Читать книгу Rechtsgeschichte - Stephan Meder - Страница 7
ОглавлениеDie Rechtsgeschichte ist traditionell in zahlreiche Einzelfächer gegliedert, wobei der Einteilung in Romanistik und Germanistik besondere Bedeutung zukommt. Diese Einteilung stammt aus dem 19. Jahrhundert und scheint derzeit in Rückbildung begriffen zu sein. Für eine zuverlässige Prognose über die künftige Entwicklung mag es noch zu früh sein, doch mehren sich die Anzeichen, die auf eine eher unspezifische Widmung des Faches als Rechtsgeschichte hindeuten. Es steigt die Anzahl juristischer Fakultäten, an denen nur noch ein Lehrstuhl für Rechtsgeschichte eingerichtet ist. Die Romanistik scheint die große Verliererin der aktuellen Reformbestrebungen zu sein. Wie schon einmal in der Zeit von 1933 – 1945 droht das vielleicht glänzendste und international am meisten angesehene Feld rechtshistorischer und juristischer Gelehrsamkeit in Deutschland an den Rand gedrängt zu werden.
Die Idee zu diesem Buch entstand an einem Fachbereich, wo Rechtsgeschichte jenseits der traditionellen Einteilung in Römisches und Deutsches Recht unterrichtet wird. Ist das Stoffgebiet nicht auf ein bestimmtes Herkunftsland oder auf eine bestimmte Epoche festgelegt, so stellt sich die Frage: Wo anfangen? Den Ausgangspunkt der vorliegenden Darstellung soll das römische Recht bilden. Wenn es dafür eine Rechtfertigung gibt, so liegt sie in der geschichtlichen Tatsache der Rezeption des römischen Rechts. Wie Goethes Faust ohne Helena kaum zu verstehen ist und Brecht nicht ohne die Bibel, setzt auch die Darstellung moderner Rechtsentwicklungen gewisse Kenntnisse der antiken Grundlagen voraus. Dies sei an zwei Beispielen erläutert. [<<15]
Das erste betrifft den Einfluss des römischen Rechts auf die modernen Kodifikationen. Vom BGB hat man bekanntlich gesagt, es sei ein in Paragraphen gegossenes Pandektenlehrbuch (16. Kapitel 3, S. 347.). Und auch die anderen Privatrechtsgesetzbücher Europas sind romanistische Kodifikationen. Dass das BGB deutsch, der Code civil französisch, das Wetboek niederländisch, der Código civil spanisch oder der Codice civile italienisch spricht, spielt im Vergleich zur gemeinsamen Tradition nur eine untergeordnete Rolle. Über Gesetzgebung nimmt ein mehr als zweitausend Jahre altes Recht also noch heute Einfluss auf die Rechtsordnung. Um diese „seltsame Erscheinung“ (Jhering) angemessen würdigen zu können, bedarf es zunächst einer Vorstellung von der überlegenen Methode und der verfeinerten Begriffstechnik, die römische Juristen entwickelt haben. Man muss aber auch wissen, dass Methode und Begriffstechnik einer bestimmten Verfassungsordnung entsprungen sind, deren Kern die römische Idee von Freiheit (libertas) bildet. Diese hat sich in der römischen Republik entwickelt, „die selbst noch Historikern der Moderne als Vorbild einer freiheitlichen Ordnung erschienen ist“ (Bleicken). Es ist daher kein Zufall, dass die 1945 und 1989 zusammengebrochenen Systeme das römische Recht – mit zum Teil unterschiedlichen Begründungen – jeweils auszuschalten suchten. In einer Zeit, in der viele die Abenteuer der großen Ideologien im 20. Jahrhundert schon für beendet halten, verdient diese Tatsache besondere Hervorhebung.
Das zweite Beispiel ist spezieller und handelt von dem Satz pacta sunt servanda. Der Satz ist im Mittelalter aufgekommen und bis heute anerkannt. Seine historischen Voraussetzungen stoßen aus Gründen, auf die noch zurückzukommen ist, derzeit wieder auf gesteigertes Interesse (21. Kapitel 1.2.2, S. 464). Juristische Laien pflegen anzunehmen, den Schlüssel zum Verständnis biete schon die schlichte Übersetzung: „Verträge muss man halten“. Ebensowenig lässt die Erläuterung der Ursprünge im kanonischen Recht des Mittelalters (6. Kapitel 4.2, S. 161) ermessen, warum der Satz einst eine Revolution bedeutete, deren Auswirkungen noch heute spürbar sind. Man muss wissen, dass das römische Vertragsrecht auf einem numerus clausus von klagbaren Vertragstypen beruht, wonach bloße pacta keine Rechtsverbindlichkeit entfalten (S. 73). Ohne [<<16] Kenntnis der romanistischen Grundlagen bleibt unverständlich, warum auf Basis von pacta sunt servanda in Europa über die Jahrhunderte hinweg ein einheitliches Vertragsrecht wachsen konnte, das derzeit wieder auf dem Prüfstand steht (21. Kapitel 1.2.2.2, S. 467).
Was wir als Anfänge wahrzunehmen glauben, „sind schon ganz späte Stadien“ (Jacob Burckhardt). Rom steht am Ende der Antike und die Menschheit hat bereits vor Griechenland, Israel oder Ägypten Tausende von Jahren erlebt, die von den altsteinzeitlichen Jäger- und Sammlergesellschaften über Viehzucht und Ackerbau im Neolithikum bis zu den ersten schriftlichen Quellen reichen. Die Lehre der „Rechtsgeschichte“ kann weder „vollständig“ sein noch eine „objektive“ Auswahl treffen. Die vorliegende Darstellung will einen ersten Zugang zum Fach und zur Welt des positiven Rechts eröffnen. Dazu gehört auch die Entdeckung, dass Vergangenheit keine Vorgeschichte der Gegenwart, sondern ein eigenständiges und zugleich fremdes Gebiet ist. Das altrömische Recht gestattet es, unter Stichworten wie „strukturelle Mündlichkeit“, „Form“, „Gewalt“, „Rache“, „Selbsthilfe“ oder „Einschaltung von Dritten“ Merkmale archaischer Rechtskulturen exemplarisch zu behandeln (z. B. S. 43, 1. Kapitel 3, S. 47., S. 132, 136). Vom jüngeren römischen Recht der Klassik oder Spätantike führen dagegen viele Linien zur Moderne. Diese Linien verlaufen aber nicht auf direktem Wege, oft sind sie verschlungen oder nur schwach ausgeprägt, sie können auch ganz abbrechen oder sich verlieren, um später an unvermuteter Stelle wieder aufzutauchen.
Mit dem integralen Konzept des vorliegenden Überblicks soll also dem Bedürfnis nach einer Kurzdarstellung entsprochen werden, die auch dem antiken Recht einen Platz zuweist. Die Stoffauswahl in den ersten vier Kapiteln über römisches Recht erfolgt mit Blick auf Entwicklungen und Begriffsbildungen, die über das Mittelalter hinaus bis in die Neuzeit oder Gegenwart reichen. Dies ermöglicht es, Vorgänge von langer Dauer (long durée) gegenüber Zäsuren schärfer zu akzentuieren. Insgesamt folgt die Darstellung sowohl chronologischen wie systematischen Gesichtspunkten. Wo das chronologische Schema Gefahr läuft, zur bloßen Aufzählung von Ereignissen zu werden, treten systematische Gesichtspunkte in den Vordergrund. So wird zum Beispiel der juristische Humanismus (9. Kapitel, S. 209) im Anschluss an das Kapitel über die Renaissance [<<17] der Rechtswissenschaft in Bologna behandelt, obwohl die nachfolgend erörterten rechtlichen Strukturen des Feudalsystems (10. Kapitel, S. 223) schon viel früher entstanden sind. Bisweilen werden einzelne Stoffgebiete vom chronologischen Ende her vorgestellt, um mehr Hier und Jetzt in die Lehre der Rechtsgeschichte zu bringen. Dies erscheint vor allem dann gerechtfertigt, wenn bestimmte, bereits überwunden geglaubte Merkmale früher Rechtskulturen in der Gegenwart wieder in Erscheinung treten. Als Beispiele seien die um die Gemeinsamkeiten von Schadensersatz und Strafe (punitive damages), von Schuld- und Familienrecht oder die um Verschuldens- versus Erfolgshaftung geführten Debatten genannt. Im Übrigen war beabsichtigt, die in der Vorlesung bewährte Darstellung der Abfolge des Geschehens so weit als möglich zu erhalten.
Nachfolgend sei noch ein Überblick über die wichtigsten Stationen der Darstellung gegeben.
2. Vom römischen Recht zum europäischen ius commune
Die uns bekannte Geschichte des römischen Rechts umfasst mehr als tausend Jahre, sie reicht von den ersten Regelungen der Könige, den sogenannten leges regiae aus dem späten 6. Jahrhundert v. Chr., über das um 450 v. Chr. verfasste Zwölftafelgesetz bis zu Justinians Gesetzgebung im 6. Jahrhundert n. Chr. Man pflegt drei Zeitabschnitte zu unterscheiden: die republikanische, klassische und nachklassische Epoche. Die republikanische Zeit erstreckt sich von der Vertreibung der Könige im 5. Jahrhundert v. Chr. bis zur Zeit des Prinzipats, also des gemäßigten Kaisertums, das mit Augustus (63 v. Chr.–14 n. Chr.) seinen Anfang nimmt. Mit Augustus beginnt zugleich die klassische Epoche, in der die römische Rechtswissenschaft ihre volle Kraft und Eigenart entfaltet. Sie wird von der Nachklassik abgelöst, die mit der Wirtschaftskrise des 3. Jahrhunderts n. Chr. beginnt und bis zum Ende der Antike reicht.
Das römische Recht ist keine systematische Einheit, sondern über die Jahrhunderte hinweg aus mehreren Einzelquellen in Schichten gewachsen. Am Anfang steht das Zwölftafelgesetz, vermutlich ein Ergebnis der zwischen Patriziern und Plebejern geführten Ständekämpfe. Mehr als [<<18] jede spätere literarische Quelle vermitteln die Zwölf Tafeln einen Einblick in die sozialen Verhältnisse der durch Landwirtschaft geprägten altrömischen Periode (1. Kapitel 1, S. 27.). Als die Ständekämpfe im 3. Jahrhundert v. Chr. ein Ende finden, beginnen sich die inneren Verhältnisse der Republik zu stabilisieren. Dies schafft die Voraussetzungen für eine neue, auf Expansion gerichtete Außenpolitik. Schon bald erstreckt sich der römische Machtbereich auf ganz Italien und zahlreiche große griechische Handelsstädte, die ihrerseits mit den wichtigsten Handelszentren des gesamten Mittelmeerraumes verbunden sind. Die bäuerlichen Verhältnisse weichen zunehmend urbanen Lebensformen, deren wirtschaftliche Struktur von Handwerk, Gewerbe, Handel und Geldverkehr geprägt ist. Der gesellschaftliche Wandel stellt das Recht vor Aufgaben, die auf Grundlage des Zwölftafelgesetzes nicht mehr adäquat zu lösen sind. Immer häufiger werden den Gerichten Sachverhalte zur Entscheidung vorgelegt, für deren rechtliche Bewertung sich keine passenden Regeln ausfindig machen lassen. Da die Rechtspflege im alten Rom nicht juristischen Sachkennern, sondern Laien übertragen war, die an spezialrechtlichen Fragen wenig Interesse zeigten, werden Fachleute (iuris consulti) zu Rate gezogen. Man wendet sich an Juristen, die das Recht den wechselnden Bedürfnissen der Praxis anpassen, indem sie es von Fall zu Fall weiterentwickeln (S. 67). Dieses in erster Linie von Juristen geschaffene Recht tritt zunehmend an die Stelle des alten Gesetzesrechts und gewinnt in der klassischen Epoche schließlich eine dominierende Rolle.
Die Juristen sind die eigentlichen Schöpfer der römischen Privatrechtsordnung, die in der klassischen Zeit zur vollen Blüte gelangt (3. Kapitel 2, S. 82.). In der sich anschließenden nachklassischen Periode kommt es zu einem dramatischen Niedergang der wirtschaftlichen und kulturellen Verhältnisse, der auch im juristischen Bereich deutliche Spuren hinterlässt. An die Stelle des gemäßigten Kaisertums tritt in der Nachklassik das absolute Kaisertum. Dem Kaiser muss nun göttliche Verehrung gezollt werden. Er erhebt sich zum alleinigen Gesetzgeber und engt den für die Herausbildung von Juristenrecht notwendigen Spielraum zunehmend ein. Die Entwicklung mündet in den spätantiken Zwangsstaat mit einem umfassenden bürokratischen Apparat. Gegen Ende des [<<19] 4. Jahrhunderts (395) erfolgt die Teilung des römischen Imperiums in ein west- und oströmisches Reich. Auf Grund des anhaltenden Niedergangs endet das weströmische Reich, und mit ihm die Antike, im Jahre 476 n. Chr. Dagegen haben sich die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zustände im oströmischen Reich auf einem ungleich höheren Niveau gehalten. Seine Auflösung erfolgte erst 1453 nach der Eroberung Konstantinopels durch die Türken. In neu gegründeten Rechtsschulen, unter denen vor allem die von Berytos (Beirut im Libanon) und Konstantinopel (auch Byzanz, heute Istanbul) hervorragen, wird der überlieferte Stoff auf anspruchsvolle Weise weiterhin bearbeitet (4. Kapitel, S. 99).
Einen Höhepunkt erlangt die Arbeit der oströmischen Rechtsschulen durch das Gesetzgebungswerk des Kaisers Justinian (527 – 565), dem wir die umfassende Kenntnis der klassischen römischen Jurisprudenz zu verdanken haben. Das Werk gliedert sich in vier Teile: Institutionen, Digesten (auch Pandekten genannt), Codex und Novellen.1 Nun hatte Justinian den Text 533 und 534 zwar als Gesetz verkünden und in Kraft treten lassen. In Wirklichkeit aber enthalten seine wichtigsten Teile überhaupt keine Gesetze, sondern eine Zusammenstellung von eben jenen Problemlösungen, welche die klassischen römischen Juristen fallmäßig erarbeitet hatten. Dass es sich um von Juristen erarbeitetes Fallrecht handelt, ist im Übrigen auch einer der Gründe für die besondere Aktualität des römischen Rechts (4. Kapitel 5.2, S. 117). Die „Gesetzgebung“ des Justinian hat zunächst nicht die erhoffte praktische Bedeutung erlangt. Doch galt das römische Recht in den oströmischen Gebieten in einer von hellenistischen Gedanken überlagerten und stofflich reduzierten Form weiter. Ganz anders war die Lage im Gebiet des ehemaligen weströmischen Reiches. Dieses war zum Auffangbecken für germanische Wanderstämme geworden und befand sich gegen Ende des 5. Jahrhunderts [<<20] in den Händen einzelner Heerkönige, die aus eigener Machtvollkommenheit über die einheimische Bevölkerung herrschten. Die Abwendung von der klassischen Tradition hatte im ehemals weströmischen Gebiet zu einer Vulgarisierung des Privatrechts geführt, nachdem die Rechtspflege zunehmend in die Hände von juristischen Laien oder halbgebildeten Rechtspraktikern geraten war (5. Kapitel 2, S. 128.).
Es mussten fast 600 Jahre vergehen, bis das römische Recht die praktische Bedeutung erlangte, die Justinian sich erhofft hatte. Eine Schlüsselrolle spielt die Gründung einer Rechtsschule durch die Glossatoren in Bologna um die Wende zum 12. Jahrhundert (8. Kapitel, S. 191). Aus dieser Rechtsschule, die sich zum Ziel setzte, das justinianische Werk auf Grundlage einer von der frühscholastischen Theologie entwickelten Methode wissenschaftlich zu bearbeiten, ist die moderne Universität hervorgegangen. Durch Abstraktion aus den Einzelfallentscheidungen der Digesten suchten die Bologneser Legisten allgemeine Rechtssätze herauszupräparieren, die im praktischen Rechtsleben als Leitfaden dienen konnten. Parallel zu den Legisten begannen ebenfalls in Bologna die Kanonisten kirchliche Rechtsquellen mit ähnlichen Methoden wissenschaftlich zu bearbeiten (6. Kapitel 3, S. 153.). Im 14. und 15. Jahrhundert wurden die Glossatoren von der stärker auf praktische Ziele ausgerichteten Schule der Kommentatoren abgelöst. Beide Schulen haben auf die Rechtskultur der kontinentaleuropäischen Länder entscheidenden Einfluss ausgeübt. Dies gilt im Prinzip auch für England. Doch hat sich hier schon bald eine eigene hochstehende Rechtswissenschaft entwickelt, die der Aufnahme des Rechts einer fremden, untergegangenen Kultur zunehmend Widerstand leistete (8. Kapitel 4, S. 202.). Eine selbständige Erscheinung der Bearbeitung des römischen Rechts bildet der juristische Humanismus, wie er sich – ausgehend wiederum von Italien – vor allem in Frankreich und den Niederlanden entwickelt hat. Die textkritischen Forschungen der humanistischen Juristen verleihen dem justinianischen Werk im Laufe des 16. Jahrhunderts eine deutlich veränderte Gestalt. Den Endpunkt einer Reihe gedruckter Ausgaben bildet eine Edition von 1583, in der die einzelnen Teile des Werkes erstmals unter dem Titel Corpus iuris civilis zusammengefasst sind (S. 218). [<<21]
In Deutschland ist zu dieser Zeit die Rezeption des römisch-kanonischen Rechts bereits in vollem Gange (11. Kapitel, S. 243). Die Übernahme insbesondere des an den italienischen Universitäten fortgebildeten Rechts des Corpus iuris war die Folge einer zunehmenden Verwissenschaftlichung des Rechtslebens. Universitär ausgebildete Spezialisten verdrängten die juristisch gebildeten Laien aus ihren Positionen in Rechtsprechung und Rechtsetzung. Unterrichtet wurden die angehenden Juristen an den seit der Mitte des 14. Jahrhunderts auch nördlich der Alpen in großer Zahl gegründeten Universitäten im römischen und kanonischen Recht, was ihnen nach erfolgreichem Studienabschluss den Titel doctor utriusque iuris, Doktor beider Rechte, einbrachte. Das römische Recht hat im Laufe der Zeit vielfache Veränderungen erfahren. In seiner veränderten Gestalt bezeichnete man es als das gemeine, d. h. das allgemein geltende Recht (ius commune). Das Verhältnis des aus römisch-kanonischem Recht gewachsenen ius commune zum einheimischen Stadt- oder Landrecht bestimmte die sogenannte Statutentheorie. Danach galt im Grundsatz der Vorrang des besonderen gegenüber dem allgemeinen Recht, so dass das ius commune im Verhältnis zu den örtlichen statuta (Vorschriften) zurücktreten musste. Das partikulare Recht war allerdings häufig lückenhaft und seine Existenz oft nur unter großen Schwierigkeiten oder überhaupt nicht beweisbar. So kam es, dass die in der Theorie vorgegebene Hierarchie der Rechtsquellen in der Praxis unterlaufen wurde. Bald schon ist die Dogmatik der Glossatoren und Kommentatoren auch auf die Partikularrechte angewandt worden, was diese vor einer Verdrängung durch das römische Recht bewahrte.
Die Verschmelzung römisch-rechtlicher, kirchenrechtlicher und partikularrechtlicher Elemente führt im 17. Jahrhundert zum sogenannten Usus modernus pandectarum (11. Kapitel 3, S. 252.). Darunter versteht man die zeitgemäße Praxis des römischen Rechts, das von einem universitär gebildeten Juristenstand logisch nachvollziehbar gehandhabt wird. Das Merkmal der Rechtsquellenvielfalt prägt den Charakter dieser Epoche, die sich vom 16. bis zum 18. Jahrhundert erstreckt. Mit den großen Naturrechtskodifikationen im 18. und 19. Jahrhundert kam das über Jahrhunderte gewachsene europäische ius commune zunächst außer Geltung (12. Kapitel, S. 261 und 13. Kapitel, S. 281). Die Kodifikatoren des [<<22] Naturrechts hofften, das römische Recht durch eine Systematisierung des gesamten Rechtsstoffs weitgehend überflüssig machen zu können. Diese Hoffnungen waren aber bald zerronnen, und zwar nicht nur, weil die römisch-gemeinrechtliche Dogmatik tiefe Spuren in den Gesetzgebungen hinterlassen hatte. Entscheidend war vielmehr, dass diese Dogmatik zu einem unentbehrlichen Hilfsmittel bei der Anwendung der neuen Gesetze wurde – ein Vorgang, den man treffend als „Pandektisierung“ charakterisiert hat. Die als neuhumanistische Gegenbewegung zur Naturrechtsschule im 19. Jahrhundert gegründete Historische Schule ließ das römische Recht wiederum einen gewaltigen Aufschwung erleben. Die Wissenschaft des 19. Jahrhunderts, die nach ihrer Hauptquelle auch Pandektistik heißt, hat dann die jüngeren Kodifikationen des Zivilrechts, insbesondere das schweizerische Zivilgesetzbuch und das BGB, wesentlich beeinflusst (14. Kapitel, S. 299 bis 16. Kapitel, S. 341).
Bis zum Jahre 1900 waren noch knapp die Hälfte der veröffentlichten höchstrichterlichen Entscheidungen nach gemeinem Recht, also überwiegend nach bis zu 2000 Jahre alten Texten aus dem Corpus iuris entschieden worden. Daneben galten in Deutschland französisches, preußisches, bayerisches, sächsisches, österreichisches und dänisches Recht sowie eine ganze Fülle von Partikularrechten, darunter ganz altehrwürdige wie etwa das „Jütisch Low“ oder Teile des Sachsenspiegels.2
Mit Inkrafttreten des BGB am 1. Januar 1900 haben die jahrzehntelangen Bemühungen um ein einheitliches Recht einen erfolgreichen Abschluss gefunden (16. Kapitel, S. 341). Daher mag es überraschen, dass der Rechtszustand heute wieder durch eine Vielfalt von Rechtsquellen gekennzeichnet ist und das BGB nur noch eine unter mehreren bildet. Einer der Hauptgründe liegt darin, dass sich die Beziehungen von Recht und Staat [<<23] gewandelt haben: Fortschreitende Globalisierung und unzureichende Finanzierung geben Anlass, die vom Staat traditionell wahrgenommenen Aufgaben zu überdenken. In bestimmten Bereichen möchte der Staat heute nicht mehr Eigenleistungen erbringen, sondern Leistungen an Dritte abgeben und sich darauf beschränken, einen Rahmen zu gewährleisten. Diesem Wandel tragen Leitbilder wie „Gewährleistungsstaat“ oder „kooperativer Staat“ Rechnung, die frühere Modelle des Sozial- oder Interventionsstaates inzwischen weitgehend verdrängt haben. Danach soll auch die Kompetenz zur Rechtsetzung nicht mehr allein dem staatlichen Gesetzgeber vorbehalten sein. In der jüngsten Zeit mehren sich die Stimmen, die darauf hinweisen, dass es zunehmend auch privaten Dritten gestattet wird, objektives Recht zu setzen.
An Beispielen für private Rechtsetzung besteht kein Mangel. Zu denken wäre etwa an tradierte Formen wie Verbandssatzungen, Standesordnungen oder Allgemeine Geschäftsbedingungen, die bereits in den 1930er Jahren als „Selbstgeschaffenes Recht der Wirtschaft“ charakterisiert wurden. Als aktuell diskutierte Erscheinungsmuster wären zu nennen: Corporate governance, lex mercatoria, lex digitalis, lex sportiva, Unidroit-Prinzipien oder das Gebiet technischer Standardisierung, wo auf nationaler und internationaler Ebene Normen von privaten Gremien jeweils erarbeitet und publiziert werden. Außerdem hat die Bedeutung des Richterrechts erheblich zugenommen, die Spezialgesetzgebungen sind deutlich angewachsen und durch Rechtsetzungsakte auf europäischer Ebene hat das Spektrum von Rechtsquellen in den letzten Jahren eine zusätzliche Ausdehnung erfahren. Unter diesen Umständen ergibt sich wie schon so oft in den vergangenen Jahrhunderten ein gesteigerter Bedarf an allgemeinen Prinzipen und sinnstiftenden Begriffen, den wissenschaftlich gebildete Juristen in Form von Dogmatik zu decken haben. Durch Abstraktion aus einer Fülle möglicher Problemlösungen müssen sie die leitenden Grundsätze herausarbeiten und so diejenigen Denkfiguren und Verständigungsmittel zur Verfügung stellen, derer die Rechtspraxis angesichts der weiter steigenden Zahl von Rechtsquellen bedarf. [<<24]
1Digesten (D.) und Codex (C.) sind jeweils in Bücher, Titel, Fragmente und Paragraphen unterteilt. Zitiert werden nacheinander die Nummern von Buch, Titel, Fragment und Paragraph (z.B.D. 1.1.1.3). Dem entspricht die Zitierweise der Institutionen (Inst.) – mit dem Unterschied, dass die Fragmente entfallen. Die Novellen (Nov.) stehen in zeitlicher Reihenfolge, ohne Einteilung in Bücher. Die größeren Novellen sind in Kapitel unterteilt (z. B. Nov. 98.2).
2Vgl. den Überblick über das vor 1900 in den verschiedenen Gebieten Deutschlands geltende Recht in der 2. Auflage, 8 f.