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Orientalisches Märchen

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Endlich liegen wir in Tashkurgan im Bett. Traffic Hotel, das einzige mit englischem Schild vor der Tür und Personal, welches Englisch auch spricht. Ab nun dürfen wir uns als Analphabeten fühlen. Chinesisch ist an sich schon schwierig genug, aber all die fremdartigen Schriftzeichen! Für jedes Wort ein eigenes. Da ist man als Urlauber chancenlos. Die wichtigsten überhaupt hatten wir uns jedoch vorsorglich schon daheim ausgeguckt, nämlich die für die Toilette!

Als wir Stunden zuvor die chinesische Grenze überschritten, waren wir erst mal geschockt. Die Chinesen hatten quasi den ganzen Karakorum Highway pulverisiert und machten sich nun an die Arbeit, die Straße wiederherzustellen. Neuer und größer versteht sich. Für den Moment glich das alles einem steinigen Feldweg. Erlaubten die Chinesen Fahrradfahrern im Moment allein zu deren Selbstschutz das Radeln nicht? Soviel Güte traue ich den chinesischen Beamten dann doch nicht zu. Wie auch immer, wir konnten das Ganze zunächst relativ entspannt aus dem Bus begutachten. Relativ, weil bei so einer Fahrt über eine Holperpiste wird man auch im Bus noch mächtig durchgeschüttelt. An der Grenze war ein chinesischer Soldat zugestiegen, der darüber wachte, dass ja kein Insasse bis zur offiziellen Grenzstation in Tashkurgan abtrünnig wurde.

Die Berge neben der Straße gehören bereits zum Pamir. Yurten verteilten sich über die Wiesen. Hier leben Tajiken, ein Nomadenvolk. China ist ein Vielvölkerstaat und wir sollten während dieser Reise noch viele Minderheiten kennenlernen. Hier im äußersten Westen des riesigen Reiches ist Peking weit, dennoch erstaunlich, wie die Chinesen es schaffen, so viele unterschiedliche Kulturen unter ihrer Knute zu halten. Die Vorzüge des Systems können es bestimmt nicht sein. Zu auffällig die Militärpräsenz. Die sozialistische Erleuchtung will sich einfach nicht von selbst einstellen. Also her mit den Daumenschrauben ...

Den Erstkontakt mit chinesischen Beamten galt es bei der Einreise zu überstehen. Insgesamt fünf Stationen mussten bestanden werden. Die Beamten zeigten sich freundlich aber sehr bestimmt. Der Befehlston überwog. Rucksäcke wurden inspiziert und immer wieder der Pass. Dreimal musste ich probehalber auf einem Papier unterschreiben, bevor der Vergleich mit dem Pass als überzeugend befunden wurde. Aber letztendlich überstanden wir diese erste große Hürde unserer Reise. Wir sind in China, real und legal durch die Hintertür. Und jetzt da wir schon mal hier sind, kann man mal über das reden, was wir da eigentlich so vorhaben. Nämlich nach Lhasa, von Kashgar aus quer durch Westtibet radeln. Auf dem Weg liegt unter anderem ein zwischen Indern und Chinesen umstrittenes Gebiet. Tibet ist für Individualtouristen offiziell immer noch tabu. Ausländische Besucher haben in betreuten Gruppen zu erscheinen und möglichst über Lhasa einzufliegen. Durch Westtibet und mit dem Fahrrad kann also nicht gerade als rechtmäßig bezeichnet werden, um es vorsichtig auszudrücken. Im Internet kursieren dementsprechend viele wilde Geschichten über Checkpoints, Polizisten und zurückgeschickte Fahrradfahrer. Bis vor einiger Zeit mussten Checkpoints abenteuerlich nachts umgangen werden, um überhaupt eine Chance zu haben und es konnte einem immer noch passieren, ganz banal von der Ausländer-Polizei, dem PSB, von der Straße aufgesammelt zu werden. Also nichts an die große Glocke hängen und immer schön vorsichtig!

Im Traffic-Hotel treffen wir schließlich die gesamte Busbesatzung wieder. Die englischen Schilder am Eingang sind zu verlockend, so kann man Touristenmassen auch steuern. Das Hotel ist ein Einheitsbau mit Einheitsmöbeln, wie wir es noch oft erleben sollten. Zwei getrennte Betten, ein Schreibpult. Nur die Hygiene läst doch arg zu wünschen übrig. Am Flur stinkt es nach Klo, Mäuse huschen umher und im Bad wachsen Schwammerl.

Tashkurgan selber ist eine ziemlich typische chinesische Trabantenstadt im besetzten Gebiet. Irgendwo in Peking scheint es dafür einen Masterplan zu geben. Rechtwinklige Straßen, weiß gekachelte Betonklötze mit blauen Fenstern. Im Erdgeschoss sind in garagenartigen Löchern in der Wand jede Menge kleine Geschäfte, Garküchen und Werkstätten untergebracht. Tashkurgan ist hier die größte Stadt weit und breit, im Umkreis von 200 Kilometern nur Wildnis, ab und zu verstreute Siedlungen und Nomaden. Dementsprechend wichtig ist die Stadt seit jeher als Handelszentrum. Von alten Zeiten zeugt ein Steinfort am Rande der Stadt. An die 600 Jahre alt, aber deutlich dem Verfall preisgegeben, ragen Mauerreste wie Zähne über weites grünes Prärieland. Einmalig faszinierend sind die vielen Nomadenzelte, welche kleinen Zirkuskuppeln gleichen.

Für uns gilt es zum ersten Mal, unsere Taschen richtig mit Lebensmitteln aufzufüllen, um die „Wildnis“ zu überstehen. Bis Kashgar gibt es keine große Möglichkeit mehr, um viel nachzukaufen. In Tashkurgan können wir in „Supermärkten“ noch aus dem Vollen schöpfen. Aber dabei muss man bei all dem chinesischen Zeugs erst mal das Essbare vom Ungenießbaren unterscheiden lernen. „Try and error“, aber wir bekommen bestimmt noch viel Gelegenheit unsere Lieblings-Nudelsuppe zu küren. Außerdem gibt es Schokolade, was will man mehr? Eben und so können wir uns getrost wieder radelnderweise in Richtung Kashgar auf den Weg machen. Den Karakorum Highway finden wir leider immer noch in einem trostlosen Zustand vor. Wir können es nicht fassen, in Zuge aufwendiger Sanierungsarbeiten wurde der wirklich auf der ganzen Länge erst mal zerkrümelt. So kommen wir jetzt schon in den Genuss von eigentlich für Tibet reservierten Schotter- und Waschbrettpisten. Letzteres ist der Horror eines jeden Radreisenden. Auf nicht befestigten Straßen schwingen sich die Stoßdämpfer der darüber bretternden Fahrzeuge auf, so dass sich kleine Wellen auf der Piste bilden. Das kann endlos gehen und für den armen Fahrradfreund bedeutet dies äußerst ungemütliches, holperiges Treten.

Interessant ist aber, wie solche Großprojekte in China angegangen werden, nämlich in Handarbeit! Arbeitskräfte gibt es genügend und den Gesichtern nach zu urteilen werden die Leute von ziemlich weit hierher gebracht oder beordert, um die Straße wiederherzustellen. Schwere Maschinen sieht man selten. Es dominieren Schaufeln, Meißel und Maurerkellen. So wird das Fundament aufgeschüttet und der Straßengraben gemauert. Erstaunlich viele Frauen sind mit schwerster Arbeit beschäftigt. Auf heimischen Baustellen wäre dies ein eher ungewöhnliches Bild. In regelmäßigen Abständen sind Zeltstädte, Roadcamps, für die vielen Straßenarbeiter entstanden. Es gibt hier sonst nicht viel, nur wenig Dörfer. Man stelle sich das vor, den ganzen Tag Tonnen von Steinen durch die Gegend tragen, um dann in einem notdürftigen Zelt mit hundert anderen Schlaf zu finden. Das bei Wind und Wetter, solange bis die Straße fertig ist.

Die Landschaft zeigt sich eher wüstenähnlich. Von den Bergen des Pamirs erreichen kleine Bäche das Tal und bilden Oasen, an denen sich das Leben sammelt. Ein großer Moment, als wir auf eine riesige Ebene radeln. Schnurgerade zieht die Straße darüber, viele Nomadenzelte säumen den Weg. Ab und an finden sich sehr orientalisch wirkende Dörfer mit kleinen Moscheen und Lehmhäusern mit Flachdächern. Beinahe den ganzen Horizont nimmt der Muztagh Ata ein. „Vater des Schnees“ heißt dies übersetzt, ein 7546 Meter hoher Gletschergigant. Der Berg baut sich rampenartig auf, dazwischen fließen aus Tälern Dutzende von Gletschern, die auf der Ebene enden. Unsere Hauptbeschäftigung für diesen Tag, diese Ebene zu überqueren.

Gegen Abend wollen wir zum ersten Mal unser Zelt neben der Straße beziehen. Leichter gesagt als getan einen adäquaten Platz hierfür zu finden, weil erstens braucht man Wasser, klares wenn möglich, und zweitens sind alle guten Plätze schon von Straßenarbeitern besetzt und mittendrin wollen wir unseren Tempel doch nicht hineinstellen. Es würde eine Nacht mit wenig Schlaf werden. Mehr notdürftig verschanzen wir uns schließlich hinter einer Düne. Das Wasser aus einem nahen Fluss sieht sehr mineralreich aus, um es vorsichtig auszudrücken, soll heißen, schlammig sandig. Aber Sand ist nicht giftig, knirscht nur zwischen den Zähnen.

Wir dachten zwar, einen einigermaßen ruhigen Platz gefunden zu haben, aber mit dem Arbeitseifer der Straßenbauer rechneten wir nicht. Ab und zu helfen auch viele Hände nicht, ein Bagger muss her und der Fahrer zeigt sich besonders fleißig. Die ganze Nacht arbeitet er lautstark ein paar Meter von unserem Zelt entfernt durch und bis zum Morgen hat er einen Hügel nebenan begradigt und uns um den Schlaf gebracht.

Auf uns wartet jedoch der Ulugrabat-Pass, 4078 Meter hoch. Leider ziehen sich die Bauarbeiten bis darüber hinaus. Kurz vor dem höchsten Punkt hat jemand ein riesiges Schild mit dem Bild einer vierspurigen Autobahn aufgestellt. Soll so der neue Karakorum-Highway aussehen? Ich hoffe doch nicht. Im aktuellen Zustand kann man jedoch genauso gut getrost neben her querfeldein fahren, der Untergrund verschlimmert sich dadurch nicht. Geröll, Waschbrett, Sandpiste und ein bisschen Wind dazu. Da darf man schon mal ein wenig jammern.

Das Wetter spielt zwar nicht ganz mit, aber die Aussicht oben vom Pass ist schon gut. Der Muztagh Ata erhebt sich gleich neben der Straße. Der Berg ist zwar hoch, aber technisch nicht allzu schwer, weswegen er bei Bergsteigern recht beliebt ist. Vom Karakorum-Highway liegt das Basislager in Sichtweite. Mehr als zwei Stunden Fußmarsch wären es sicher nicht gewesen. Direkt vor uns zeigt sich der Kongur, ein weiteres gewaltiges Gebirgsmassiv, die Gipfel auch deutlich jenseits der 7000 Metermarke.

Nach jedem Aufstieg geht es wieder runter und nachdem wir seit Gilgit quasi nur bergauf treten mussten, genießen wir diese Abfahrt umso mehr. Amüsant sind zwei Schilder direkt nebeneinander am linken Straßenrand, beide mit „Turn left“ beschriftet. An sich ganz nett, international verständlich, aber nur auf einem Schild zeigen die Pfeile dann auch tatsächlich nach links. Das kann schon verwirrend sein und prompt scheint eine mit Motorrädern reisende Gruppe von Italienern auf Abwege geraten zu sein. Die Hauptpiste des Karakorum-Highway ist zwar hier soweit wiederhergestellt, aber für den Verkehr noch nicht freigegeben. Uns auf den Fahrrädern stört das wenig, die Italiener sind dagegen auf der ausgeschilderten Umgehung regelrecht versumpft. Die Motorräder stecken bis zum Sattel im Morast. Hilfsbereite Chinesen versuchen nun die Maschinen mit Lastwägen aus dem Morast zu befreien. Gerüchteweise sollen sie es auch geschafft haben, aber falls ihr mal vorbeikommt, wundert euch nicht über Motorradwracks im Dreck!

Eingeklemmt zwischen Muztagh Ata und Kongur liegt auf zirka 3700 Meter Höhe der Kara-Kul-See. Neben Kashgar das touristische Highlight weit und breit, wenn man die entsprechenden Reiseführer zu Rate zieht. Dementsprechend verirren sich hierher doch ein paar Leute, wodurch so was wie eine touristische Infrastruktur entstehen konnte. Nun gut, nicht übertreiben, man hat die Wahl zwischen einem chinesischen „Ressort“ und betonierten Yurten. Letztere sind den Behausungen der hier einheimischen Kirgisen nachempfunden, auch ein nomadisch veranlagtes Volk. Wir stehen also etwas ratlos vor der chinesischen Absteige und werden bald von Jungs in sehr brüchigem Englisch angesprochen, ob wir eine Unterkunft suchen.

„This chinese, this bad! Sleep in tent, follow me ...“

Okay überzeugt, mehr braucht es nicht, um systemkritische Touristen rumzukriegen. So stapfen wir den beiden über Wiesen hinter her. Von den Gesichtszügen her erinnern sie eher an Mongolen, aber mit arabischem Einschlag. Rundliche Gesichter mit sanften Zügen. So sehen also Kirgisen aus. Und wie eine echte kirgisische Yurte aussieht, dürfen wir auch bald erleben. Die steht malerisch in der Nähe des Sees. Vollkommen mit Tierfellen abgedeckt, darunter ein Holzgerüst, welches die Behausung stützt, das Ganze gut abgespannt. Es scheint in der Gegend öfters mal ziemlich windig zu sein. Für 30 Yuan, also umgerechnet drei Euro hätten wir mit der Familie in der Yurte übernachten können. Mal kurz durchgezählt, Vater, Mutter und zwei Kinder, dazu die Oma. Das gibt bei geschätzten sechs Metern Durchmessern nicht mehr allzu viel Privatsphäre. Wir bauen also unsere Hightech-Yurte aus der Schweiz gleich daneben auf. Was die Familie wohl von unserer Unterkunft denken mag? Ein bisschen klein vielleicht. Auf die Bewirtung wollen wir aber nicht verzichten, es gibt Reis und Kartoffeln. Einfach, aber sehr lecker! Gelegenheit, um die Einrichtung mal genauer zu begutachten. Auf dem gestampften Boden sind Teppiche ausgelegt. In der Mitte steht ein Kanonenofen, Abzugsrohr führt durch die Mitte des Zeltes nach außen. Holz wächst in dieser Höhe nicht viel, so werden vor allem Wurzeln und Sträucher verheizt. Aber auch mal Styropor, man ist da nicht wählerisch. An den Seitenwänden ist das wenige Hab und Gut aufgereiht und ich glaube es zunächst nicht, da steht tatsächlich eine Platte mit Solarzellen, dazu eine Batterie. Das Ganze dient dazu, eine kümmerliche Glühbirne an der Zeltdecke mit Saft zu versorgen. Das hätte ich jetzt so in einer kirgisischen Yurte nun nicht gerade erwartet. Moderne Zeiten, auch bei Nomaden. Die Existenz von Windeln hat sich jedoch bis hierher noch nicht herumgesprochen. Die Hose der zweijährigen Tochter ist an der entscheidenden Stelle einfach mit einem breiten Schlitz versehen. Ist wohl auch praktischer als ständig Windeln wechseln und waschen zu müssen. Für das Geschäft geht jung und alt sowieso nur auf die Wiese vor dem trauten Heim. Die Verständigung klappt leider nicht gut, die obligatorische Frage, ob wir verheiratet sind kapieren wir trotzdem. Unser heftiges Nicken als Reaktion erhellt die Gesichter deutlich.

Frühmorgens spaziert der Familienvater geschniegelt mit Aktentasche aus der Yurte zur Arbeit. Ein herrliches Bild! Schon faszinierend, wie hier jahrhundertealte Traditionen und die Errungenschaften der Neuzeit aufeinanderprallen! Wir lassen uns mit Buttertee und in Fett ausgebackenen Chapattis verköstigen. Hauptbestandteil des Tees ist, wie der Name sagt, Butter und zwar gesalzene. Hört sich nun nicht gerade einladend an, man muss das Ganze eher als Suppe ansehen und nicht als Tee, dann spielen auch die Geschmacksnerven wieder mit. Ungemein sättigend ist es allemal.

Wir starten zur nächsten Etappe durch den Wilden Westen Chinas. Und mit der sind unsere Aufstiegsmühen vorerst erledigt. Nachdem wir das gewaltige Kongurmassiv passiert haben, biegt die Straße in einen Canyon ein und von nun an geht es bergab. Zum Glück hat es die chinesische Teerfräse bis hierher noch nicht geschafft. Aus dem Tal faucht uns dafür ein stürmischer Gegenwind entgegen, aber die nächsten 40 Kilometer können wir unsere Räder trotzdem einfach nur rollen lassen. Fantastisch! Die Straße schlängelt sich eindrucksvoll an der Schluchtwand entlang gen Tal. Ein deutsches Radler-Pärchen hatte uns einen Zeltplatz in einem kleinen Wäldchen empfohlen. Clou hierbei, klares Wasser! Ansonsten sind die Flüsse dank Sedimenten immer noch schmutzigbraun. Was die Kollegen uns verschwiegen, das Wäldchen liegt quasi mitten in einem Dorf. So bekommen wir abends viel Besuch. Reden wollen sie mit uns nicht, sondern nur zuschauen. Nun gut, heute im TV, Camping-Kochstudio mit Rankl-Ebi. Der Benzinkocher fasziniert, ungeniert wird unsere gesamte Ausrüstung durchforstet und begutachtet. Bewährtes Hausmittel gegen allzu gründliches Auseinandernehmens unseres Hab und Guts, den Neugierigen eines unserer vielen Bücher in die Hand drücken. Darin enthaltene Bilder von ihrer eigenen Heimat kommen gut an. Wenn man eine so abgelegene Gegend sein Zuhause nennt, bekommt man wohl nicht viel Gelegenheit, etwas von der Welt ringsum zu sehen.

Ziemlich abrupt führt die Straße vom Pamir hinaus in die weiten Steppen Zentralasiens. Der Blick zurück, gigantisch! Über allem erheben sich die Eisriesen des Pamirs, darunter laufen die Berge in einem Farbenspiel ohne Gleichen zur Ebene hinaus. Vom blendenden Weiß der Gipfelregionen, über Felsgrau und den in den Tälern dominierenden Ockertönen mit grünen Wäldchen. Die Gegend ist sehr trocken, befinden wir uns doch nun am Rande der Taklamakan-Wüste, der zweitgrößten Sandwüste der Erde. Fern vom Meer und von Gebirgen eingerahmt, fällt hier nicht viel Regen. An den Randausläufern fließen große Flüsse von den Gebirgsgletschern zur Ebene hinaus. Die Menschen nutzen dieses kostbare Gut zur Bewässerung ihrer Felder, was aber auch nur im begrenzten Umfang möglich ist. Wie ein Strich führt der Karakorum-Highway über absolut flaches Gelände. Man kommt sich doch etwas verloren vor in der weiten Ebene. Steinwüste überwiegt, dazwischen aber auch viele kleine bewaldete Oasen mit Dörfern.

Dies ist die Heimat der Uiguren. Deren große Zeiten sind schon lange vorbei, im achten Jahrhundert waren sie und ihr Reich Ost-Turkestan die Großmacht im zentralasiatischen Bereich. Seither gerieten sie jedoch immer wieder unter die Herrschaft von fremden Mächten. Nach dem zweiten Weltkrieg gab es Versuche den Staat Ost-Turkestan wieder zu beleben, aber auf dem Weg zu einem Besuch in Peking kam die gesamte Führungsschicht bei einem mysteriösen Flugzeugcrash ums Leben. Die Gebiete wurden daraufhin von den Chinesen (wieder) annektiert. Das Schicksal der Tibeter ist bei uns hinlänglich bekannt, den Uiguren erging es nicht besser. Die Benachteiligung dauert bis heute an, wichtige Ämter werden fast nur von Chinesen besetzt und so weiter und sofort. Das ganze Programm der Unterdrückung. Wie in Tibet versucht die Zentralregierung möglichst viele Han-Chinesen hier in der Provinz Xinjiang anzusiedeln, wie sie heute heißt, um ihren Einfluss und Führungsanspruch zu stärken. Auch hier werden die Uiguren nach und nach zur Minderheit im eigenen Land. Eine Gruppe, welche für mehr Unabhängigkeit kämpft, wurde kurzerhand im Zuge der Ereignisse um diesen einen 11. September zur terroristischen Organisation erklärt und wird seither rigoros bekämpft. Die chinesische Obrigkeit ist bei solchen Anlässen nicht gerade für Zimperlichkeit und einfühlsame Politik bekannt, es regiert die Gewalt. Auch dies ist hinlänglich bekannt.

Auf dem Land merkt man hiervon als Fremder nicht viel. Wir kommen durch Upal, die erste größere Stadt seit Tashkurgan, welche uns mit einem großen Markt beeindruckt. Es gibt viel Obst und Gemüse, vor allem Wassermelonen. Wir wundern uns schon, wie dies alles bei dem trockenen Klima gedeihen kann. Wassermelonen kann man in dieser wüstenhaften Gegend als wahrlich paradiesische Frucht bezeichnen. Ausgedörrt wie wir sind, kommt uns diese unverhoffte Erfrischung doch sehr entgegen. Dominierendes Gefährt ist der Eselkarren, Autos sieht man kaum welche. An sich ist der Eselkarren das ursprünglichste aller geländegängigen Fahrzeuge. Zwei Holzräder, eine Deichsel, Brett darüber, Esel davor, fertig. Unglaublich was den kleinen Tieren alles an Lasten aufgebürdet wird. Auch längere Strecken werden damit zurückgelegt. Wir sind quasi nur am Überholen, verfügen damit doch eindeutig über mehr Eselpower auf dem Sattel.

Die Orientierung gestaltete sich bis hierher sehr einfach, es gibt ja nur die eine Straße. Jetzt an der ersten Kreuzung stehen wir doch etwas sehr dumm vor dem Schild mit den großen chinesischen Zeichen. So fühlen sich also Analphabeten. Da hilft nur Fragen weiter. Links geht es weiter. Kashgar entgegen. Das erste große Etappenziel! Nach 490 Kilometern und acht Etappen, die wir hierfür benötigten, abgesehen von der Busepisode am Khunjerab-Pass.

Kashgar ist seit jeher eine wichtige Station an der Seidenstraße, dieser uralten Handelsroute zwischen Asien und Europa. Erste Berichte von der Existenz der Seidenstraße stammen bereits aus dem fünften Jahrhundert vor Christus. Dabei handelte es sich nie um einen Weg, sondern vielmehr um ein weitverzweigtes Netz mit einigen wichtigen Hauptrouten. In der Oase Kashgar liefen schließlich die nördliche und südliche Route zur Umgehung der Taklamakan-Wüste wieder zusammen. Von hier splittete sich die Seidenstraße erneut auf. Ein Seitenarm führte über den relativ niedrigen Khunjerab-Pass nach Süden in Richtung indischer Subkontinent, der heutige Karakorum-Highway. Dies unterstreicht die Wichtigkeit von Kasghar, als zentraler Knotenpunkt für Handel jeglicher Art. Nach einem Dornröschenschlaf während der finstersten Jahre des Kommunismus, bekommt die Stadt ihre Bedeutung durch den Bau des Karakorum-Highways und der Öffnung einiger Grenzen in der Region nun langsam wieder zurück. Wenn die Leute also eines können, dann muss das Handeln sein. Eine über 2000-jährige Erfahrung darin kann nicht jedermann vorweisen. Besonders berühmt ist daher der Sonntagsmarkt, an dem sich Händler aus nah und fern in der Stadt einfinden.

Wir haben also durchaus exotische Erwartungen, als wir in die Stadt einrollen. Der erste Eindruck fällt dann aber doch zunächst ernüchternd aus. Wieder bestimmen diese typisch chinesischen Betonklötze mit gesichtslosen Fassaden das Bild. Wir steuern das „Seman-Hotel“ an. Einst russische Botschaft, dient der weitläufige Bau nun als Unterkunft für Touristen. Der ganze Komplex wirkt auf den ersten Blick wie ein supertolles Luxushotel mit Pagen und allem drum und dran. Aber das Gebäude kann sein Alter nicht verbergen. Für chinesische Verhältnisse ist das Doppelzimmer für 160 Yuan schon teuer, aber verglichen mit den Preisen in Deutschland immer noch ein Schnäppchen. Wir verfrachten sofort ungeniert unsere dreckigen Räder in das Zimmer, was aber niemanden stört.

In Kashgar laufen all die großen Fernradrouten zusammen, von denen man daheim über Bücher gebeugt so träumt. Kirgisien, Karakorum-Highway und von der Mongolei kommend via Urumqi. Lauter großartige Routen und die Leute treffen sich alle im Seman-Hotel. Auch die ganzen Tibetfahrer sind hier, aber die geben sich eher leise. So auch wir. Man möchte nicht auffallen, keiner soll von den großen Plänen erfahren. Der Feind hört mit!

Wir treffen Paul wieder, der uns gleich etwas von tollen Peking-Enten mit knusperiger Haut vorschwärmt. Unvergleichlich meint er! Doch etwas ausgehungert ziehen wir sofort los. Weit kommen wir allerdings zunächst nicht. Im Stadtkern gibt es noch alte uigurische Viertel und die sind so orientalisch exotisch, wie man sich das nur vorstellen kann. Vorerst haben wir jedoch nur Augen für das Essen. Die Spezialität schlechthin sind „Kawap“, ein Kebab-Spieß mit Hammelfleisch. Vor dem Restaurant werden die Spieße auf einem offenen Grill zubereitet. Rauchschwaden ziehen durch die Straßen. In der Ecke hängt ein geschlachtetes Schaf, von dem die Fleischstücke direkt abgeschnitten werden und auf dem Grill landen. Man bestellt die gewünschte Anzahl der Spieße, Stückpreis unschlagbare ein Yuan. Dazu gibt es sehr leckeres uigurisches Brot, „Naan“ genannt, und Tee. Letzterer geht aufs Haus. Englisch spricht mal wieder keiner und so müssen wir uns mit Deuten behelfen. Paul kennt ein paar Brocken Türkisch, die hier tatsächlich verstanden werden.

Zur Tracht der Männer gehört eine quadratische Kappe mit Rautenmuster, sehr schön anzusehen. Der zentrale Platz mit der Idkah-Moschee wird gerade renoviert und man glaubt es kaum, nicht geschmacklos chinesisch sondern durchaus bemüht, der lokalen Kultur Rechnung zu tragen. Die Moschee steht hier seit 1442 und ist der zentrale Treffpunkt. Rundherum gibt es eine endlose Anzahl von Basaren, im Zentrum allerdings doch eher mit Augenmerk auf Touristen angelegt. Kleine, orientalisch verzierte Messer sind das Verkaufskulturgut Nummer Eins. Nur einmal unvorsichtig einen verstohlenen Blick auf die Auslagen geworfen, schon findet man sich mitten in einem Verkaufsgespräch wieder. Plötzlich werden auch ein paar Brocken Englisch hervorgekramt. Handeln ist wie überall im Orient Pflicht. Aber gegen 2000 Jahre Erfahrung können wir mit unserer Supermarktmentalität nicht wirklich anfeilschen. Zumal das Eröffnungsangebot eigentlich schon ein unschlagbares Schnäppchen darstellt. Aber so einfach ausnehmen lassen will man sich nun auch nicht und ist bemüht, dem entgegenzuwirken. Zuletzt verlassen wir den Laden mit einem schicken Messer und Kashmiri-Schals dazu. Der Verkäufer scheint zufrieden, wir sind es auch. Aber wir kommen nicht weit, in einem Miniladen wird an Ort und Stelle so eine Art Geige zurechtgeschnitzt. Wunderschön verziert und schon wieder nennen wir einen Preis. Zum Glück wollen wir von Kashgar sowieso das erste Paket nach Hause schicken, welches nun größer ausfällt, als gedacht.

Unsere Erfahrungen mit der chinesischen Post sind im Nachhinein außerordentlich gut. Billig und absolut zuverlässig! Es ging kein einziges Paket verloren. Wenn man sich vorstellt, das die von uns bevorzugte billigste Option wohl einen Kameltransport durch die Taklamakan-Wüste beinhaltet, schon eine Leistung.

Der Sonntagsmarkt von Kashgar, was für ein Gewusel! Hier gibt es wirklich alles zu kaufen. Wir fangen mit der Touristenhalle an, jede Menge chinesisches Zeug, politisch nicht korrekte Pelze, politisch korrekte Kleidung und viel, viel Krimskrams. Dazu dubiose chinesische Heilmittel aus Hörnern und weiß der Mao alles. In Einmachgläsern schwimmen eingelegte Frösche, Schlangen und anderes Getier.

Sonntagsmarkt scheint aber eigentlich jeden Tag zu sein und mal ehrlich, was würden die Leute auch sonst den Rest der Woche tun. Geld zählen? Also dann kann man sich auch auf den Markt hocken.

Der wahre Markt findet draußen auf der Straße statt. Viele Essensstände, Geschirr, Metallwaren, Metzger, für alles gibt es eigene Bereiche in den Basaren. Die Menschen machen Eindruck. Windgegerbte Gesichter, lange Bärte, Schleier. Uiguren, Chinesen, Pakistanis und wer weiß, was noch für Völker. All die Waren werden frühmorgens mit Eseln in die Stadt gekarrt. Der sonst für Autos vorgesehene Parkplatz ist vollgestellt mit hunderten von Eselkarren. Was für ein Bild! Insbesondere das Abschleppschild entbehrt mit all den Eseln darunter nicht unfreiwilliger Komik.

Das eigentliche Spektakel ist jedoch der vor den Toren der Stadt ausgelagerte Tiermarkt. Wir lassen uns von einem der vielen Tuk-Tuks dorthin transportieren. Kamel gefällig? Kein Problem, kann hier ersteigert werden. Zwischen all den Tieren sieht man die Männer vertieft in Fachgespräche, hier wird ernsthaft gehandelt. Als Tourist und damit ziemlich unwahrscheinlicher potentieller Käufer wird man nicht beachtet, weswegen dieser Markt ursprünglicher ist, als sein Pendant in der Innenstadt. Endlos viele Ziegen stehen an den Köpfen zusammengebunden aufgereiht. Ein Käufer versucht den gerade erstandenen Ochsen auf die Pritsche seines Lastwagens zu bewegen. Beide sind von der Prozedur nicht begeistert. Der Umgang miteinander ist dementsprechend nicht gerade zimperlich. Tierschützer sollten es sich gut überlegen, ob sie dem Treiben hier einen Besuch abstatten wollen. Ebenso Vegetarier. Vor dem Markt stehen Metzger und Grillmeister bereit. Geschlachtet wird auf offener Straße. Was sich wohl so ein Schaf denkt, wenn es an den abgetrennten Köpfen seiner Artgenossen vorbeigehen muss?

Wir lassen uns nicht abschrecken und sind ein weiteres Mal von der uigurischen Küche begeistert. Neueste Entdeckung „Laghman“. Lange Nudeln mit feiner Gemüse- und Fleischsoße. Kommt einem irgendwie bekannt vor? Richtig, genau das hat Marco Polo damals daheim als Spaghetti verkauft. Hier ist es das Alltagsgericht schlechthin und wird zu jeder Tageszeit serviert. Sogar zum Frühstück, höllisch scharf versteht sich. „Samsa“ sind Teigtaschen mit Hammelfleisch gefüllt und ebenfalls sehr lecker.

Wagt man sich in die alten uigurischen Viertel von Kashgar, die es noch immer gibt, fühlt man sich um einiges in der Zeit zurückversetzt, mitten hinein in ein orientalisches Abenteuer. Die Stadtteile sind quasi nach Handwerk aufgeteilt. Während hier lautes Dängeln und Scheppern von Metallbearbeitung zeugt, fallen dort Späne vom raren Gut Holz. Zwischen drin, bunte Basare mit Gewürzen und Trockenfrüchten. Generell sind die Gebäude jedoch dem Verfall preisgegeben. Einstige Herrenhäuser mit wunderschönen orientalischen Ornamenten verziert, hängen nun windschief über der Straße. Elektrische Leitungen werden da verlegt, wo sie gerade gebraucht werden. Ein heilloses Durcheinander. Wehe, wenn hier jemand einen Kabelbruch oder ähnliches suchen muss. Alte Stadtmauern zeugen von längst vergangen Zeiten, um die Stadt herum verteilte Mausoleen vom Reichtum und Macht einstiger Herrscher. Die Bauwerke gleichen Moscheen, im Innern sind die Särge aller Familienmitglieder aufgebahrt. Erstaunlich viele Miniaturausgaben für Kleinkinder sind mit dabei.

Der chinesische Teil der Stadt glänzt mit sechsspurigen Straßen. Die Grünphasen sind mit Countdown-Ampeln versehen. Am zentralen Platz, eine riesige Mao-Statue mit ausgestreckter Hand. Chinesen lassen sich vor dem Abbild ihres großen Führers ablichten. Obwohl er mit seinen politischen Experimenten der größte Massenmörder des 20. Jahrhunderts ist, hat sein Ansehen bei den Landsleuten nie gelitten. Aufklärung fand bisher nicht statt und für große Fehler fanden sich immer genügend andere Sündenböcke. Schön beschaulich der angrenzende Volkspark. Man sieht uigurische Familien beim Nachmittagspicknick.

Kuerzlich in Asien

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