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3. Kapitel

Der Prinzipat

Im Jahre 31 v. Chr. siegt Oktavian (63 v. Chr.–14 n. Chr.), der spätere Kaiser Augustus, über Antonius und Kleopatra in der Seeschlacht bei Actium. Dieser Sieg markiert den Wandel des römischen Weltreichs von einer Republik zu einem Kaiserreich. Die Römer beherrschen nun beinahe den ganzen Umkreis der alten Welt: West- und Südeuropa, Kleinasien, den vorderen Orient, Ägypten und Nordafrika. Die Ausdehnung des Machtbereichs stellt sie vor Aufgaben, die mit den verfassungsrechtlichen Instrumentarien der Adelsrepublik nicht mehr zu bewältigen sind. Seit Ende des 2. Jahrhunderts v. Chr. mussten große Heeresverbände aufgestellt werden, die in den entferntesten Teilen der Welt operierten. Dies führte zur Konzentration militärischer Macht in der Hand einzelner Aristokraten. Sulla, Pompeius oder Caesar waren solche Aristokraten, die mit ihren Heeresverbänden das republikanische Staatsgebilde erschütterten. Folgerichtig endete das letzte Jahrhundert der Republik mit seinen außen- und innenpolitischen Konflikten im Prinzipat des Augustus 27 v. Chr. Das Wort princeps blieb bis in die Spätantike hinein die häufigste Bezeichnung für den Kaiser. Augustus hatte das Wort gewählt, weil er nichts anderes sein wollte als der erste Bürger einer freien Stadt, in der es einzelnen nicht gestattet ist, sich als Herren über alle anderen emporzuschwingen. Die Wahl des Wortes hat insoweit eine strategische Bedeutung.

Augustus bewahrt durch weise staatspolitische Maßnahmen die Gesellschaft vor dem Niedergang und legt die Grundlage für das jahrhundertelange Fortbestehen des römischen Reiches. Er stellt im Inneren des Reiches Ruhe und Ordnung wieder her und verhindert durch eine Verbesserung der Provinzialverwaltung, dass die Provinzen zum Ausbeutungsobjekt der Statthalter und der römischen Hochfinanz herabgewürdigt werden. Er bringt den Handel mit dem Orient wieder in Gang und [<<79] schafft die Grundlage für ein großes Straßennetz. Die durch seine Maßnahmen eintretende Erholung der Wirtschaft kommt auch den weniger vermögenden Teilen der Bevölkerung zugute. Der Wirtschaftsaufschwung geht Hand in Hand mit einer kulturellen Blüte. Man bezeichnet die Zeit des Augustus als das goldene Zeitalter der römischen Literatur, in dem Autoren wie Vergil, Horaz, Ovid, Tibull und Properz wirken. Auch die bildenden Künste, insbesondere die Architektur, erleben in dieser Zeit einen großen Aufschwung.

1. Libertas, potestas und auctoritas

Freiheit (libertas) gehört seit den Anfängen der republikanischen Epoche zu den leitenden Begriffen der römischen Gemeinschaftsordnung. Den Zeitgenossen des Augustus ist die Schreckensherrschaft des letzten etruskischen Königs Tarquinius Superbus ebenso in lebendiger Erinnerung geblieben wie das Schicksal Caesars, von dem behauptet wurde, er habe sich offen zum König (rex) ausrufen lassen wollen. Augustus ist daher bestrebt, so bescheiden wie möglich aufzutreten und seine Regierungsform von Königtum und Diktatur klar abzugrenzen. Ein berühmtes Zeugnis seiner ‚Bescheidenheit‘ bietet der von ihm verfasste Rechenschaftsbericht. Den Text hat man 1555 an den Innenwänden der Vorhalle eines Augustus-Tempels in Ankara entdeckt. Nach seinem Fundort heißt er Monumentum Ancyranum. In § 34 der Inschrift lässt Augustus verlautbaren:

In meinem sechsten und siebten Konsulat, nachdem ich den Bürgerkriegen ein Ende gesetzt hatte, habe ich, der ich mit Zustimmung aller die höchste Gewalt erlangt hatte, den Staat aus meinem Machtbereich wieder der freien Entscheidung des Senats und des römischen Volks übertragen. Für dieses mein Verdienst bin ich durch Senatsbeschluß Augustus genannt worden … Danach überragte ich zwar alle an Ansehen, Macht aber besitze ich seitdem nicht mehr als die anderen, die meine Kollegen in irgendeinem Amt waren oder noch sind.

Neben der Annuität, dem Jahreswechsel leitender Beamter, bildet die Kollegialität ein weiteres Prinzip, dem die Beamtenschaft in der [<<80] republikanischen Epoche unterstellt war. Man vermutet, dass sie gegen Ende der Ständekämpfe im 3. Jahrhundert v. Chr. eingeführt worden ist. Die Kollegialität war ursprünglich als Kontrollmechanismus gedacht, der ein allzu großes Anwachsen der Macht einzelner Beamten verhindern sollte. Augustus behauptet nun, er habe im Jahre 27 v. Chr. alle Gewalt den verfassungsmäßigen Organen zurückgegeben und nach Bereinigung der politischen Konflikte die Republik fortgeführt. An potestas (Gewalt) habe er nicht mehr besessen als seine ranggleichen Kollegen, nur an auctoritas habe er alle überragt. Neben libertas (Freiheit) zählt die mit Autorität nur unzureichend übersetzte auctoritas zu den wichtigsten Begriffen der römischen Gemeinschaftsordnung. Der Begriff entstammt dem altrömischen Privatrecht und sei hier noch einmal in Erinnerung gerufen: Bei der Veräußerung im Wege einer mancipatio gewährleistet der Verkäufer (auctorem esse), dass er auch wirklich Eigentümer der verkauften Sache ist. Diese Gewährleistung (auctoritas) ist für den Käufer wichtig, weil er im Falle einer Nichtberechtigung des Veräußerers befürchten muss, dass sich ein Dritter, nämlich der wirkliche Eigentümer, meldet und die bereits bezahlte Sache herausverlangt. Der Glaube des Käufers an die Veräußerungsbefugnis bildet also das Gegenstück zur auctoritas des Verkäufers (S. 36). Auch außerhalb des Privatrechts gewährleistet derjenige etwas, der auctoritas hat. Allerdings ist hier der Inhalt der Gewährleistung kaum fassbar, er bezieht sich viel stärker auf die Person, die auctoritas hat.

Auctoritas ist eine Art des sozialen und politischen Prestiges, im Falle des Augustus wahrscheinlich sogar charismatische Autorität, die nach den Feststellungen Max Webers „stets eine irgendwie religiöse Weihe an sich“ trägt.12 Darauf verweist der in der Inschrift erwähnte Senatsbeschluss: Nach altrömischer Tradition muss die durchs Volk vollzogene Königswahl durch Zeichen der Götter bestätigt werden (auguratio). Schon die Einsetzung des ersten Königs Romulus erfolgte nach der Überlieferung im Wege einer solchen Auguration. Als man nun im Jahre 27 v. Chr. [<<81] nach einem Ehrennamen für den Prinzeps suchte, dachte man zunächst an Romulus. Mit der Wahl dieses Namens hätte der Prinzeps aber den Vorwurf riskiert, er wolle die Stellung eines Königs für sich in Anspruch nehmen. Unter offenbarer Anspielung auf augurium wählte man daher „Augustus“. Ohne an die Person eines Königs zu erinnern, verweist der Name Augustus auf den Segen jener höheren Instanzen, die bei Begründung charismatischer Autorität regelmäßig mit im Spiel sind. So kann sich Augustus als „erster Bürger“ (princeps), als primus inter pares präsentieren, den nur die auctoritas aus dem Kreis ranggleicher Beamten (collegae) heraushebt. Tatsächlich aber gab es im Prinzipat kein politisch einflussreiches republikanisches Organ mehr, das nicht durch die Zuständigkeit des Prinzeps überlagert worden wäre. Augustus verschleiert also seine tatsächliche Machtposition, wenn er sie ausschließlich auf auctoritas zurückführt. Bei republikanisch gesinnten Juristen wie etwa M. A. Labeo (2. Kapitel 5.3, S. 71) ist die durch Augustus geschaffene neue Ordnung daher auf wenig Gegenliebe gestoßen. Die Fachliteratur hat immer wieder die Frage aufgeworfen, ob der Staat des Augustus schon als Monarchie oder noch als Republik zu betrachten sei. Inzwischen hat sich die Auffassung durchgesetzt, es habe sich um ein Zwischengebilde gehandelt, das Elemente beider Staatsformen enthielt.

2. Römisches Juristenrecht unter dem Prinzipat

Augustus hat die Juristen wiederholt zur Mitarbeit an der von ihm geschaffenen neuen Ordnung aufgerufen. Man wird darin keinen bloßen Beschwichtigungsversuch erblicken können. Denn die Maßnahmen des Augustus führten zu einer erheblichen Verstärkung des Einflusses der Juristen auf die Rechtspflege. Die wichtigste Verbindung zwischen Kaisertum und Jurisprudenz ist dadurch entstanden, dass Augustus herausragenden Juristen das ius respondendi verliehen hat. Dabei handelt es sich um das Privileg, juristische Gutachten ex autoritate principis, also mit der Autorität des Augustus, zu erstellen. Das Privileg erhebt das Gutachten eines mit ius respondendi ausgestatteten Juristen zur Quelle autoritativen Rechts. Der Richter wird davon kaum jemals abgewichen sein, es sei denn, [<<82] ein Gegengutachten hat ihn zu einer eigenen Entscheidung gezwungen. Nach den Ausführungen des Gaius (I, 7) begründet das ius respondendi eine Kompetenz zur Rechtsschöpfung (iura condere): Den Ansichten der Juristen komme die Bedeutung einer selbständigen Rechtsquelle und damit Gesetzeskraft zu, wenn sie übereinstimmten. Noch heute bildet die „herrschende Meinung“ eine wichtige Grundlage zur Legitimation richterlicher Entscheidungen. Die Geschichte des Rechts lehrt, dass dieses Phänomen seinen Ursprung im Bereich der Rechtsquellenlehre hat. Neben dem ius respondendi gibt es noch weitere Faktoren, die auf eine enge Verbindung von Kaisertum und Jurisprudenz schließen lassen. So kommt es in der auf Augustus folgenden Zeit immer häufiger vor, dass Juristen als Beamte des Prinzeps mit wichtigen Verwaltungsaufgaben des Imperiums betraut werden. Erheblichen Einfluss auf die Rechtspflege und die Rechtspolitik des Kaisers gewinnen einzelne Juristen zudem dadurch, dass sie als Mitglieder des kaiserlichen Rates (consilium principis) berufen werden (s. u.).

Wie die Juristen der republikanischen Epoche sind auch die Juristen der Kaiserzeit Praktiker der Rechtsanwendung. So überrascht es nicht, dass nicht alle Juristen Fachliteratur veröffentlicht haben. Doch wird der „literarische Ausweis“ (Liebs) im Laufe der Zeit immer wichtiger. Wie im Grunde noch heute sind in der Literatur vier Gattungen zu unterscheiden: Kommentar, Lehrbuch, Monographie und Fallsammlungen oder kasuistische Literatur (HLL 4, §§ 410 ff.). In der Kaiserzeit gewinnt die Erstellung von Gutachten weiter an Bedeutung, die nunmehr in großen Sammlungen mit überwiegend kasuistischem Charakter ediert werden (2. Kapitel 5.2, S. 70). Daneben steht die Kommentarliteratur, insbesondere der Großkommentar. Den Basistext bilden nun nicht mehr die Zwölf Tafeln, sondern grundrissartige Darstellungen oder Lehrbücher früherer Juristen. Kommentiert werden darüber hinaus Edikte der Jurisdiktionsmagistrate, vornehmlich der Stadtprätoren. Das Edikt des Fremdenprätors ist, soviel wir wissen, nur ein einziges Mal, und zwar von Labeo (2. Kapitel 5.3, S. 71), kommentiert worden. Bedeutung haben nach wie vor die Monographien, in denen einzelne Rechtsgebiete oder Rechtsinstitute umfassend erörtert werden. Im 2. Jahrhundert n. Chr. tritt neben die stark praxisorientierte Jurisprudenz eine vorwiegend auf [<<83] Unterricht und Schule ausgerichtete Nebenströmung. Diesem Seitenzweig der Klassik entspringt eine eigene Literaturgattung: die „Unterweisungen“ (institutiones). Dabei handelt es sich um Anfängerlehrbücher, in denen auch theoretische Fragen angesprochen werden.

Auch das Werk des Gaius (S. 87) gehört zu dieser Literaturgattung. Gaius gilt als der beste Überlieferer und Vollender des ‚äußeren Systems‘ des Privatrechts, dessen Gliederung er von älteren Juristen vermutlich übernommen hat. Seine Institutionen gehen von der obersten Einteilung in personae (Rechtssubjekte), res (Rechtsobjekte) und actiones (‚Handlungen‘, Prozess) aus und beziehen in die erste Kategorie das Personen- und Familienrecht, in die zweite das Sachen-, Erb- und Obligationenrecht und in die dritte die Rechtsgeschäfte ein. Von dieser Einteilung führt eine direkte Linie zu den 5-Bücher-Systemen vieler Pandektenlehrbücher und nicht zuletzt auch des deutschen Bürgerlichen Gesetzbuchs (16. Kapitel 3, S. 347.) und anderer neuzeitlicher Kodifikationen (13. Kapitel 3, S. 287.). In einer umgewandelten Form liegt das Schema personae-res-actiones (Personen-Sachen-‚Handlungen‘) dem Allgemeinen Teil des BGB zugrunde. Bei Gaius findet sich zudem eine erste, freilich noch wenig ausgearbeitete Gliederung des Schuldrechts in Vertrag (obligationes ex contractu) und Delikt (obligationes ex delicto). Wie viele andere kontinentaleuropäische Kodifikationen beruht auch das BGB (2. Buch) auf dieser Einteilung. In der Spätklassik, vor allem bei Ulpian und Paulus, fließt die schulmäßige Nebenströmung mit der auf Praxis bezogenen Hauptströmung zusammen. Die römische Jurisprudenz hat ihren Ruhm vornehmlich der praxisorientierten Hauptrichtung zu verdanken. Ihre Stärken liegen in der kunstgerechten Bewältigung schwieriger Einzelfälle. Die Anteile von schulmäßiger Ordnung und theoretischer Reflexion dürfen jedoch nicht unterschätzt werden.

Das Zivilrecht der Zeit des frühen Prinzipats ist das klassische römische Recht. Es kann sich weitgehend ungehindert von obrigkeitlichem Zwang entfalten und jene Spitzenleistungen erbringen, die seine universale und überzeitliche Geltung ausmachen. Das römische Recht der klassischen Epoche ist das Recht einer entwickelten Schriftkultur. Davon zeugt nicht nur die dissonante Vielstimmigkeit, mit der die Juristen zu brisanten Rechtsfragen Stellung nehmen (S. 111), sondern auch die große Anzahl [<<84] rivalisierender und aufeinander reagierender Literaturgattungen. Dass sich später ganz unterschiedliche Staaten und Gesellschaften am römischen Recht orientieren können, liegt auch daran, dass die römischen Juristen rational bestimmte, technisch ausgefeilte und von den formellen Beschränkungen struktureller Mündlichkeit weitgehend entbundene Rechtsfiguren entwickelt haben. Hinzu kommt, dass es ihnen gelungen ist, rechtliche Begriffe zu formulieren, die zwischen Abstraktion und Konkretion die Mitte halten. Die Eigenart dieser Begriffe besteht darin, dass sie – wie „Dogmatik“ – jenseits von Gesetzgebung Verbindlichkeit entfalten können. Es handelt sich um Begriffe, die den Grundsätzen der Freiheit (libertas) entsprungen sind und die noch heute als Muster einer freiheitlichen Entwicklung dienen. Die Rechte, die wir gegenwärtig als Ausdruck bürgerlicher, persönlicher oder individueller Freiheit verstehen – etwa Vertragsfreiheit, Minderjährigenschutz, Freiheit des Eigentums, Testierfreiheit, Gleichberechtigung der Frau im Vertrags- und Erbrecht, Gebot von Treu und Glauben, Billigkeit (aequitas), Verbot arglistigen Verhaltens – sind schon den Römern selbstverständlich gewesen.

Unter den veränderten Bedingungen des Prinzipats erscheint der Begriff des Juristenrechts in einem neuen Licht. Gewiss darf auch bereits die interpretatio der Pontifices als Juristenrecht bezeichnet werden und ebenso die in der prätorischen Praxis geschaffenen Neubildungen, an denen Fachjuristen ja bereits Anteil haben. Genau genommen sind aber nur diejenigen Rechtsnormen Juristenrecht, die von der Jurisprudenz nicht durch Vermittlung der Jurisdiktionsmagistrate, sondern unmittelbar in ihrer Gutachtertätigkeit und ihrer literarischen Produktion geschaffen werden. Die Anerkennung der Autorität der Rechtsgelehrten (auctoritas prudentium) als eigenständige Rechtsquelle führt zu der Frage nach dem Verhältnis des Juristenrechts zum ius civile und zum ius honorarium (2. Kapitel 3.2, S. 64). Man könnte hier das Bestehen eines Konflikt- oder Konkurrenzverhältnisses vermuten. Dazu ist es aber zu keiner Zeit gekommen, weil die Juristen seit jeher ius civile und ius honorarium gleichermaßen bearbeitet haben.

Während des Prinzipats gewinnen die Kaiser zunehmend Einfluss auf die Gerichtsbarkeit. Dies veranlasst Kaiser Hadrian um 130 n. Chr., das Amtsrecht der Prätoren (und der kurulischen Ädilen) vom Senat als [<<85] Senatsbeschluss abschließend festlegen zu lassen (edictum perpetuum). In der Folgezeit kommt es zu einer Erweiterung des Spektrums kaiserlicher Rechtsetzungsakte (3. Kapitel 4, S. 88.). An Bedeutung gewinnen insbesondere die Konstitutionen (Edikte, Dekrete), die formal zunächst als Bestandteil des ius honorarium und später des ius civile angesehen werden (vgl. Gaius I, 5). Bei Abfassung der Konstitutionen (constitutiones) lassen sich die Kaiser von ihrem mit Juristen besetzten consilium beraten (s. o.). Die kaiserliche Rechtsprechung und Rechtsetzung bleibt also weiterhin mit der römischen Jurisprudenz eng verknüpft. An den strukturellen Unterschieden von ius honorarium und ius civile hat man über die Zeit des Prinzipats hinaus festgehalten. Erst im 5. Jahrhundert kommt es zu einer Verschmelzung der beiden Stoffgebiete. Als einheitliches Juristenrecht (ius) treten sie den Kaisergesetzen (leges) nunmehr als Antipode gegenüber.

3. Römische Juristen der Hoch- und Spätklassik

Von der gesamten klassischen Jurisprudenz haben wir allein durch die Institutionen des Gaius direkte Kenntnis. Autoren, wie seine Zeitgenossen Julian oder Pomponius, oder wie Papinian, Paulus und Ulpian, die vierzig oder fünfzig Jahre nach ihm lebten, kennen wir fast ausschließlich durch das Gesetzgebungswerk des Kaisers Justinian (4. Kapitel 4, S. 109). Die einzelnen Juristen fügen sich so sehr in die Tradition der römischen Jurisprudenz ein, dass ihren Äußerungen fast jede individuelle Note fehlt. Savigny hatte sie daher als „fungible“, d.h. austauschbare Personen bezeichnet (Beruf 157 – dazu näher 14. Kapitel, S. 299). Neuere Versuche, von dieser Einschätzung loszukommen, haben das Gesamtbild bislang kaum verändern können.

Kennzeichen der römischen Juristen der hochklassischen Zeit ist ihre meisterhafte Kunst der Entscheidung von Einzelfällen. Zu den glanzvollsten Namen gehören zwei Juristen, die hauptsächlich unter Kaiser Hadrian (117 – 138 n. Chr.) wirken: Celsus und Julian (Iulianus). Das Hauptwerk des Celsus bilden die vornehmlich kasuistisch angelegten 39 libri digestorum. Auf ihn geht eine Reihe bekannter Aussprüche zurück, z. B. die berühmte Definition des Rechts als ars boni et aequi (Kunst des [<<86] Guten und Gerechten) oder die zeitlos gültige Regel scire leges non hoc est verba earum tenere, sed vim ac potestatem (Gesetze kennen heißt nicht, ihre Worte kennen, sondern ihren Sinn und Zweck). Celsus gehört zu den letzten Schulhäuptern der Prokulianer (2. Kapitel 5.3, S. 71). Dagegen ist der etwas jüngere, in Nordafrika geborene Julian (um 100–um 170) ein Haupt der sabinianischen Rechtsschule. Über seine vielfältige und glänzende Ämterfolge sind wir durch die Inschrift einer Bildsäule unterrichtet, die ihm seine Heimatstadt gesetzt hat. Neben Labeo hat Julian die dogmatische Entwicklung des römischen Rechts am meisten geprägt. Zahlreiche bislang ungeklärte Streifragen sind durch ihn endgültig entschieden worden. Das außerordentliche Ansehen, das Julian schon zu Lebzeiten genoss, zeigt sich auch darin, dass Hadrian ihn damit beauftragte, das Edikt des Prätors abschließend zu redigieren (S. 85 f.). Sein Hauptwerk ist im Corpus iuris (4. Kapitel 4, S. 109) auszugsweise überliefert. Bei der vielleicht bedeutendsten Schrift eines römischen Juristen handelt es sich um die 90 Bücher umfassenden digesta, eine Sammlung von Rechtsfällen über zahlreiche Themen, insbesondere aus dem Privatrecht.

Von den hochklassischen Meistern der Rechtsanwendung zu unterscheiden sind Juristen, die den Unterricht in den Mittelpunkt ihrer schriftstellerischen Arbeit rücken. Hierzu gehört der bereits mehrfach genannte Pomponius, ein Zeitgenosse Julians. Pomponius ist sehr produktiv gewesen, seine Schriften übertreffen an Zahl und Umfang die der meisten übrigen römischen Juristen. Von den verschiedenen Werken sei besonders sein Enchiridium (Handbuch, wahrscheinlich ein Einführungslehrbuch) hervorgehoben. Der wichtigste Teil des auszugsweise im Corpus iuris wiedergegebenen Werks ist eine rechtsgeschichtliche Einleitung (D. 1.2.2), auf die vorstehend bereits wiederholt Bezug genommen wurde. Eine noch größere Wirkung hat freilich der ebenfalls schon mehrfach erwähnte Gaius (2. Jahrhundert) auf die Nachwelt ausgeübt. An erster Stelle seines Werks stehen die um 161 n. Chr. veröffentlichten Institutionen (3. Kapitel 2, S. 82.). Es wird vermutet, dass im 5. Jahrhundert von den Institutionen noch einige Exemplare in Umlauf waren. Der Historiker Barthold Georg Niebuhr (1776 – 1831) hatte im Jahr 1816 das Glück, auf eines dieser Exemplare in der Stiftsbibliothek von Verona zu [<<87] stoßen. Gaius zeigt sich wiederholt als Anhänger der Sabinianer (vgl. z. B. III, 141). Sein Ansehen ist unter den großen römischen Klassikern offenbar nicht allzu groß gewesen, da sie ihn nirgendwo zitieren.

Am Anfang der Spätklassik steht mit Papinian (um 150 – 212) eine herausragende Persönlichkeit, die an die besten Leistungen der klassischen Rechtswissenschaft anknüpft. Die Hauptwerke Papinians sind quaestiones (Rechtsfragen, hier kasuistisch-dogmatische Erörterungen) und responsa (Gutachten), von denen einige Fragmente auch außerhalb des Corpus iuris erhalten sind. Papinian wird 212 auf Befehl Caracallas hingerichtet, weil er nicht bereit ist, des Kaisers Mord an dessen Bruder und Mitkaiser Geta zu rechtfertigen. Auf Papinian folgt eine Zeit, in der das Sammeln und Ordnen des klassischen Rechts zur Hauptaufgabe wird. Die wichtigsten Juristen dieser Zeit sind Paulus und Ulpian (3. Jahrhundert). Von den überaus zahlreichen Schriften des Paulus haben die großen Kommentare zu den iuris civilis libri III des Sabinus (2. Kapitel 5.3, S. 71) und zum prätorischen Edikt sowie die aus seiner Respondiertätigkeit hervorgegangene Gutachtensammlung (responsa) und die ebenfalls der Tradition der hochklassischen Kasuistik verpflichteten quaestiones (Rechtsfragen) besondere Bedeutung. Der etwas jüngere, 223 bei einem Aufstand der Prätorianergarde ermordete Ulpian ist ein Schüler Papinians. Sein Hauptwerk sind die beiden, unter Caracalla geschriebenen großen Kommentare zum prätorischen und zum ädilizischen Edikt sowie zu den iuris civilis libri III des Sabinus. Auch Ulpian steht in höchstem Ansehen: Mehr als die Hälfte aller in Justinians Digesten aufgenommenen Auszüge aus Juristenschriften sind Fragmente der Schriften von Paulus und Ulpian. Etwa zwei Drittel davon entfallen auf Ulpian. Gerade die einführenden und grundlegenden Erörterungen zu den einzelnen Sachtiteln der Digesten sind häufig den Kommentaren des Ulpian entnommen.

4. Rechtsquellen unter dem Prinzipat

Auf Grund der Abneigung der Römer gegen eine umfassende Gesetzgebung bietet das römische Recht ein breites Spektrum unterschiedlicher Rechtsquellen. Die Rechtsquellen des altrömischen Rechts waren [<<88] Zwölftafelgesetz, Zivilrecht und Legisaktionen (2. Kapitel 2, S. 61.). Letztere sind später durch die Edikte der Prätoren und kurulischen Ädilen verdrängt worden (2. Kapitel 3, S. 62.). Hinzu kommen die Volksgesetze (leges publicae populi Romani). Sie werden in Form von Gesetzen (leges) oder Plebisziten (plebiscita) erlassen, wobei letztere anfänglich nur für Plebejer gelten. Seit der Lex Hortensia (286 v. Chr.) sind die Plebiszite den leges offiziell gleichgestellt, verpflichten also auch die Patrizier (Pomp. D. 1.2.2.8). Daneben werden auch Beschlüsse des Senats (senatus consulta) und Gutachten der Rechtsgelehrten (responsa prudentium) als Rechtsquellen anerkannt (Gaius I, 2).

Der princeps beeinflusst die Rechtsfortbildung auf höchst unterschiedliche Weise, vor allem durch Entscheidungen von Einzelfällen (decreta), durch Antwortschreiben auf Eingaben (rescripta), durch Dienstanweisungen an Beamte (mandata), durch öffentliche Verordnungen (edicta) und durch Antworten auf Anfragen von Beamten oder Institutionen (epistula). Formell stehen ihm keinerlei Gesetzgebungsbefugnisse zu. Seine Erlasse sind aber vermöge der kaiserlichen Autorität als verbindliche Rechtsquelle anerkannt, gleichgültig ob sie als decretum, rescriptum, mandatum, edictum oder epistula ergangen sind. Später werden sämtliche kaiserlichen Rechtsetzungen als Konstitutionen (constitutiones) bezeichnet. Die vielleicht interessanteste Erscheinungsform kaiserlicher Rechtsetzung sind die Reskripte (rescripta). Den Anlass zur Entstehung dieser Art von Rechtsquellen bilden Anfragen, Petitionen, Bittschriften u. Ä., die von Beamten oder Bürgern an den Kaiser herangetragen werden. Die Antwortschreiben (rescripta) werden vom eigens dafür eingerichteten Büro a libellis der kaiserlichen Kanzlei ausgefertigt. Sie unterscheiden sich in einem wichtigen Punkt von anderen Rechtsgutachten. Während letztere auf der fachlichen Autorität des Gutachters ruhen, steht hinter den Schreiben der kaiserlichen Kanzlei die Staatsgewalt.

Die Reskriptenpraxis ist aber erst im 2. und 3. Jahrhundert zur wichtigsten Gattung kaiserlicher Rechtsetzung geworden (4. Kapitel 1, S. 100.). Augustus bevorzugt für seine Reformgesetzgebung die streng legitime Form des Volksgesetzes. Unter Augustus ist es noch einmal zu einer beträchtlichen Zahl von Volksgesetzen auf den verschiedensten Rechtsgebieten gekommen. Einen besonderen Rang nimmt hier seine Ehegesetzgebung [<<89] ein (3. Kapitel 5, S. 95.). Die regelmäßige Form des Gesetzes sind im Prinzipat aber nicht die Volksgesetze, die nur zu Anfang noch erlassen werden, sondern Senatsbeschlüsse. Während der Republik besaß der Senat nur die Befugnis, die Ausführung der Gesetze durch autoritative Auslegung zu regeln. Er gab den Jurisdiktionsmagistraten verbindliche Anweisung über die Handhabung ihrer Rechtsprechung. Diese Kompetenz erstarkt in der Kaiserzeit zur förmlichen rechtserzeugenden Gesetzgebungsgewalt. Seit dem 1. Jahrhundert n. Chr. übernimmt der Beschluss des Senats (Senatus consultum) die Rolle, die vorher das Volksgesetz gespielt hat.

4.1 Das Senatus Consultum Velleianum als Beispiel

In der Mitte des ersten Jahrhunderts n. Chr. ergeht auf Antrag der Konsuln Silanus und Vellaeus ein Senatsbeschluss, den wir nach einem der Antragsteller Senatus Consultum Velleianum nennen. Die Frauen sind inzwischen rechtlich weitgehend selbständig, sie können für ihren Mann auch ein Darlehn aufnehmen oder für dessen Verbindlichkeiten eine Bürgschaft übernehmen. Das Senatus Consultum Velleianum bildet ein frühes Beispiel dafür, dass eine konsequente Durchführung der Gleichberechtigung auf die Interessen der Frauen negativ zurückschlagen kann.13 So kommt es zu Versuchen, zugunsten der Frau erneute Differenzierungen zwischen den Geschlechtern ins Spiel zu bringen. Durch den Senatsbeschluss werden [<<90] die Gerichte angewiesen, keine Ansprüche gegen Frauen zuzulassen, die sich darauf gründen, dass diese für Schulden ihres Mannes eintreten (intercessio). Häufigstes Beispiel ist – bis heute – die Übernahme einer Bürgschaft durch die Frau. In der Handhabung durch die klassischen römischen Juristen wurde das Verbot der Fraueninterzession auf ein breites und buntes Spektrum von Fallgruppen bezogen, in denen die Frau sich entweder neben dem Mann verpflichtete oder privativ dessen Schuld übernahm. Die somit erfassten Rechtshandlungen bezeichnete man als intercedere pro aliis (Eintreten für andere). Im 6. Jahrhundert n. Chr. hat Justinian (4. Kapitel 4, S. 109.) das Verbot der Fraueninterzession durch eine rege Gesetzgebungstätigkeit erheblich verkompliziert. Dabei wurde die Möglichkeit geschaffen, dass eine Frau durch eidliche Bekräftigungen auf den Schutz des Senatus Consultum Velleianum verzichtet. In der Praxis hat dieses Recht auf Verzicht erhebliche Bedeutung gewonnen. Das Interzessionsverbot galt auch im europäischen Recht des Mittelalters und in der Neuzeit. Es war zu allen Zeiten umstritten. Der Grund liegt in seinem ambivalenten Charakter: Man kann es ebensogut als Bevormundung wie als Schutz begreifen.

Nach dem Untergang der Antike wurde das Interzessionsverbot bis in die Neuzeit überwiegend geschlechtsspezifisch legitimiert. Nicht selten hat man dabei auf angebliche Dummheit (imbecillitas) und Schwäche (infirmitas) des weiblichen Geschlechts rekurriert, die es erforderten, Frauen vor Geschäften in Schutz zu nehmen, deren Vermögensrisiken sie nicht überblicken können. Erklärtes Ziel war es zudem, den Rechtsverkehr vor der Unzuverlässigkeit weiblicher Geschäftspartner zu bewahren. In der Epoche des Naturrechts (12. Kapitel, S. 261) hat man weniger auf Verstandesdefizite abgestellt und mehr Erziehung oder Wirkungskreis der Frau als Ursachen für ein spezielles Rechtsschutzbedürfnis angeführt. Daneben hat man sich aber weiterhin auf angebliche Charaktereigenschaften wie Leichtsinn, Weichheit oder Sinnlichkeit berufen. Demgegenüber argumentierten die Kritiker des Interzessionsverbots: Man wisse gar nicht mehr, ob das Wort einer Frau noch bindende Kraft habe oder nicht. Außerdem sei es ein Widerspruch, den Frauen einerseits die Vertragsfreiheit und andererseits einen Schutz vor dieser Freiheit anzubieten. Sie dürften nicht daran gehindert werden, eigene Erfahrungen mit [<<91] den Folgen freien Handelns zu sammeln. Im Übrigen seien die – auch „weibliche Freiheiten“ genannten – „Rechtswohltaten“ dem Geschäftsverkehr hinderlich, weil sie die Rechtssicherheit gefährdeten. Die Kritiker des Interzessionsverbots haben die alten Frauenstereotypen überwiegend zurückgewiesen. Sie neigten zu der Ansicht, dass rechtliche Privilegien dem weiblichen Geschlecht eher zum Nachteil als zum Vorteil gereichten.

Ein scharfer Kritiker der „Rechtswohltaten“ war auch Theodor Gottlieb von Hippel (1741 – 1796), der 1792 sein Buch „Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber“ veröffentlichte. Als Vorreiter des modernen Emanzipationsgedankens wollte Hippel „das Verhältnis der Geschlechter dem natürlichen Zustand wieder nahe bringen“. Die angebliche körperliche und geistige Minderwertigkeit der Frau sei nicht durch die Natur gegeben, sondern Folge von Konvention, Lebensart und Sitte. Das angebliche Übergewicht von Sinnlichkeit beruhe darauf, dass Frauen von Dingen, die der Überlegung bedürfen, ferngehalten werden. Die „Rechtswohltaten“, zu denen er auch das Interzessionsverbot rechnete, empfand er als tiefste Erniedrigungen des weiblichen Geschlechts. Er hielt es für eine unnatürliche Härte, die rechtliche Handlungsfähigkeit eines Geschlechts zu beschränken, um dieses „recht geflissentlich bis an sein Ende als ein Häuflein großer Kinder“ zu behandeln. Die Skepsis gegenüber Frauenprivilegien ist auch ein gemeinsamer Nenner, auf den sich die rechtlichen Reformforderungen der bürgerlichen Frauenbewegung um die Wende zum 20. Jahrhundert bringen ließen (dazu näher S. 350).

Die letzten dem antiken Interzessionsverbot entsprungenen Regelungen sind erst vor kurzem beseitigt worden. Bevormundung erschien angesichts der Bemühungen um eine Gleichstellung der Geschlechter nicht mehr zeitgemäß. Nun zeigt sich aber, dass mit Aufhebung des Verbots auch dessen Schutzwirkung beseitigt worden ist. Daher kommt die moderne Rechtsordnung Interzedenten wieder zu Hilfe, wenn diese sich einer übermäßigen Haftung ausgesetzt haben. Im Unterschied zu früher wird der Schutz heute nicht mehr geschlechtsspezifisch legitimiert. Ein Blick auf die in der Rechtspraxis relevanten Fälle lässt jedoch rasch erkennen, dass es – neben (volljährigen) Kindern – in erster Linie Frauen sind, um deren Schutz es geht. Infolge der Rechtsprechung zu den Angehörigenbürgschaften gehört die Interzession heute zu den meist diskutierten Problemen des [<<92] Schuldrechts (S. 467). Die Kontrolle erfolgt über § 138 BGB. Sittenwidrig können Bürgschaften sein, wenn die „strukturelle Unterlegenheit“ des Bürgen sich in „Unerfahrenheit“ und „wirtschaftlicher Überforderung“ niederschlägt (BVerfG NJW 1994, 36). Das Bundesverfassungsgericht hat seine Bürgschaftsrechtsprechung neuestens auch auf den Bereich der Eheverträge übertragen. Danach sollen unter bestimmten Umständen Vereinbarungen zum Nachteil von Frauen, etwa über nachehelichen Unterhalt, Kindesunterhalt, Zugewinn- oder Versorgungsausgleich durch die Gerichte inhaltlich kontrolliert und nachträglich für unwirksam erklärt werden können (BVerfG NJW 2001, 957). Auch bei dieser Rechtsprechung zeigt sich die Ambivalenz von Schutz und Bevormundung: Sozialen Elementen finanzieller Absicherung treten geschlechtsspezifisch motivierte Beschränkungen der Vertragsfreiheit gegenüber (S. 474).

4.2 Geschriebenes und ungeschriebenes Recht

Wer die Frage aufwirft, was „Recht“ eigentlich sei und woher es komme, stößt auf zwei Grundvorstellungen, die bis heute spannungsreich geblieben sind. Nach der ersten breitet eine allgegenwärtige, über der Gesellschaft stehende Autorität ihre zur Regelung des sozialen Lebens erdachten Normen von oben her aus. Davon zu unterscheiden ist der Gedanke, dass das Recht unabhängig von irgendeinem dominierenden Willen, gleichsam spontan, von unten herauf aus der Gesellschaft wächst. Beide Standpunkte beruhen auf verschiedenen Vorstellungen über die Entstehung von Recht. Bis heute pflegen Juristen diese Differenz mit der Einteilung in geschriebenes (scriptum) und ungeschiebenes (non scriptum) Recht zu veranschaulichen, wobei das ius scriptum dem Willen eines staatlichen Gesetzgebers und das ius non scriptum den Kräften der Gesellschaft Ausdruck verleihen soll.

Auf den ersten Blick bereitet diese seit der Antike gebräuchliche Einteilung des Rechts in scriptum und non scriptum keine Schwierigkeiten. Ihre Bedeutung scheint sich in der Form zu erschöpfen, in welcher das Recht jeweils seinen Ausdruck findet. Danach wäre Recht, das in einem Dokument schriftlich niedergelegt ist, „geschrieben“ und z. B. [<<93] gewohnheitsrechtlich erzeugtes, nur mündlich überliefertes Recht „ungeschrieben“. Tatsächlich ist diese Auffassung in der Literatur, zum Teil auch von namhaften Autoren immer wieder vertreten worden. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich aber, dass die Dinge so einfach nicht liegen. Gewohnheitsrecht wird auch dann als ius non scriptum qualifiziert, wenn es – etwa in einer Sammlung von Rechtstexten – schriftlich niedergelegt oder aufgezeichnet wurde. Die Bedeutung der Einteilung liegt daher nicht in der Form, sondern darin, dass sie über die Entstehung von Recht Auskunft gibt. Um ius scriptum handelt es sich, wenn „irgend ein Rechtssatz durch Ausspruch der gesetzgebenden Gewalt Auctorität bekommen habe“ (Savigny). Bei nichtstaatlichen Rechtsquellen mangelt es an dieser Voraussetzung, sie sind daher als ius non scriptum einzuordnen.

Allerdings kommt dem Gegensatz von ius scriptum und non scriptum nicht zu allen Zeiten die gleiche Bedeutung zu. So haben die Römer bestimmte Privatrechtsakte, obwohl es sich hier um nichtstaatliches, zumeist mündlich erzeugtes Recht handelt, als ius scriptum qualifiziert. Der Grund liegt in der besonderen Bedeutung, die vor allem das ältere Römische Recht der Form beigemessen hat: Wie Gesetze bedurften auch Rechtsgeschäfte der Einhaltung spezieller formeller Erfordernisse, um wirksam zu sein (S. 61, 132). Hinzu kommt das abweichende „Staatsverständnis“ der Römer, wie es in Ciceros viel zitiertem Wortspiel von res publica und res populi zum Ausdruck kommt (De re publica I §§ 25, 39). Die weitgehende Identifizierung des „Staates“ mit dem „Volk“ hat auch in der „Rechtsquellenlehre“ einen Niederschlag gefunden: Wie ein Vertrag auf dem Konsens der Parteien beruht, ist nach römischer Vorstellung das Gesetz auf den Konsens zwischen Magistrat und Bürgerschaft gegründet (D. 1.3.1). Das Verhältnis von „Staat“ und Bürger erscheint also, jedenfalls in Zeiten der Republik, idealtypisch eher als Gleichordnungsverhältnis denn als Über- und Unterordnungsverhältnis. Dagegen haben die Römer das Juristenrecht, bei dem es sich ebenfalls um nichtstaatliches Recht handelt, als ius non scriptum eingeordnet, obwohl es – etwa in Handbüchern, Kommentaren oder Lehrbüchern – häufig schriftlich niedergelegt wird (D. 1.2.2.12). Dies hat in der Fachliteratur immer wieder Verwirrung gestiftet, erscheint aber folgerichtig, weil das Juristenrecht im Unterschied zu Vertrag und Gesetz nicht auf einem formalisierten Rechtsakt beruht. [<<94]

Im Prinzipat gilt die Annahme einer weitgehenden Gleichordnung von hoheitlicher Gewalt und Bürger freilich nur mit Einschränkungen. Bisweilen wächst die Gesetzgebung über ihre eigentlichen Funktionen, die Sicherung, Klärung oder Erneuerung einer bereits bestehenden Rechtsordnung hinaus und wird zu einem Instrument der Steuerung, das menschliche Handlungen herrscherlichen Befehlen unterwerfen soll. Ein prominentes Beispiel für das sich wandelnde Verhältnis von Staat und Recht – für eine Normsetzung ‚von oben‘ – bildet die Ehegesetzgebung des Augustus.

5. Die Ehegesetzgebung des Augustus

Die universale Bedeutung des römischen Rechts hängt auch damit zusammen, dass es ius und mos, Recht und Sitte, begrifflich auseinanderzuhalten wusste. Dies gilt insbesondere für das Ehe- und Familienrecht. Die Römer regelten nur einzelne Bereiche, auf eine umfassendere Formulierung der normativen Grundlagen des Eherechts haben sie verzichtet. Im Hintergrund steht der noch heute gültige Gedanke, dass das Recht in den personalen Kern zwischenmenschlicher Beziehungen nicht intervenieren dürfe. Nach römischer Vorstellung unterstehen gerade die wichtigsten Elemente der Familienbeziehung, etwa eheliche Treue oder väterliche Gewalt, allein dem Schutz der Sitte und nicht des Rechts. Die Augusteischen Ehegesetze, die einen Zwang zur Ehe schaffen, nehmen daher eine Sonderstellung innerhalb des römischen Familienrechts ein.

Augustus verfolgt mit seiner Ehegesetzgebung vor allem bevölkerungs- und sozialpolitische Ziele. Bekämpft werden sollen Verfallserscheinungen wie: ungebundenes Leben, insbesondere der oberen Schichten, Scheu vor der Ehe und überhandnehmende Kinderlosigkeit. Die beiden Hauptgesetze sind die lex Iulia de maritandis ordinibus, welche Augustus selbst 18 v. Chr. einbrachte, und die lex Papia Poppaea aus dem Jahre 9 n. Chr. Beide werden schon in klassischer Zeit als Einheit (lex Iulia et Papia) aufgefasst. Nach der lex Iulia soll jeder Römer im ehefähigen Alter verheiratet sein, die Männer vom 25. bis zum 60., die Frauen vom 20. bis 50. Lebensjahr. Die lex Papia Poppaea fordert [<<95] zudem das Vorhandensein ehelicher Kinder, bei Freigeborenen mindestens drei, bei Freigelassenen mindestens vier an der Zahl. Wer verheiratet gewesen, aber durch den Tod des anderen Gatten oder durch Scheidung ehelos geworden ist, muss wieder heiraten. Nur den Frauen werden hierbei „Schonfristen“ von sechs Monaten bis zu zwei Jahren gewährt. Nun kann man freilich schwerlich jemanden direkt zur Ehe zwingen, noch weniger zur Zeugung von Kindern. Daher knüpfen sich an die Nichtbefolgung der bestehenden Vorschriften gesellschaftliche, personen- und insbesondere erbrechtliche Nachteile, welche bis zur Erbunfähigkeit reichen, während umgekehrt die Eltern von drei bzw. vier Kindern in verschiedener Hinsicht, insbesondere bei der Bewerbung um Ämter bevorzugt werden. Ein Dispens von den Ehegeboten war allerdings möglich, wovon offenbar häufiger Gebrauch gemacht wurde. Außerdem konnte die Vorrangstellung einer kinderreichen Person auch gnadenweise verliehen werden.

Zu den Ehegeboten treten Eheverbote, die den Zweck verfolgen, den Stand der römischen Bürger und insbesondere die Nobilität von „Missheiraten“ abzuhalten, wobei für Mitglieder senatorischer Familien höhere Anforderungen gestellt werden. So ist es allen freigeborenen Bürgern untersagt, gewisse bescholtene Frauen zu heiraten, namentlich Dirnen, Kupplerinnen und Frauen, die beim Ehebruch ertappt worden sind. Senatoren und ihre Abkömmlinge (bis zum Urenkel) dürfen keine Ehen mit Freigelassenen sowie Schauspielerinnen oder Töchtern von Schauspielern eingehen. Entsprechendes gilt für die weiblichen Nachkommen eines Senators. Der Verstoß gegen diese Eheverbote scheint keine Nichtigkeit der Ehe nach sich gezogen zu haben. Offenbar ist die verbotswidrige Ehe vielmehr ein matrimonium iustum mit dessen normalen Wirkungen, also zivilrechtlich gültig. Nur befreit sie die Eheleute nicht von den Sanktionen, welche die Augusteischen Ehegesetze an die Ehe- und Kinderlosigkeit knüpfen; es ist kein matrimonium secundum legem Iuliam et legem Papiam Poppaeam contractum mit der Folge, dass die Partner die Nachteile der Unverheirateten tragen mussten. Erst unter Mark Aurel und Commodus wurde die Nichtigkeit solcher Ehen – jedenfalls der zwischen Personen senatorischen Standes und Freigelassenen – im Wege des Senatsbeschlusses verfügt. Die Augusteische Ehegesetzgebung, die begreiflicherweise [<<96] wenig beliebt war und die angestrebten Ziele wohl auch nicht erreicht hat, wurde im 4. und 5. Jahrhundert schrittweise aufgehoben.

Sich selbst hat Augustus von seinen Gesetzen gegen Ehe- und Kinderlosigkeit befreien lassen: Princeps legibus solutus est (D. 1. 3. 31). Die Nachfolger des Augustus haben den Satz, dass der Kaiser nicht an die Gesetze gebunden ist, verallgemeinert. Im Mittelalter greift Kaiser Friedrich II. darauf zurück (1245), ihm folgen Rudolf von Habsburg (1282) und der König von Frankreich. Eine Bindung auch des Herrschers an die Gesetze wird erst im 19. Jahrhundert ausdrücklich geregelt. Noch heute, etwa im Zusammenhang mit der juristischen Bewältigung von Regierungskriminalität, spielt der Satz Princeps legibus solutus eine wichtige Rolle (s. Naucke in den Literaturhinweisen).

Literatur

Allgemeines: FIRA (Bd. II: Autoren, 2. Auflage 1968; Bd. III: Rechtsgeschäfte, 2. Auflage 1969); HHL 4 (1997), §§ 410 ff. (Liebs); HHL 5 (1989), §§ 502 ff. (Liebs). Einen Einblick in die kaum übersehbare Literatur zum Prinzipat gewähren die beiden Sammelbände ‚Augustus‘ (hg.v.W. Schmitthenner, 1969) und ‚Prinzipat und Freiheit‘ (hg. v. R. Klein, 1969) sowie ANRW II 13 – 15; s. ferner: A. v. Premerstein, Vom Wesen und Werden des Prinzipats (1937); J. M. Kelly, Princeps iudex (1957); H. Volkmann, Zur Rechtsprechung im Prinzipat des Augustus, 2. Auflage (1969); H. Bengtson, Kaiser Augustus (1981); D. Kienast, Augustus – Princeps und Monarch (1982, 3. Auflage 1999); A. Mette-Dittmann, Die Ehegesetze des Augustus (1991); J. Bleicken, Verfassungs- und Sozialgeschichte des Römischen Kaiserreichs (Bd. 1, 4. Auflage 1995; Bd. 2, 3. Auflage 1994); P. Zanker, Augustus und die Macht der Bilder, 5. Auflage (2008); A. Heuss, Römische Geschichte, 10. Auflage 2007 (hg.v.J. Bleicken / W. Dahlheim / H.-J. Gehrke), 272; W. Dahlheim, Augustus (2010).

Die klassische römische Rechtswissenschaft: W. Kunkel, Das Wesen des ius respondendi, SZ (RA) 66 (1948), 443; F. Wieacker, Der römische Jurist, in: Vom römischen Recht, 2. Auflage (1961), 128 und dort ders., Über das Klassische in der römischen Jurisprudenz, 161; F. Schulz, Geschichte der römischen Rechtswissenschaft (1961); M. Kaser, Zur Methode der römischen Rechtsfindung (1962); W. Kunkel, Herkunft und soziale Stellung der römischen Juristen, 2. Auflage 1967 (ND 2001); W. Waldstein, Zu Ulpians Definition der Gerechtigkeit, in: FS W. Flume (1978), Bd. I, 213; R. Knütel, Von schwimmenden Inseln, wandernden Bäumen, flüchtenden Tieren und verborgenen [<<97] Schätzen: Zu den Grundlagen einzelner Tatbestände originären Eigentumserwerbs, in: RuP, 549; N. Benke, In sola prudentium interpretatione. Zur Methodik und Methodologie römischer Juristen, in: B. Feldner / N. Forgó (Hg.), Norm und Entscheidung. Prolegomena zu einer Theorie des Falls (2000), 1; O. Behrends, Das Geheimnis des klassischen römischen Rechts, in: B. J. Choe (Hg.), Law, Peace and Justice (2007), 3; ders., Die geistige Mitte des römischen Rechts, in: SZ (RA) 125 (2008), 25; C. Baldus, „Historische Auslegung“ in Rom? Der Umgang römischer Juristen mit dem Normtext als Methodenfrage, in: Seminarios Complutenses de Derecho Romano (2007 / 2008), 85; N. Jansen, Staatliche Gesellschaftspolitik und juristische Argumentation im römischen Privatrecht, in: FS R. Knütel (2009), 493 (s. a. die Nachweise zum 1. Kapitel); M. Avenarius, Law schools, in: R. S. Bagnall u. a. (Hg.), The encyclopedia of Ancient History (2013), 3967.

Princeps legibus solutus: D. Wyduckel, Princeps legibus solutus – Eine Untersuchung zur frühmodernen Rechts- und Staatslehre (1979); D. Liebs, Das Gesetz im spätrömischen Recht, in: Das Gesetz in Spätantike und frühem Mittelalter (hg.v.W. Sellert), 1992, 11, 23; W. Naucke, Die strafjuristische Privilegierung staatsverstärkter Kriminalität (1996), 12, 17, 47; D. Liebs, Lateinische Rechtsregeln und Rechtssprichwörter, 7. Auflage (2007), 179 (Nr. 94); J. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, 7. Auflage (2013), 235; O. Behrends, Princeps legibus solutus, in: FS C. Starck (2007), 3.

Senatus Consultum Velleianum: K. L. C. Röslin, Abhandlung von besondern weiblichen Rechten, Bd. I (1775), Bd. II (1779), 53; J. J. Bachofen, Das vellejanische Senatskonsult, seine ursprüngliche Fassung und spätere Erweiterung, in: Ausgewählte Lehren des römischen Civilrechts (1848), 1; W. Girtanner, Die Bürgschaft nach gemeinem Civilrecht Bd. I (1850), 258, Bd. II (1851), 335; H. Kreller, Das Verbot der Fraueninterzession von Augustus bis Justinian, in: Anzeigen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, philosophisch-historische Klasse (1956), 10; D. Medicus, Zur Geschichte des Senatus Consultum Velleianum (1957); Kaser, RP II, 277, 667; A. D. Bautista, L’intercession des femmes dans la législation de Justinien, RIDA 1983, 81; S. Dixon, Infirmitas Sexus: Womanly Weakness in Roman Law, TRG 1984, 343; O. Lehner, Senatus Consultum Velleianum – Die Wiederkehr einer antiken Rechtsfigur im frühneuzeitlichen österreichischen Recht, in: SZ (GA) 105 (1988), 270; R. Zimmermann, The Law of Obligations (1990), 145; B. Kupisch, Die Frau im römischen Geschäftsleben, in: U. Hübner / W. Ebke (Hg.), FS B. Großfeld (1999), 659; W. Ernst, Interzession: Vom Verbot der Fraueninterzession über die Sittenwidrigkeit von Angehörigenbürgschaften zum Schutz des Verbrauchers als Interzedenten, in: RuP, 395; U. Mönnich, Frauenschutz vor riskanten Geschäften. Interzessionsverbote nach dem Velleianischen Senatsbeschluss (1999); St. Meder, Interzession und Privatautonomie, in: GS M. Wolf (2011), 253. [<<98]

12WuG, 662, 664. Zur besonderen Art des Gehorsams, den das Charisma fordert, vgl. bereits R. Sohm (Kirchenrecht, Bd. I, 1892, 26).

13An die Stelle eines durch lebenslange Gewaltunterworfenheit bestimmten Status (S. 39) ist eine weitgehende Gleichstellung der Geschlechter getreten. Denn das klassische Recht hat den Begriff persona (S. 68, 109) auch auf Frauen erstreckt. Frauen waren zwar weiterhin von öffentlichen Ämtern ausgeschlossen. Diese Ungleichbehandlung haben die klassischen Juristen aber nicht geschlechtsspezifisch, etwa mit dem Hinweis auf geringere Befähigung oder mangelndes Urteilsvermögen, sondern gewohnheitsrechtlich begründet. Das Gewohnheitsrecht erkannten sie als wichtige Rechtsquelle zwar an, haben ihm jedoch nicht das gleiche Maß an innerer Rationalität wie dem universalen ius gentium beigemessen (vgl. O. Behrends, Die geistige Mitte des römischen Rechts, 25, 34).

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