog die Alte ihre blassen Lippen, bis ich messerscharfe Zähne sehen konnte. Ihre Haut war grau, das Haar schlohweiß. Vor Schreck verschluckte ich mich an meiner eigenen Spucke.

»Egal, wie oft du drückst, du kommst nicht nach oben«, krächzte der Kopf missgelaunt und spuckte dabei in alle Richtungen. Verblüfft klappte mir der Mund auf.

»Was? Warum?«, fragte ich hustend. Gott! Ich hatte zwar gewusst, dass die Lifte mit Hexenkraft angetrieben wurden, jedoch nicht, dass diese wirklich darauf saßen! Mir war auch nicht bewusst, wie grauenhaft sie stanken.

Die Hexe schnaubte wütend und verdrehte ihre kalkweißen Augen. »Hast du die Meldung nicht gekriegt, Mädchen? Die Ebenen 145-266 wurden gesperrt.«

Verzweifelt kniff ich mir in die Nasenwurzel und atmete tief durch. Wie viel konnte denn noch schiefgehen? »Das heißt, ich muss drei Ebenen zu Fuß laufen?« Meine Stimme klang völlig fertig.

Die Hexe kicherte und zuckte mit ihren knochigen Schultern. Es sah beinahe komisch aus, wie sie ihren schrumpeligen Kopf durch das Loch streckte. »Anweisung vom Boss. Also … willst du nun hoch oder nicht?«

»Von mir aus!«, fauchte ich, was die Alte zufrieden nicken ließ. Krachend fiel der Aufzugdeckel wieder zu. Dabei geriet Highway to Hell leicht ins Stottern, bevor das Gefährt sich ruckartig in Bewegung setzte. Der Gedanke, dass ich in Kürze drei Ebenen allein zu Fuß gehen musste, ließ mich unbehaglich auf und ab hopsen. Ebene 144 war mehr als nur gefährlich! Es waren zwar Ebenen, die zum Teil als zivilisiert galten, 144 war jedoch ein Ort, an dem man am besten nie, nie, nie ohne Bodyguards oder Pfefferspray hinging. Oder ohne eine vollgeladene Kalaschnikow! Theoretisch war mir der Zutritt zu diesen Ebenen sogar verboten. Unruhig knabberte ich an der Unterlippe und überlegte mir, einfach umzudrehen und bei Sokrates zu übernachten. Leider hatte ich keine Ahnung, wo sich der Minotaurus zurzeit aufhielt. Die Kerker waren riesig, die Folterkammern erstreckten sich kilometerweit über Downtown. Sie kamen einem Irrgarten gleich. Bevor ich ihn fand, hätte ich mich bestimmt für einige Tage verlaufen. Nein! Außerdem war ich nicht feige. Ich würde einfach möglichst unauffällig die Ebenen durchqueren und hoffentlich auf Ebene 145 ein Taxi erwischen. Dort war die Gegend nicht mehr ganz so übel.

Die Fahrt dauerte geschlagene zehn Minuten. Stetig düste ich aufwärts und passierte die verschiedensten Gegenden. Manchmal drangen laute Schreie oder irres Gelächter durch die Aufzugtüren. Ein andermal erschütterte eine kleine Explosion den Raum, sodass ich mich schnell an der glatten Wand festhalten musste, um nicht hinzufallen. Ich starrte auf den dreckigen Boden und bemerkte dabei, dass ich in Trollrotz getreten war. Toll! Das grüne Zeug klebte mir wie Kaugummi an der Sohle und war ätzend. »Igitt!« Schnell begann ich, den Gummi an der nackten Wand abzukratzen. Der Schleim zog lange Fäden am Metall entlang und fraß kleine Schmauchspuren hinein.

»Hör sofort auf damit oder ich schmeiße dich raus!«, krächzte plötzlich die Stimme der Hexe aus dem Lautsprecher.

Erschrocken setzte ich den Fuß ab und starrte schuldbewusst nach oben. »Äh, Verzeihung. Wird nicht wieder vorkommen!«

»Das will ich auch hoffen. Immerhin muss ich diese Sauerei dann putzen.«

O Gott, wie peinlich! Verlegen stand ich im Aufzug und versuchte, die Tatsache zu ignorieren, dass mir der Rotz ein kleines Loch in die Schuhsohlen brannte. Bei Stock 120 hielt der Aufzug plötzlich ruckelnd an. Vor Schreck biss ich mir dabei in die bereits leicht lädierte Unterlippe und schmeckte warmes Blut auf der Zunge. Schnell leckte ich es ab und runzelte die Stirn. Sollte Blut so süßlich schmecken? Eigenartig. Hm … vielleicht lag es an der Cola von vorhin? Bevor ich mich weiter über mich selbst wundern konnte, öffneten sich die Türen. Ein eisiger Luftzug zerzauste meine Haarspitzen, die unter der Kapuze hervorlugten. Drei Personen betraten den engen Raum. Innerlich erstarrte ich und beäugte die Höllenbewohner misstrauisch. Als Erstes betrat ein großer blasser Mann, um dessen schlanke Gestalt ein dunkler Ledermantel wallte, den Aufzug. Mit nahezu animalischer Eleganz stellte er sich neben mich und grinste mit einer Reihe scharfer Zähne auf mich herab. Sein weißes Hemd mit entzückenden Rüschen, die aus den Ärmeln ragten, und Blutflecken am Kragen raschelte leise, bevor eine Frau mit feuerrotem Haar und ähnlichem Outfit den Aufzug betrat. Ihre Lippen waren blass, die Mundwinkel rot verschmiert. Als sie mich bemerkte, leuchteten ihre ebenso roten Augen hungrig auf. Ein gewinnendes Lächeln trat auf ihre Lippen. Den Göttern sei Dank, sie hielt trotzdem Abstand. Der letzte Kerl des Trios war ein junger Mann von vielleicht zwanzig Jahren. Er konnte nur wenig älter sein als ich, obwohl die erschöpften Falten um seinen Mund ihn ausgelaugt und verhärmt wirken ließen. Sein Gesicht war von einer ungesunden grauen Farbe, während seine blonden Haare blutverklebt und dreckstarrend zu Berge standen. Sein Blick war demütig gesenkt. Um den Hals trug er ein mit Nieten besetztes Hundehalsband. Mein Blick huschte zurück zu dem männlichen Abaddoner, der mit langen schlanken Fingern die Nummer 144 drückte. Sie würden also die letzten Minuten mit mir nach oben fahren. Nervös blieb ich in meiner Ecke stehen und vergrub die Hände in den Hosentaschen. Die beiden anderen musterten mich. Die Frau flüsterte dem Mann etwas zu und begann haltlos zu kichern, während ihr Begleiter mich mit rot leuchtenden Augen beäugte. Es war nicht schwer zu erraten, dass die beiden Vampire waren. Ihrem Auftreten zufolge jedoch keine sonderlich alten. Ein wenig genervt verdrehte ich die Augen. Die jungen waren immer die schlimmsten. Es gab verschiedene Clane, die ihre finsteren Spielchen in einigen der unteren Etagen trieben. Diese Wesen hatten einen ausgesprochen lästigen Größenwahn. Hielten sich für stärker, schneller, schlauer und unwiderstehlicher, als sie es in Wirklichkeit waren. Dabei gaben sie sich so unmögliche Namen wie Vladimir, obwohl sie in Wirklichkeit Franz-Dieter hießen. Sie waren Jagdtiere und hungrig. Immer. Die meisten starben bereits in den ersten Wochen ihrer Existenz. Sie hatten die unglückliche Tendenz, sich gegenseitig auszusaugen, wenn der Hunger zu groß wurde. Der junge Mann an ihrer Seite musste hingegen ein Domestik sein. Ein Schoßhund. Man traf nur selten einen Vampir ohne einen oder gleich mehrere Domestiken an. Meistens waren es Menschen mit besonderen Blutgruppen oder außergewöhnlich gutem Aussehen. Dieser hier schien wohl eher zu der gut schmeckenden Sorte zu gehören. Zumindest sah er bereits ziemlich leer gesaugt aus. Beinahe tat er mir leid. Aber auch nur beinahe. Man wusste nie. Die meisten Menschen waren verrückt genug, sich freiwillig als Snack anzubieten. Der Twilight-Hype in der Menschenwelt hatte den Vampiren einen unerwartet hohen Blutvorrat und ein noch größeres Ego verschafft.

Nervös schielte ich zu ihnen und bemerkte, dass die beiden mich immer noch anstarrten. Zum Glück konnten sie mein Gesicht durch den Schatten der Kapuze nicht sehen! In Gedanken zählte ich die Sekunden, bis wir endlich die 144. Ebene erreichten. Die Luft war zum Schneiden dick und roch leicht nach salzigem Blut. Unruhig trat ich von einem Bein auf das andere und merkte, wie mein Puls stetig in die Höhe schoss. Die Vampire grinsten wölfisch. Der männliche beugte sich verschwörerisch zu mir vor. Sein Atem roch unangenehm vergoren.

»Was hat ein solch süßes Mädchen bei Sperrstunde in den unteren Ebenen zu suchen?« Seine Stimme war weich und samtig. Er klang verführerisch … lockend. Sofort fühlte ich den Drang, meinen Kopf in den Nacken zu legen und ihm meine Halsschlagader anzubieten. Gewaltsam unterdrückte ich den Impuls und zuckte stattdessen betont gleichgültig mit den Schultern. Ich war nicht unbedingt scharf auf eine Unterhaltung mit den beiden und mein Blut wollte ich ebenfalls behalten.

»Woher wisst Ihr, dass ich ein Mädchen bin?«, fragte ich daher nur flapsig und ließ seine Frage unbeantwortet. Unter meinen unförmigen Klamotten konnte ich genauso gut als schlaksiger Junge durchgehen. Wobei es tatsächlich immer schwieriger wurde, meine Kurven ausreichend zu verdecken.

Der Vampir lachte rau. Genießerisch sog er die stickige Luft in seine Lunge. »Ich kann es förmlich schmecken. Die Luft ist erfüllt von dem Duft frischer Rosen und süßen Honigs. So etwas habe ich noch nie zuvor gerochen. Du bist ein Dessert auf zwei Beinen.«

Verdammt! Knirschend biss ich die Zähne zusammen. In Zukunft würde ich mehr Parfüm benutzen müssen. Der chemische Geruch überdeckte meistens sehr effektiv den meines eigenen Körpers. Heute offensichtlich nicht.

»Wie heißt du, Mädchen?«, gurrte jetzt auch die Vampirin. Als ob ich ihr antworten würde! Inzwischen rückten die beiden mir gefährlich nahe auf die Pelle. Ihr Domestik starrte dabei nur ins Leere. Der Arme sah aus, als würde er jeden Augenblick umkippen. Dem Himmel sei Dank blieb mir eine Antwort erspart, denn der Aufzug kam laut knarrend zum Stehen. Die Türen öffneten sich. Erleichtert atmete ich auf und nahm die Beine in die Hand. So schnell ich konnte, drückte ich mich zwischen den Blutsaugern hindurch ins Freie und hastete die Straße entlang. Schlitterte um eine Ecke und brachte so viel Abstand zwischen uns, wie ich nur konnte. Diese Blutsaugeridioten waren verdammt gute Fährtenleser. Ich konnte also nur hoffen, dass die beiden satt genug waren, um kein größeres Interesse an mir zu haben. Inzwischen konnte ich ebenfalls den süßen Duft nach Rosen an mir vernehmen. Ich schnupperte weiter und … verdammt! Er ging wirklich von mir aus. Leider würde ich damit noch weitaus schlimmere Kreaturen als nur ein paar partywütige Vampire anlocken. Augenblick! Wo war ich eigentlich? Schnaufend blieb ich stehen und sah mich ein wenig genauer um. Es war das erste Mal, dass ich Ebene 144 betrat, ich hatte also nur eine vage Vermutung, wohin ich gehen musste. Soweit ich es beurteilen konnte, war ich in eines der eher unbelebteren Wohnviertel geschlittert. Die Häuser waren gedrungen. Glichen eher hölzernen Hütten als tatsächlich bewohnbaren Behausungen. Die Fenster waren mit Brettern und schwarzen Mülltüten vernagelt. Giftgrünes Graffiti verschmierte die Wände. Oder war das Schimmel? Angeekelt wich ich von einer brüchigen Mauer neben mir zurück. Der Schimmel hatte sich tatsächlich bewegt! Der nasse Lehm unter meinen Füßen, der entsetzlich nach Kloake und Erbrochenem stank, schmatzte gehaltvoll. Ein Rinnsal aus abgestandenem Wasser plätscherte an mir vorbei und verschwand in einem verrosteten Gully, um den sich ein paar Ratten in Katzengröße herumdrückten. Ihre gelben Augen sahen neugierig in meine Richtung. Die nackten Mutantenschwänze zuckten dabei. Nur schwaches Licht drang durch die dunklen Gassen. Die Luft war dick und ölig, die Fäulnis darin so säuerlich, dass ich mich sofort nach einer potenziellen Leiche am Boden umsah. Eines war klar: Ich musste so schnell wie möglich die nächste Ebene erreichen. Noch war zum Glück alles still. Beinahe zu leise, um meine angespannten Nerven wirklich zu beruhigen. Ich musste mich definitiv beeilen und aufhören, wie ein leckerer, nach Rosen duftender Braten in der Gasse herumzustehen. Gequält verzog ich das Gesicht und sah mich noch ein letztes Mal in der Passage um. Tatsächlich war das mit dem Geruch ein größeres Problem. Er war zu anziehend, zu außergewöhnlich und weckte Aufmerksamkeit, wo ich lieber unsichtbar blieb. Wie hier unten. Mein Blick blieb auf dem stinkenden Schlamm am Boden hängen. Ein Gedanke schoss mir durch den Kopf, leider drehte sich mir dabei gleichzeitig auch der Magen um.

»O beim Zeus! Bitte, lass es schnell gehen«, flüsterte ich gepresst und hob mühsam eine Handvoll schmierigen Drecks vom Boden auf. Uahhh! Der Geruch war noch viel schlimmer, wenn man ihn direkt vor der Nase hatte. Würgend schmierte ich mir das Zeug ins Gesicht und betete darum, nicht auf der Stelle tot umzufallen. Um Fassung bemüht atmete ich durch den Mund und wischte mir ein paar krabbelnde Asseln aus dem Gesicht, die mir in die Wangen zwickten. »Bäh!«, entfuhr es mir. Ruckartig zog sich mein Magen zusammen. Schnell nahm ich eine weitere Handvoll Schlamm und schmierte mir die Pampe auch auf den Pullover, bevor ich es mir anders überlegen konnte. Nur nicht hinsehen! Alles, nur nicht hinsehen! Oh, jetzt hatte ich doch hingesehen und das war definitiv kein Schokoladen-Parfait! Fluchend wischte ich mir ein letztes Mal die Hände ab, wirklich dankbar dafür, dass ich Handschuhe trug, und unterdrückte meinen Brechreiz. So! Wie kam ich jetzt am schnellsten aus dieser Ebene heraus? Da keine Aufzüge nach oben fuhren und kein einziges Taxi in Sichtweite war, musste ich wohl oder übel die altmodischen Treppen nehmen, die, ebenso wie die Aufzüge, die Ebenen miteinander verbanden und kreuz und quer durch ganz Downtown verliefen. Ich musste nur die richtige Treppe finden.

Mit einem letzten Blick über die Schulter setzte ich mich schließlich in Bewegung und senkte den Kopf. Meine Schritte hallten von den verlassenen Baracken wider, während mein Schatten lautlos über den schlammigen Boden zuckte. Niemand lief mir über den Weg, trotzdem hatte ich das Gefühl, von Dutzenden Augenpaaren beobachtet zu werden. Nervös zog ich mich tiefer in den Schatten zurück und beschleunigte meine Schritte, bis ich um eine Kurve bog und vor einer grün gestrichenen Straßenlaterne stand. Helles Licht zog sich über ein holpriges Kopfsteinpflaster. Von Weitem glaubte ich, Stimmen zu hören. Misstrauisch setzte ich meinen Weg fort und fand mich in einer langen Gasse wieder, deren hässliche Häuserzeilen sich dicht an dicht drängten. Abaddoner füllten allmählich die Straßen. Zuerst nur spärlich. Gekrümmte Gestalten, die wie ich mit eingezogenen Köpfen über die Pflastersteine huschten. Im Schatten eines Hausvorsprungs sahen mir die katzenhaften Augen eines Nachtmahrs entgegen. Misstrauisch beäugten wir uns. In seinen Augen glomm ein hungriges Leuchten auf. Sofort beschleunigte ich meine Schritte und kreuzte mit verschiedensten Wesen und Menschen den Weg. Inzwischen waren auch die Fenster der Häuser in schmutziges Licht getaucht. Der Gestank wich dem Geruch nach Bier, Essen und Sünde … sofern Sünde einen Geruch hatte. Ich sah Gargoyles, die wie graue Tauben auf den Dächern saßen. Vampire drückten sich in den schummrigen Kneipen herum und besahen sich die menschlichen Blutspender, deren Hälse übersät mit roten Bissspuren waren. Schwarze Männer, deren Silhouetten nur aus den Augenwinkeln zu erkennen waren, drängten sich um klapprige Holzstände herum. Diese verkauften, angefangen bei abgeschlagenen Händen eines Mörders bis hin zu den Tränen einer bengalischen Jungfrau, so ziemlich alles. Wenn man illegale Dinge bekommen wollte, dann auf jeden Fall hier unten. Ich sah ein paar Furien mit spitzen Nasen und vogelartigen Augen sowie eine Hydra, die lauthals um ein dreiköpfiges Huhn mit einem Bergtroll stritt. Hier und da erkannte ich auch Mutanten, deren weiße, fleischige Körper erschreckende Ähnlichkeit mit Maden hatten. Obwohl sie mit ihren drei Beinen grotesk schnell über den Pflasterstein humpeln konnten, fehlte manchen von ihnen das Gesicht. Oder sie hatten Arme an Stellen, wo es unter natürlichen Umständen keine geben sollte. Der Abschaum der Unterwelt schien sich hier unten zu versammeln, zu feilschen und zu betrinken.

Schaudernd zog ich mir meine Kapuze tiefer ins Gesicht und hielt mich eng an die Hauswände gedrückt. Möglichst unauffällig glitt ich durch die Straßen, die Augen auf jedes Wesen geheftet, dass mir zu nahe kam. Zum Glück schien mir niemand genauere Beachtung zu schenken. Die enorme Anspannung in meinen Schultern nahm langsam ab, als ich an einer heruntergekommenen Kneipe vorbeihuschte, die einen singenden Schrumpfkopf an der Eingangstür hängen hatte.

»Hey, Kleiner, wohin soll es denn gehen?«, krähte er mir ins Gesicht. Sein mickriger Kopf war an den schwarzen Haaren an einem morschen Balken festgebunden, seine Augen wie klebrige Rosinen in den knittrig-grauen Augenhöhlen eingesunken. Das Grinsen war ein wenig irre. Zögerlich blieb ich stehen. Um ehrlich zu sein, ich hatte keine Ahnung, wo ich mich befand oder wo die nächste Treppe zu den oberen Ebenen zu finden war.

»Wie heißt diese Straße?«, fragte ich daher und leckte mir nervös über die Lippen.

»Du bist in Straße 1.303, Kleiner. Hast dich verlaufen, was?« Sein verrücktes Gackern ließ einige passierende Abaddoner neugierig aufsehen.

»Pst! Nicht so laut! Ich will nur nach oben«, zischte ich nervös und sah mich um.

Dieser Warlock mit den grünen Haaren sah mich viel zu interessiert an. »Nur nach oben? Tja, das wird wohl nichts werden, Kleiner. Der Boss hat die Schotten dicht gemacht. Kein Lift, keine Treppen, keine Autos.«

Genervt presste ich die Lippen zusammen. »Ganz sicher? Überall? Ein paar Taxis müssen doch fahren!«

»Bist du taub? Kein Lift, keine Treppen, keine Autos. Wir sind hier schließlich nicht im schicken Uptown. Die Höllenhunde sind los.«

»Aber ich muss unbedingt nach oben!« Panik stieg in mir auf, während der Kopf mich krächzend auslachte. Dabei versprühte er in alle Richtungen Spucketröpfchen.

»Wenn es wirklich so wichtig ist, kannst du ja nach oben telefonieren. Vielleicht holt dich jemand ab.«

»Hier gibt es ein Telefon?«

»Gleich hinter mir, Knirps.«

Misstrauisch musterte ich das Schild der Kneipe.

Zum blutigen Helsing entzifferte ich. Eine Vampirbar. »Fuck!« Stöhnend kniff ich mir in den Nasenrücken und atmete durch. »Gibt es in der Nähe noch eine andere Bar mit Telefonanschluss?«

»Nicht, dass ich es wüsste, aber du kannst es ja mal bei den Werwölfen versuchen.«

»Bei den Göttern, bloß das nicht!«, stieß ich entsetzt hervor.

Der Schrumpfkopf gackerte. Die Nähte an seinen Lippen platzen dabei auf. »Jaaa. Der Geruch ist nicht jedermanns Sache, was? Also dann, immer hereinspaziert in die gute Stube und pass auf deinen Hals auf! An dir ist nicht gerade viel dran.« Jaulend drehte sich der Schrumpfkopf um sich selbst.

Die Tür sprang knarrend auf und wehte einen Schwall Bier und salzigen Blutgeruch nach draußen. Zögerlich zwang ich meine Füße nach vorne. Sobald ich die Schwelle überschritten hatte, wollte ich schon wieder umkehren. Leider knallte im gleichen Augenblick die Tür hinter mir zu und schloss mich in einen verrauchten Raum voller Vampire und deren Domestiken ein. Zum Glück war es so laut und voll, dass niemand mein Eintreten wirklich zu bemerken schien. Rote Lampen warfen ein gruseliges Licht auf die Tische, um die sich Dutzende von Vampiren drängelten.

Es war das erste Mal, dass ich so eine Bar betrat, von meinen Brüdern hatte ich jedoch mehr als genug Geschichten gehört, um mir vor Panik ins Höschen zu pinkeln. Und wie ich jetzt sah, waren die Geschichten auch nicht übertrieben gewesen. Gleich am ersten Tisch, direkt vor mir, spielten sechs Vampire Poker, wobei die Karten mit rotem Blut vollgeschmiert waren. Als Wetteinsatz dienten abgeschnittene Finger, deren Großteil sich vor einem Typen mit blutunterlaufenen Augen und vergoldeten Reißzähnen stapelte. Der Gute schien in seinem Beruf einen ausgezeichneten Zahnersatz zu bekommen. Kreaturen seiner Art litten häufig unter schlechter Zahnhygiene und solch goldene Reißzahnimplantate, wie der Typ sie hatte, waren unfassbar teuer.

So unauffällig wie möglich drückte ich mich an ihnen vorbei und suchte eine Telefonzelle. Tatsächlich entdecke ich auch eine. Leider am anderen Ende. Ganz toll. Zwischen mir und einem Anruf nach oben lagen also nur gut hundert beschwipste Blutsauger. Einer von ihnen schien bereits einen über den Durst getrunken zu haben, denn er stürzte direkt vor mir von seinem Stuhl und erbrach lautstark eine karmesinrote Lache auf meine Schuhe. »Bäh.« Hektisch den Fuß schüttelnd, wich ich zurück und rempelte eine Kellnerin an, die mir einen giftigen Blick zuwarf.

»Sorry!« Stammelnd rettete ich mich an den Tresen und machte einen weiten Bogen um die Betrunkenen. Dabei stieß ich jedoch versehentlich gegen einen Tisch, auf dem sich zwei halb nackte Menschenfrauen rekelten. Ihre Körper waren beinahe kunstvoll zerbissen und zwei Vampirfrauen beugten sich über ihre Bäuche und schlürften Blut aus den Bauchnabeln. Die Umstehenden grölten, als die Vampirinnen sich genüsslich das Blut von den Lippen leckten und danach in eine Zitrone bissen. O Gott! Dieses Bild würde mir für sehr lange Zeit nicht mehr aus dem Kopf gehen. Bevor ich selbst noch als diese Zitrone herhalten musste, legte ich an Tempo zu und verließ den überfüllten Raum auf der Suche nach einem anderen Telefon. Ein muffiger Gang mit einer Unisex-Toilette erwartete mich. Irgendwo dort drin konnte ich jemanden kotzen hören. Neben der Toilette war ein altes schwarzes Münztelefon angebracht. Die Teile gab es wirklich noch? Stirnrunzelnd kramte ich die Centmünzen aus meiner Hosentasche und warf sie ein. Dabei wählte ich Hades’ Handynummer – 666, hahaha – und hielt vor Anspannung die Luft an. Es knackte. Ein Tuten war zu hören. Danach noch eines. Und noch eines. Ein erneutes Knacken erklang, bis die volltönende Stimme des Totengottes aus dem Hörer schallte. »Das ist der Anschluss von Hades-Pluton-Adamastos-Ameilichos-Iphthimos-Pelorios-Krateros-Stygeros-Apotropos-Aidelos-Melas-Kyanochaites-Hennichos-Phonios. Totengott und Herrscher der Unterwelt. Herrscher der unterirdischen Gefilde und Reichtümer.« Im Hintergrund hörte ich meine eigene Stimme hervorschallen. »Dad! Du musst nicht all deine Namen sagen. Hades reicht.«

»Aber so heiße ich!«

»Hades reicht!«

»Was macht ihr da?« Die Stimme meines Bruders Madox mischte sich ein.

»Deine Schwester behauptet, ich soll in dieses Handy sprechen, um den Leuten mitzuteilen, dass ich keine Audienz gewähren kann!«

»Aha? Im Klartext?«

»Er versucht, eine Ansage auf den AB zu machen!«

»Krass! Und warum hält er dann das Telefon verkehrt?«

»Willst du mich beleidigen, Sohn? Ich bin ein allmächtiger Gott! Schrecken der Unterwelt, ich halte dieses Ding nicht … oh …«

Ein Knacken war zu hören, gefolgt von Madox’ unterdrücktem Kichern.

»Daddy, das Band läuft noch. Sprich endlich was drauf.«

»Na schön!« Dem folgte ein gequältes Seufzen. »Das ist der Anschluss von Hades, nur Hades. Leider bin ich im Augenblick damit beschäftigt, verlorene Seelen zu quälen. Hinterlassen Sie mir also keine Nachricht, ich bin ein beschäftigter Gott und habe nicht die Zeit, mit jedem zu reden.«

»Daddy!«

»Was denn? Stimmt doch! Ich …«

Ein Piepen war zu hören. Das Band lief. Frustriert legte ich auf und wählte erneut.

»Das ist der Anschluss von Hades-Pluto …«

Krachend drückte ich das Telefon auf die Gabel und schloss die Augen. Verdammt, verflucht. Hades ging nicht ans Handy und rief prinzipiell nicht zurück. Höchstwahrscheinlich, weil er nicht wusste, wie das ging. Was sollte ich jetzt machen? Ein wenig hilflos sah ich mich in der Vampirbar um. Vielleicht konnte mir jemand helfen oder … Mein Blick blieb an ein Paar rot glühenden Augen hängen, die mich hungrig und leicht betrunken anstarrten. Vor Schreck rutschte mir das Herz in die Hose.

Es war der Vampir aus dem Fahrstuhl. »Scheiße!«, alarmiert starrte ich ihn an. Er lehnte am Tresen. Sein Blick war verschwommen und glasig, sein Mund rot verschmiert. Innerlich hoffte ich, dass er zu bluttrunken war, um noch wirklich Interesse an mir zu zeigen, doch leider schien mir das Universum ein weiteres Mal auf den Kopf zu kacken.

»Na, so was! Wen haben wir denn da? Wenn das nicht Schicksal ist. Die Blume von vorhin!« Sein hungriges Schnurren stellte mir sämtliche Nackenhaare auf. Unauffällig schielte ich in Richtung Tür und setzte mich im Krebsgang in Bewegung. Der Typ schnurrte wieder genüsslich. Geschmeidig stieß er sich vom Tresen ab.

»Du bist der Möchtegern-Dracula aus dem Fahrstuhl«, erwiderte ich trocken. Ich wollte tough und abgebrüht klingen. Auf keinen Fall wie Beute, der man hinterherjagen wollte. Leider zitterte meine Stimme dabei vor Nervosität. Der Vampir grinste und entblößte eine Reihe langer weißer Zähne. Er schien definitiv keine Reißzahnprothesen zu brauchen.

»Weil wir ja alte Bekannte sind, Schätzchen, gebe ich dir einen Vorsprung von … sagen wir mal … fünf Sekunden, bevor du meine Zähne in deinem duftenden kleinen Hals wiederfindest.« Seine Augen leuchteten auf.

Ich war nicht so dumm, dieses Angebot abzuschlagen. Die Gier stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. Der Blutrausch hatte den Wahnsinn in seinen Augen längst freigesetzt. Mit pochendem Herzen und schwitzenden Händen spannte ich die Beine an und rannte los. Dabei stieß ich Vampire und Menschen von mir, die erschrocken aufschrien. In meiner Hektik rammte ich mit der Schulter die Theke, während ich über einen Bewusstlosen am Boden sprang. Dabei rutschte ich beinahe in der erbrochenen Blutlache aus. Schlitternd stieß ich die Tür auf und schnappte nach Luft. Frische Luft! Der Vampir hinter mir lachte und begann zu zählen: »Eins, zwei …« Bei drei war ich bereits um die nächste Ecke gebogen. Ob ich schneller laufen konnte als er, würde sich noch zeigen. Ich bezweifelte es. Meine Kondition war wirklich miserabel. Angespannt rannte ich und schubste achtlos Leute zur Seite. Beschimpfungen flogen mir an den Kopf, als ich in eine dunkle Gasse einbog. Dabei erspähte ich eine große Mülltonne. Meine Rettung! Obwohl ich dank des Straßenschlamms sowieso schon wie eine Müllhalde stank, würde die Tonne vielleicht gänzlich meinen Geruch kaschieren. Zumindest genug, dass er mich nicht finden konnte. Außerdem ging mir langsam die Puste aus. Ich hatte bereits Seitenstechen bekommen und schnaufte wie ein Rhinozeros.

Wagemutig bog ich ab, knallte den speckigen Mülltonnendeckel nach oben und kroch hinein. Der allumfassende Geruch ließ mich würgen. Knietief versank ich in dem Zeug, das ich gar nicht näher identifizieren wollte. Es war ekelhaft, jedoch meine einzige Chance, nicht als Sushi zu enden. Davonlaufen konnte ich jedenfalls nicht. Bei den Göttern, was war das nur für ein Tag? Ich spitzte die Ohren. Dennoch hörte ich die schnellen Schritte des Vampirs. Sie kamen näher. Direkt vor meinem Versteck verklangen sie plötzlich. Geräuschvoll konnte ich ihn durch seine Nase einatmen hören. Angestrengt hielt ich die Luft an. Seine Füße scharrten unentschlossen. Mein Herz flatterte. Kalter Schweiß brach mir am Rücken aus. Der Vampir schnüffelte und stieß ein lautes Würgen aus.

»Verdammt«, hörte ich ihn murmeln, bevor sich seine Schritte wieder entfernten, schneller wurden und schließlich gänzlich verschwanden. Dunkle Flecken tanzten vor meinen Augen, als ich zischend die angehaltene Luft ausstieß. Eine Weile blieb ich noch im Müll sitzen und lauschte, ob der Blutsauger zurückkam. Als alles still blieb, kroch ich mühsam aus der Tonne und starrte auf die Straße vor mir. Sie war leer. Alles weiterhin still, von dem Flügelflattern der Gargoyles über mir einmal abgesehen. Neben mir stapelten sich ein paar muffige Kartons, in denen das Quieken von mutierten Ratten zu hören war. Aber kein Vampir. Erleichtert sog ich die frische Luft in meine Lunge und pflückte mir … na ja, etwas aus den Haaren. Himmel! Nur eine Stunde auf dieser Ebene und ich hätte beinahe meinen Kopf verloren und war mit Scheiße und der kleinen Schwester von Scheiße beschmiert. Ich würde nie, nie, nie wieder in die Hölle zurückgehen! Oder mich mit Gladis anlegen. Meine Ohren zuckten, als ich plötzlich Schritte hinter mir hörte. Weiche, ja, geschmeidige Schritte, die sich schnell näherten. Ohne zu überlegen, sprang ich auf und rannte wieder los. Stolperte nach vorne. Orientierungslos bog ich ab und kollidierte mit einer granitharten Wand. »Uff!« Meine Nase knackste, als ich ruckartig am Boden aufschlug. Erstaunlicherweise fiel die Wand mit mir um. Ich kreischte auf und fuchtelte mit den Armen. Meine Hand klatschte dabei auf nackte Haut.

»Aua! Verdammt noch mal. Was soll das?«, blaffte mich eine Stimme an. Ahh! Panik! Monster, Vergewaltiger! Ich wollte nicht als Sushi enden.

Kein Vampir würde an meiner Vene nuckeln. Wild entschlossen beugte ich meine Knie und rammte ihm die Füße in den Bauch.

»Heilige Scheiße!« Der Körper über mir krümmte sich und ich schaffte es tatsächlich, ihn so abzuschütteln. Blitzschnell sprang ich auf und wollte davonrennen. Leider packte mich eine Hand am rechten Bein und brachte mich erneut zum Stolpern. Hart landete ich wieder auf dem Boden und spürte, wie meine Zähne aufeinanderschlugen. Blut füllte meinen Mund. Meine Sonnenbrille zersplitterte.

»Lass mich los!« Panisch schüttelte ich mein Bein. Doch der Angreifer zog mich ungerührt zu sich heran. Zwei Arme packten meine eigenen und fixierten diese hinter mir. Danach platzierte er auch noch ein Knie auf meinem Rücken. Ächzend spuckte ich Blut auf den Boden und hustete.

»Teufel! Was bist du denn für ein Typ?«, brüllte jemand, was jetzt, wo ich keine Chance mehr hatte, noch davonzulaufen, ein wenig komisch klang. Der Vampir von vorhin war es jedenfalls nicht. Stockend hielt ich inne und versuchte, meinen Angreifer aus dem Augenwinkel zu sehen.

»Na also, geht doch!«, schnaufte die Stimme. Sie klang voll und weich, nicht alt, aber auch nicht jung. Sein Knie hielt mich weiterhin brutal am Boden. Ein leiser Schmerzensschrei entfuhr mir. Der Griff lockerte sich. »Sag mal, bist du ein Mädchen?«

»Lass mich los!«, spie ich aus.

Der Mann fluchte laut. »Ein Mädchen! Das hat mir gerade noch gefehlt.« Es klang wie das Knurren eines Raubtiers. Tief und gefährlich, ein Tonfall, bei dem sich mir alle Nackenhaare aufstellten. Der Mann löste abrupt seinen Griff um meine Handgelenke, packte stattdessen meine Hüfte und stellte mich mit erstaunlicher Kraft auf die Füße. Ein wenig desorientiert von so viel Herumgewirbel stolperte ich nach vorne und wurde ziemlich grob an seine breite Brust gerissen. Aha, die Wand von vorhin.

»Schön! Dann müssen wir uns eben beide verstecken. Du machst keinen Mucks, hast du verstanden, Mädchen? Ein Pieps und ich schlitz dir die Kehle auf.« Entsetzt klappte mir der Kiefer runter. Mein Blick wanderte von besagter Wandbrust aus nach oben. Bevor ich jedoch die Chance bekam, etwas Dummes zu tun, nämlich seine Warnung auf die Probe zu stellen und mein Knie genüsslich in seine Weichteile zu stoßen, hob er auch schon eine Hand und drückte mir diese gegen den Mund. Lautlos verschwanden wir in der Gasse, aus der ich ursprünglich gekommen war. Viel zu grob presste er uns gegen eine kalte Wand. Mein Hirn schien von all dem Adrenalin einen Kurzschluss zu haben. Was war denn das jetzt? Gleich zwei Angreifer in nicht mal zwanzig Minuten? Die Hölle war wirklich durchgeknallt.

Ein kleines Wimmern entfuhr meinen Lippen, das sofort von seiner großen Hand verschluckt wurde. Mein Körper kribbelte, als hätte er überempfindliche Nerven entwickelt, die jede Bewegung des fremden Mannes registrierten. Sein breiter Brustkorb hob sich genauso schnell wie meiner. Seine Hände waren lang und schmal. Sie sahen verstörend jung aus, obwohl sich Dutzende von feinen Narben über die helle Haut spannten. Ein herber Geruch nach Ozon und Kupfer stieg mir in die Nase. Der Fremde musste irgendwo bluten. Vielleicht war es aber auch mein eigenes Blut, weil ich mir bei dem Sturz die Wange aufgebissen hatte. Minuten vergingen, in denen wir einfach nur bekloppt aneinandergepresst an der Wand standen und warteten. Worauf? Ich hatte verflucht noch mal keine Ahnung! Mein Körper sträubte sich mit jedem Atemzug gegen die erzwungene Umarmung. Ich wurde so gut wie nie berührt! Niemand bei klarem Verstand berührte mich freiwillig. Und als Geisel gehalten zu werden, das war nun wirklich nicht gerade der Knüller. Warum musste ich auf dieser Ebene auch ausgerechnet den zwei beklopptesten Typen ganz Abaddons über den Weg laufen? Warum?

Als würde der Fremde meinen inneren Zwist mitbekommen, blickte er auf mich herab. Beinahe glaubte ich, ihn mitleidig lächeln zu sehen.

»Tut mir leid, Mädchen«, flüsterte er mir ins Ohr. Meine Kapuze verdeckte zum Glück immer noch mein Gesicht, also konnte er mich nicht erkennen. Dennoch spürte ich seinen forschenden Blick auf mir ruhen. Ängstlich schielte ich in seine Richtung und stockte. Bei genauerem Hinsehen war der Mann wunderschön. Ein anderes Wort fiel mir dazu nicht ein. Seine Gestalt war, wie bereits vermutet, groß und schlank. Die Haut glich blassem Alabaster, allein unterbrochen von einer feinen Narbe, die sich quer über seine rechte Augenbraue zog. Die Wangenknochen hoben sich messerscharf hervor. Wie in Stein gemeißelt. Die Augen groß und dermaßen hellgrau, dass sie wie silberne Spiegel wirkten. Perfektioniert wurde das Ganze von einer geraden und eleganten Nase. Die vollen Lippen, öffneten sich unter jedem angestrengten Atemzug. Sein Haar war halblang und fiel ihm in sanften Locken über den Nacken und in die Stirn. Das einzig Seltsame daran war die Farbe. Sie glänzten blau! In der Dunkelheit wäre es mir beinahe nicht aufgefallen, doch die weichen Locken schimmerten ohne jeden Zweifel in einem dunklen Mitternachtsblau. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Die Mundwinkel des Fremden zuckten amüsiert, als könnte er meinen Blick auf seinem Gesicht spüren. Doch sein Ausdruck blieb so kühl wie die Schneide eines Messers. Seine Augen strahlten Eiseskälte aus und beinahe glaubte ich, so etwas wie kleine elektrische Blitze durch seine Haare hindurchhuschen zu sehen.

»Wenn die Wachen an uns vorbei sind, werde ich dich gehen lassen. Du wirst laufen und dich kein einziges Mal nach mir umdrehen«, befahl er mir leise. Die Arroganz in seiner Stimme ging mir sofort auf die Nerven. Seine Hände krampften sich noch eine Spur fester um meinen Mund. Wenn er weiter so zudrückte, würde mir langsam die Luft ausgehen. »Wenn du ein schlaues Mädchen bist, wirst du niemandem von unserer Begegnung erzählen. Verstanden?« Er schüttelte mich wie ein unartiges Hündchen. Im Augenblick hatte ich nicht übel Lust, ihm auf die Schuhe zu pinkeln. Natürlich nur im übertragenen Sinne. Trotzdem nickte ich, bevor lautes Hundegebell und das Brüllen von Männerstimmen die Dunkelheit unseres Verstecks durchbrachen. Der junge Mann presste mich an sich.

»Showtime«, flüsterte er mir leise ins Ohr, als auch schon die bulligen Körper der Höllenhunde an uns vorbeihetzten. Geifer und scharfe Zähne glänzten im Licht der Straßenlaternen. Ihre großen Leiber verschmolzen beinahe nahtlos mit der schmutzigen Straße. Ich starrte die Hunde an, die knurrend stehen blieben und lauschten. Ihre großen Ohren zuckten nervös, während die Flanken schweißnass vor Anstrengung bebten.

»Ich rieche ihn! Er ist weitergelaufen«, knurrte schließlich einer. Ich kannte ihn. Sein Name war Bloodclaw. Er war der Sicherheitsmann meines Vaters. Die Hunde grollten unentschlossen. »Ich sagte, hier entlang!«, befahl Bloodclaw und schnappte nach den Hinterläufen eines anderen Hundes. Dieser zog augenblicklich den Schwanz zwischen die Beine und senkte den bulligen Kopf. »Der Gefangene darf uns nicht entwischen, er ist seit zwei Tagen auf freiem Fuß!«, bellte Blood­claw und rannte staubaufwirbelnd weiter. Die Meute der Bluthunde schoss hinter ihm her, während ihr lautes Gebell gewaltsam die Nacht zerschnitt. Mein Herz hämmerte schmerzhaft gegen den Brustkorb. Der Geschmack nach Blut wurde intensiver, während ich meinem Geiselnehmer einen schnellen Blick zuwarf. Es bestand kein Zweifel. Die Hunde suchten nach ihm! War er etwa der Grund dafür, dass die Stromversorgung und sämtliche Ausgänge in der Unterwelt gekappt worden waren? Wütend biss ich die Zähne zusammen. Wenn ja, war ich nur wegen diesem Arschloch hier unten und hatte mich in einer dreckigen Mülltonne vor einem durchgeknallten Vampir verstecken müssen. Und wegen ihm musste ich mich nun auch noch vor den Hunden meines eigenen Vaters verstecken.

Mein zuvor erloschener Kampfgeist kehrte mit aller Macht zurück. Er wollte mir die Kehle durchschneiden? Dann musste er vorher meinen Arschtritt überleben. So schnell ich konnte, holte ich aus und stieß meinen Ellbogen in seinen Magen. Der Fremde schien von dem plötzlichen Angriff dermaßen überrumpelt, dass er mich keuchend losließ.

»Was?«, verblüfft griff er erneut nach mir, doch ich riss mich von ihm los und trat ihm, so fest ich konnte, gegen das Schienbein. Was ihn, zu meinem maßlosen Ärger, nicht einmal fluchen ließ. Er starrte mich nur ziemlich, ziemlich wütend an. Seine lächerlich perfekten Nasenflügel blähten sich und er warf mir einen solch kalten Blick zu, dass ich eine Gänsehaut bekam. Giftig funkelte ich zurück.

»Das ist alles deine Schuld!«, fuhr ich ihn an und schlug zu. Leider fing der Junge mühelos meine Finger auf und drückte mich erneut mit brutaler Gewalt gegen die Wand. Es rumste heftig. Sterne kreisten um meinen Kopf, während Steinbröckchen auf uns rieselten.

»Was immer du gerade vorhast, tu es nicht!« Seine Augen waren kalt und hart und dabei so wunderschön, dass sich mein Magen zusammenzog. Das fahle Licht beleuchtete die Kanten seines Kiefers und schnitt seine engelsgleichen Züge hart entzwei.

»Verdammter Bastard, lass mich los! Du bist derjenige, den sie suchen! Wegen dir musste ich zu Fuß gehen. Ich werde allen sagen, wo du bist.«

»Das wirst du nicht!«, fauchte er. Seine Stimme klang wie das warnende Grollen eines Raubtiers und diesmal sah ich eindeutig Blitze durch seine Haare zucken. Was war das? Sein Griff wurde von Sekunde zu Sekunde schmerzhafter. »Wie willst du es verhindern? Indem du mich tötest?«, höhnte ich mit mehr Mut als Verstand. Innerlich verdrehte ich über meine eigene Dummheit die Augen.

Toll, Warrior! Genau so was sagt man zu durchgeknallten Typen, die gerade aus dem Gefängnis ausgebrochen sind.

»Ganz genau!«, spie mir der Mann eiskalt ins Gesicht.

Innerlich begann ich zu wimmern. Nach außen hin funkelte ich ihn weiterhin nur wütend an. Wow, meine eigene Blödheit überraschte mich manchmal selbst. »Ich werde dich töten und ich werde es grausam machen, wenn du nicht sofort still bist.«

»Zur Hölle mit dir«, zischte ich und spuckte ihm direkt ins Gesicht. Was machte ich denn da für einen Blödsinn? Mir mein eigenes Grab schaufeln? So hirnverbrannt war ich doch sonst nicht!

Der Fremde hob ungerührt die Augenbraue. Allein sein Unterkiefer spannte sich bedrohlich an. Seine Finger zuckten, als müsste er sich davon abhalten, mir sofort den Kopf abzureißen.

»Du hast keine Ahnung, wer ich bin«, sagte er schließlich. Seine Worte waren eiskalt und emotionslos. Der kaltblütige Ausdruck in seinen Augen ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Es war, als würde sich hinter seinen Pupillen eiskalte Leere befinden. Dunkel und absolut leblos.

»Du bist ein Frauen-als-Geisel-nehmender-Bastard-ohne-Eier«, erwiderte ich bissig.

Ein amüsiertes Lächeln huschte über sein Gesicht. »Man hat mir schon schlimmere Namen gegeben. Warum riechst du eigentlich nach Rosen, die in eine Jauchegrube gefallen sind?«

Wütend öffnete ich meinen Mund, wurde jedoch von einem tiefen, lang gezogenen Knurren unterbrochen. Der Fremde erstarrte, bevor sein Kopf alarmiert zur Seite schnellte. In der Gasse, direkt hinter uns, lauerte ein riesiger Höllenhund. Seine roten Augen leuchteten triumphierend. Geifer tropfte von seinen Lefzen, als er pirschenden Schrittes auf uns zuschlich. Seine Krallen schabten lange Rillen in den Boden.

»Hab ich dich doch gerochen, Missgeburt. Der Herr wird mich für diesen Fund fürstlich belohnen. Da kannst du dich noch so lange hinter deinem Frauchen verstecken.«

Der Fremde fluchte aufgebracht. »Das wollte ich nicht, Mädchen«, raunte er mir beinahe entschuldigend ins Ohr, während er sich langsam hinter mich schob.

»Trotzdem, lieber du als ich.«

»Was?« Verwundert öffnete ich den Mund. Im gleichen Augenblick sprang der Höllenhund unter ohrenbetäubendem Gebell nach vorne. Sein schwerer Körper schnellte vorwärts, seine Krallen waren in voller Länge ausgefahren. Vollkommen überrumpelt spürte ich einen heftigen Schubs im Rücken und stolperte nach vorne. Der Höllenhund landete auf mir und verbiss sich in meine Kehle. Ich sah Sternchen. Scheiße, tat das weh! Mein gesamter Körper fiel in Schockstarre, als die scharfen Zähne mein Fleisch zerrissen und der Fremde auf den Fersen umdrehte und davonrannte.

Warrior & Peace

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