Читать книгу Keks-Mord. Ein Hanseaten-Krimi - Stella Michels - Страница 8
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„Oh, du kleiner Rosenkohl …“ Frieder Westermann stand singend in der Küche am Herd. Aus der oberen Etage des Hauses hörte er fröhliches Kinderlachen, das sich in hohes Quietschen steigerte. Frieder grinste. Er war glücklich. Kann es für einen Mann mit siebenundvierzig Jahren etwas Schöneres geben, als Vater von Zwillingen zu werden? Die Mutter seiner Kinder, Anna Thomsen, hatte er vor eineinhalb Jahren in seiner Dienststelle BKI Flensburg kennen und lieben gelernt. Anna Thomsen war Kriminalkommissarin und sie wurde seine Kollegin.
Die Aufklärung eines Totschlagdelikts schweißte das Team Westermann-Thomsen eng zusammen. Ende des vorletzten Sommers war beiden Kommissaren klar, dass sie nicht nur wegen des zu erwartenden Nachwuchses zusammenbleiben wollten. Mit einem weinenden und einem lachenden Auge hatte Frieder sein komfortables Hausboot verkauft und war mit Anna in sein Elternhaus an die Ostseite der Förde gezogen. Sein Arbeitsweg war nun etwas länger. Dafür freute er sich jeden Abend auf das nach Hause kommen. Heute war es ihm trotz chronischem Personalmangel im BKI gelungen, pünktlich Feierabend zu machen. Während Anna die Zwillingsmädchen Marina und Valentina badete und in die Betten legte, bereitete Frieder das Abendessen vor. Die Vaterschaft hatte ihm figürlich zu gut getan, denn die wenigen Kilos, der er während der aufregenden Werbephase um Anna verloren hatte, waren längst als unübersehbare Bauchrundung zurückgekommen. Während Annas Schwangerschaft wurden Anna und Frieder zeitweilig von Dritten gefragt, wer von ihnen beiden denn nun die Kinder bekäme? Obwohl Frieder nach wie vor glühend in seine attraktive und schlaue Frau verliebt war, nahm er seine figurschädigenden Essgewohnheiten wieder auf. Heute hatte er Appetit auf Spiegeleier und er entschied, ganz unkompliziert Stramme Mäxe zuzubereiten. Anna hatte ein Faible für dieses Rezept, wobei man von einem mit Butter bestrichenem Landbrot, das mit rohem Holsteiner Schinken belegt und mit Spiegeleiern gekrönt wurde, kaum von einem Rezept sprechen konnte.
Frieder deckte den Tisch und rief nach oben in den ersten Stock: „Seid ihr fertig?“
„Ich bin gleich bei dir. Kannst die Eier schon in die Pfanne hauen.“
Frieder und Anna aßen in der gemütlichen Küche, deren Fenster über die Terrasse einen Blick – wenn es hell gewesen wäre – auf die Flensburger Förde gestattet hätte.
„Was machen die beiden? Schlafen sie schon? Ich wollte sie doch noch zur Nacht knuddeln.“
„Nein, die werden uns heute noch unterhalten. Ich war heute Morgen mit ihnen beim Kinderarzt – es ist alles okay – und heute Mittag haben sie lange geschlafen. Ich habe aber trotzdem nicht das geschafft, was ich mir vorgenommen hatte.“
Anna seufzte. Das Leben mit zwei temperamentvollen Kleinkindern war aufregend und anstrengend. Häufig, wenn Anna dachte, jetzt ist mal fünf Minuten Ruhe, passierte etwas Unvorhergesehenes. Anna war ständig dabei, sich selbst zu überholen und kam doch nicht vorwärts.
„Okay. Dann esse ich erst in Ruhe. Kochst du mir einen Tee, während ich oben bin?“
„Ja, mach ich. Und dann müssen wir endlich die Entscheidung treffen, was wir Weihnachten machen.“
Frieder scherzte: „Wollen wir in die Karibik fliegen?“
„Du weißt genau, dass ich meinte, ob wir hier feiern oder mit den Mädchen zu meinen Eltern nach Pellworm fahren. Helma kommt am Samstag und das ist schon übermorgen.“
„Freu dich, wenn meine Mutter hier ist, hast du Entlastung.“
„Ja, schon … Wir verstehen uns ja gut und mit den Mädchen kommt sie prima klar. Ich habe aber noch genug vor Weihnachten zu erledigen. Und ich möchte gerne wissen, was wir essen wollen zu Weihnachten, wenn wir hierbleiben?“
Während Frieder seinen Töchtern Schlaflieder vorsang, räumte Anna das benutzte Geschirr in die Spülmaschine. Sie war so müde und am liebsten würde sie schlafen gehen. Die Geburt der Kinder lag fast ein Dreivierteljahr zurück und Anna fühlte sich abends so bleiern und schwer, als würde sie im kommenden Juli Achtzig und nicht Vierzig werden. Und irgendwie war sie auch in dem Haus, das sie mit Frieder bewohnte, noch nicht richtig angekommen. Die letzten zwei Jahre waren auch mehr als turbulent verlaufen. Sie hatte sich von einem zur Polygamie neigenden Partner getrennt und sich deshalb aus ihrer Heimatstadt Husum in die Dienststelle nach Flensburg versetzen lassen. Dort traf sie auf Frieder und ehe Anna sich versah, waren Frieder Westermann und Anna Thomsen nicht nur beruflich ein Paar, sondern auch privat. Als sie schwanger wurde, zog sie zu Frieder auf sein Hausboot an der Flensburger Förde. Dann machten sie sich auf die Suche nach einem Haus, das nicht nur ruhig und mit Blick auf die Förde gelegen sein, sondern auch geeignete Schulen in der Nähe haben sollte. Das Unterfangen war aussichtslos; vor allem weil Frieder sehr anspruchsvoll war. Schließlich stand sein Elternhaus auf einem Top-Grundstück mit eigenem Strandzugang in der Nähe eines Yachthafens. Frieders Mutter, eine vitale und modern denkende selbständige Frau, machte der Haussuche ein Ende. Sie überschrieb ihrem Sohn und seiner Partnerin den stilvollen Bungalow an der Ostseite der Förde. Helma Westermann folgte der Einladung einer ehemaligen Nachbarin und guten Freundin, diese auf der Kanareninsel Fuerteventura zu besuchen.
Als Frieder von seinen temperamentvollen Töchtern als Gute-Nacht-Singer entlassen wurde, schlief Anna auf der Couch vor dem Fernseher. Judith Rakers berichtete während der Tagesschau für Anna völlig überflüssig, was in der Welt passiert war.
Frieder schaltete den Fernseher aus, er würde später Tagesthemen gucken. Jetzt wollte er mit Anna reden. Sonst würden sie, noch bevor die Mädchen laufen konnten, eines dieser Paare werden, die nicht mehr miteinander reden und gleichgültig gegenüber den Belangen und Bedürfnissen des Partners nebeneinander, aber nicht miteinander leben.
Frieder wollte mit Anna gemeinsam müde sein, die Töchter erziehen und aufwachsen sehen. Und er wollte im Frühling wieder mit Anna segeln gehen. Wie lange war es schon her, das er und Anna den Abend und die Nacht im Bett verbrachten, sie sich mit einer Intensität liebten, die atemlos machte und Frieder zwischendurch aufstand und etwas zu Essen und Champagner ans Bett holte? Es schien Frieder, dass solche Nächte mit seiner Frau in einem anderen Leben stattgefunden hatten. Gerne würde er, wenn die Kinder schliefen, abends einfach früh ins Bett gehen und den Zauber der ersten Verliebtheit aufleben lassen. Aber irgendwie war jeder Tag um Stunden zu kurz und er zu müde.
Frieder küsste Anna zart auf die Wange.
„Mm? Habe ich etwa geschlafen? Ach, Frieder tut mir leid. Der Tee ist fertig.“
„Ja, das sehe ich. Du wolltest vorhin mit mir über die Feiertage reden. Ist das noch aktuell?“
„Ja. Ach – nein. So dringend ist es auch wieder nicht. Erzähl mir, Lieber, was heute im BKI los war.“
Im Frühling war Frieder Westermann befördert worden. Der langjährige Dienststellenleiter Manfred Hansen ging in den wohlverdienten Ruhestand und er hatte Frieder Westermann als geeigneten Leiter der Bezirkskriminalinspektion Flensburg – kurz BKI – vorgeschlagen; nicht zuletzt aufgrund Frieders langer Dienstzeit, seiner großen Erfahrung und zahlreichen Ermittlungserfolgen und natürlich wegen seiner Beliebtheit bei den Kollegen.
Fast zeitgleich mit dem Wechsel seiner Position wurden seine Töchter geboren; er wurde Vater und Chef. Seine Hoffnungen, mit der neuen Position geregelte Arbeitszeiten zu haben und nicht mehr im Außendienst zu ermitteln, zerschlugen sich. Im Gegenteil: Er hatte mehr denn je um die Ohren; privat wie auch beruflich.
Seine ehemalige Stelle als Kriminalhauptkommissar war mit einem neuen Mitarbeiter zu besetzen. Darüber hinaus fehlte Anna aufgrund des Erziehungsjahres. Und um die Misere im Amt zu vervollständigen, fiel auch Sören Schneider, sein langjähriger Kollege und Segelfreund, wegen eines Knöchelbruches für mehrere Monate aus.
„Ich habe Aussicht auf eine Vertretung für Sören Schneider. Das ist zumindest etwas. Die Trick- und Taschendiebe machen uns in der Weihnachtszeit viel Arbeit. Du weißt, dass deine Stelle und vor allem du, meine Liebe, nicht zu ersetzen sind?“
Frieder zog seine Frau dicht an sich und legte den Arm um Annas zierlichen Oberkörper. Ihre dunklen Locken kitzelten ihm am Hals. Frieder liebte den besonderen Anna-Geruch, der in ihrem Haar haftete. Ganz nah an ihrer Schläfe sagte er: „Kennst du einen Christian Meier?“
„Aus Husum?“
„Hmh.“
„Ein neuer Kollege?“
„Hmhmh. Frag doch nicht so viel. Kennst du ihn?“
„Leider.“
Frieder spürte, dass Anna ihre entspannte Lage veränderte. Anna hätte sich ohrfeigen können, als sie zugab, Christian Meier zu kennen. Sie kannte ihn sehr gut. Er war der Mann, der sie vor fast zwei Jahren nach Strich und Faden betrogen und ein Kind mit einer Kollegin gezeugt hatte. Daraufhin hatte sich Anna nach Flensburg versetzen lassen. Was sich im Nachhinein als absoluter Glücksfall herausstellte. Ihr Kollege und Partner im Dienst, Frieder Westermann, war nicht nur der Vater ihrer Zwillingsmädchen, sondern der Mann, mit dem sie alt werden wollte.
„Es hat heute einen Toten gegeben. Ich war aber nicht am Tatort. Die Kollegen sollen erst die Vorarbeiten machen, ich kann nicht mehr so viel im …“
„Ein Mord?“
„Ich vermute es – die Spurensicherung ebenfalls. Ich muss bis morgen warten. Fakt ist, der Tote roch nach Marzipan oder Mandeln und das deutet auf Kaliumcyanid hin. Entweder hat er Suizid begangen oder aber er ist vergiftet worden. Dann ist der Täter vermutlich eine Frau.“
Anna verstand. Frieder sprach von Zyankali, das in Verbindung mit Magensäure Blausäure freisetzt, die den intensiven Geruch nach frischen Mandeln verströmt. Bei einem erwachsenen Menschen beträgt die tödliche Dosis etwa 140 mg Cyanid. Das Gift wirkt innerhalb weniger Minuten tödlich. Nach einer Bewusstseinstrübung setzt Atemstillstand und daraus folgend Herzstillstand ein. Giftmorde wurden häufig von Frauen begangen.
„Wenn ich dir was helfen kann, sag es mir.“
„Du hast genug zu tun und ich sehe, du bist genauso erschöpft wie ich auch. Irgendwie müssen wir unseren Tagen mehr Stunden geben oder Zeitdiebe ausschalten.“
„Kann ich mich klonen lassen? Eine Anna für die Kinder und den Haushalt und eine Anna nur für dich!“ Anna lächelte Frieder an.
„Tolle Vorstellung, zwei von deiner Sorte. Lass das mal lieber. Ich könnte mich ja nicht zwischen euch entscheiden. Eine Anna reicht mir vollkommen.“
Frieder atmete tief aus und trank den letzten Schluck Tee aus seinem Becher.
„Was ist an Post gekommen?“
„Nur Reklame und deine Segelzeitschrift DIE YACHT. Ich habe sie dir auf den Schreibtisch gelegt. Sag mal, hast du das vorherige Heft noch nicht gelesen?“
„Nein. Wann sollte ich das denn tun? Ich bin im Sommer ja nicht mal mehr zum Segeln gekommen.“
Bislang haben Frieder und Anna kurze Segeltörns mit ihren beiden Piratenjollen auf der Flensburger Förde unternommen. Und für gelegentliche Wochenendtörns in die nahe gelegene Dänische Südsee konnten sie sich von Segel-Vereins-Freunden ein komfortables Fahrtenschiff leihen. Die Überlegung, ein eigenes Fahrtenschiff anzuschaffen, war bei Frieder nicht neu. Sie scheiterte jedoch am Zeitmangel und letztendlich an den finanziellen Möglichkeiten. Jetzt hatte er den Verkaufserlös vom Hausboot und keine Hypothekenraten für sein Wohnhaus zu zahlen, weil seine Mutter auf eine Bezahlung des Hauses verzichtet hatte. Frieder und Anna suchten ein Schiff, das neben guten Segeleigenschaften ausreichend Platz für zwei Erwachsene und zwei quirlige Kinder bot. Und bezahlbar sollte es auch sein.
„Ich nehme mir die Hefte morgen mit ins Büro; vielleicht kann ich mal zwischendurch reinsehen. Bist du denn mit der Suche nach einer Kinderfrau weitergekommen?“
Seit ein paar Wochen suchten Anna und Frieder händeringend eine kompetente Frau, die vormittags oder abends nach Absprache die Mädchen betreuen sollte. Leider klafften zwischen Annas und Frieders Ansprüchen und der Wirklichkeit auf dem Stellenmarkt Welten. Frieder und Anna stellten sich eine reife Frau, die Kinder hat oder hatte und nach Möglichkeit eine Ausbildung im Erziehungswesen, vor.
Anna verdrehte die Augen und schüttelte mit dem Kopf: „Du glaubst gar nicht, wer sich als Kinderfrau berufen fühlt. Wenn ich dir die E-Mail-Adressen der Bewerber und Bewerberinnen zeigte, könnte es passieren, dass du deine Kollegen von der Sitte einschaltest. Heute bewarb sich eine Frau, eigentlich eher ein Mädchen von Achtzehn, die nannte sich @HotAngel und war nicht in der Lage, einen Satz fehlerfrei zu schreiben. Wahrscheinlich liegen ihre Qualitäten auf einem anderen Gebiet. Die Krönung war allerdings eine Mail von einem jungen Mann. Ich habe eigentlich nichts gegen eine männliche Kinderfrau oder heißt es dann Kindermann? Also, ich hätte ja nichts gegen einen Mann, wenn die Chemie zwischen ihm, uns und den Kindern stimmte. Was ich sagen wollte“, Anna lachte, „der Bewerber bot auch Putzarbeiten, die er Oben-Ohne verrichten wollte, an.“
Frieder reagierte humorlos, „Das kommt überhaupt nicht in Frage! Wir geben unsere Kinder nicht für fünf Minuten in unqualifizierte und unreife Hände!“
„Liebling! Es ist gut. Natürlich geben wir unsere Sonnenscheinchen nur in Hände, denen wir absolut vertrauen. Vielleicht haben wir Glück und finden bald das, was wir suchen.“
Frieder wechselte das Thema: „Was kommt denn im Fernsehen?“
„Ein Brennpunkt zum Thema des Fleischskandals von vorgestern.“
„Ich kann es nicht mehr hören! Schon wieder ist was mit unserem Essen! Wie und wo soll der Verbraucher denn noch seinen Lebensmittelbedarf decken und wer kann die hohen Preise für Bioprodukte bezahlen?“ Frieder erwartete keine Antwort von Anna. Sie waren sich einig, was gesunde Ernährung betraf. Nach Möglichkeit deckten sie ihren täglichen Lebensmittelbedarf in einem Hofladen, der zu einem konventionellen Landwirtschaftsbetrieb ohne Massentierhaltung gehörte. Anna und Frieder wussten, dass auf diesem Hof kein Etikettenschwindel betrieben wurde. Und die Produkte waren bezahlbar.
Jetzt fragte Frieder: „Gibt es nichts Gemütliches in der Glotze, etwas zum langsamen Absacken?“
„Meinst du heile Welt ohne Action und Mord und Totschlag?“
„Das weißt du doch! Ich habe im BKI genug mit Diebstahl und Gewaltdelikten zu tun.“
„Dann schalt doch bitte auf das Dritte. Da läuft die Serie des NDR ‚Land im Gezeitenstrom‘. Hat zwar schon angefangen, aber das macht ja nichts. Volker Lechtenbrink ist der Sprecher…“
Die fantastischen Bilder des Gezeitenlandes zwischen den Ostfriesischen Inseln, die Trägheit und Ruhe der Inselorte, grünes, weites Land und weiße Wattewolken, die schafherdengleich über den ostfriesischen Himmel wanderten sowie die beruhigende Stimme von Volker Lechtenbrink gaben den ohnehin erschöpften Eltern den Rest.
Kurz vor zweiundzwanzig Uhr wachte Anna auf. Hatte da eines ihrer Kinder geweint? Frieder schnarchte leise neben ihr auf der Couch.