Читать книгу ERZÄHLPERSPEKTIVEN: Auktorial, personal, multiperspektivisch - Stephan Waldscheidt - Страница 10

Wie nahe holen Sie die Leser heran?

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In unseren so virtuellen Zeiten, in denen man mehr Stunden vor Bildschirmen und Buchseiten verbringt als vor einem menschlichen Gegenüber, ist die emotionale Bindung an einen oder die Identifikation mit einem fiktiven Charakter für viele Leser wichtiger als je zuvor.

Was zunächst paradox klingt, leuchtet ein: Früher hatten die Leser ihre Bindungen fast ausschließlich im realen Leben, sie mussten sie nicht im Fernseher, auf der Kinoleinwand, in einem Magazin oder auf dem Smartphone suchen. Heute werden wir zudem mit Eindrücken übersättigt – und eben auch mit fiktiven Charakteren aus Serien, Filmen, Games, Comics und Büchern. Selbst realen Menschen treten wir oft nur virtuell entgegen, ob am Telefon, in sozialen Medien oder in Videokonferenzen. Unsere Sehnsucht nach bedeutsamen und emotionsstarken Kontakten bleibt jedoch unbefriedigt, wird durch all das eher noch verstärkt. Kein Wunder also, dass für viele das Lesen eines Romans auch eine Suche nach emotionaler Bindung ist. Selbst wenn diese einseitig bleiben muss. Für Sie ist das ein großer Vorteil: Diese Leser wollen sich in Ihre Romanfiguren verlieben.

Andere Leser – oder dieselben Leser zu einer anderen Zeit, in einer anderen Stimmung – ziehen die Distanz einer zu großen Nähe vor. Ihnen hilft der Abstand zu den Ereignissen einer Geschichte, um ihr eigenes, zu intensives (was meistens heißt: zu stressiges) Leben abzutönen. Sie möchten gar nicht in die Haut eines anderen schlüpfen, sondern genießen es, die dramatischen Vorgänge aus der Ferne zu betrachten und sich einmal nicht mit hochkochenden Emotionen zu befassen, über den Dingen stehen zu dürfen, statt mittendrin zu stecken. Männer scheinen vermehrt zu dieser Gruppe zu gehören, denn selbst die raren Romanleser unter ihnen bevorzugen häufig die nüchternen und damit distanzierteren Genres wie Krimi, SciFi oder Hochliteratur.

Bei der Auswahl der Erzählperspektive geht es daher um sehr viel mehr als nur darum, welches Personalpronomen Ihnen sympathischer ist. Eine der ersten Fragen, die Sie klären sollten, ist die nach der Nähe, die die Leser zu Ihren Figuren und insbesondere zu Ihren Protagonisten empfinden sollen. Je näher die Leser an einer Romanfigur dran sind, desto eher identifizieren sie sich mit ihr und desto bereitwilliger, leichter und tiefer versinken sie in Ihrer Story.

Ein bestimmtes Maß an Nähe oder Distanz der Leser zu Charakteren und Geschichte herzustellen ist Ihr Ziel – die Erzählperspektive und deren Ausgestaltung sind die Mittel, mit denen Sie es erreichen. Anders gesagt: Werden Sie sich erst darüber klar, wie nahe Sie Ihre Leser an Charaktere, Story und Thema heranholen wollen – und dann entscheiden Sie sich für die Perspektive, mit der Ihnen das am besten gelingt.

Was genau meinen wir mit der Nähe der Leser zu einem Charakter? Stellen Sie sich zwei Personen in einem Zimmer vor (Ihrem Wohnzimmer), die Romanfigur und den Erzähler. Wenn Sie sehr nahe erzählen, stellen Sie Ihren Erzähler dicht neben die Figur. Er drückt seine Wange gegen ihre und schaut in dieselbe Richtung. So nahe, Wange an Wange, sehen beide das Gleiche, sie riechen sogar das Gleiche, und wenn die Romanfigur einen Bissen von ihrem Teller nimmt, steckt sich auch der Erzähler einen Bissen vom selben Teller in den Mund. Der Erzähler, leicht telepathisch begabt, hört aus dieser Nähe, was die Romanfigur denkt, und der Erzähler, stark empathisch, fühlt, was die Romanfigur fühlt.

Je nachdem, wie gut er erzählen kann, holt er die Leser mit zu sich und an die Figur heran. Dann ist es, als ob nicht der Erzähler da stünde, sondern an seiner Stelle die Leser. Und wenn es mit der Identifikation klappt, vergessen die Leser den Erzähler und schlüpfen in den Charakter hinein.

Entfernt sich Ihr Erzähler von der Romanfigur und stellt sich ans andere Ende des Zimmers, sieht er nicht mehr exakt das Gleiche, sein Geruchssinn nimmt Düfte schwächer wahr und die Gedanken werden nicht länger alle empfangen, die Gefühle werden nicht mehr genau nachempfunden. Trotzdem bleibt das Erzählen personal[Fußnote 13] im Sinne eines begrenzten Wissens, weil beide, Erzähler und Figur, sich dennoch am selben Ort befinden und zum Beispiel nur undeutlich hören, was in der Küche nebenan vor sich geht, und nichts davon sehen, was im Keller, zwei Stockwerke tiefer, geschieht. Entsprechend kann der Erzähler auch den Lesern nur diese eingeschränkten Erfahrungen, diese undeutlicheren Gefühle mitteilen.

Achtung, Missverständnis droht!

Es geht in den meisten Romanen nicht darum, dass die Leser genau das Gleiche empfinden sollen wie der Charakter, auch nicht in abgeschwächter Form. Tatsächlich ist die emotionale Reise der Leser eine andere als die der Figuren. Es geht selbst bei einer emotionalen Bindung, bei großer Nähe und Identifikation eben um das: eine Verbundenheit, die durch Mitgefühl entsteht: »Mich Leser berührt, wie du Charakter leidest.« Es geht nicht darum, dass Ihre Leser leiden. Hoffe ich …

Denken Sie umgekehrt an die zentrale Emotion »Spannung«. Diese wollen Sie in Ihren Lesern hervorrufen, sicher nicht in Ihren Charakteren.

Möchten Sie die Leser also möglichst dicht an Ihren Charakter heranbringen, sie tief in seinen Kopf, seine Gefühle lassen und sie damit berühren?

Große Nähe fungiert als Vergrößerungsglas: Der Charakter wirkt massiger, stärker, wichtiger, Details erlangen mehr Bedeutung – und ein solcher Charakter unter der Lupe ist eher in der Lage, auf glaubhafte Weise einen Roman zu tragen. Mehr noch: Ein dem Leser naher Charakter erschafft den Roman mit seinen Entscheidungen und Taten leichter und organischer als eine dem Leser ferne Figur. Denn der nahe Charakter wirkt selbstbestimmter, eigenständiger, während die ferne Figur zu einer Marionette des, vergleichsweise, starken Erzählers zu werden droht. Anders gesagt: Ein Charakter, der dem Leser sehr nahe ist, scheint einen eigenen Willen zu haben, er oder sie sitzt am (Plot-)Hebel, nicht der Erzähler, nicht der Autor.

Oder möchten Sie die Leser auf Abstand halten? Das ist wahrscheinlich dann die bessere Lösung, wenn Sie aus einer ironischen Distanz erzählen. Es lacht sich leichter über Figuren, denen man weniger nahe ist.

Auch um die Gefühle der Leser zu schützen, kann mehr Distanz sinnvoll sein. Denken Sie beispielsweise an einen Handlungsstrang aus der Perspektive eines psychopathischen Kindermörders – zu viel Nähe über zu viele Seiten könnte das Lesen hier buchstäblich zur Qual machen.

Eine hilfreiche Frage

Wollen Sie von einem Charakter erzählen (distanziert) oder als der Charakter (nahe)?

Nähe zu den Charakteren ist nicht die einzige Nähe. Sie können die Leser auch oder stattdessen näher an die Ereignisse führen, also an die Story, oder näher ans Thema.

So mag ein auktorialer Erzähler durch sein Sichtbarwerden zwar die Nähe zu den Charakteren stören, zugleich aber mehr Nähe zu dem herstellen, was sich ereignet, etwa über seinen allwissenden Überblick oder das Herausarbeiten von Auffälligkeiten und Mustern, die der einzelnen Figur nicht zugänglich sind. Ebenso kann der auktoriale Erzähler eine spannende Diskussion der im Roman verhandelten Werte schildern. Damit holt er die Leser bei Wertefragen heran, bleibt den Charakteren jedoch relativ fern.

Nähe heißt hier zudem, dass Sie den POV-Charakter die Ereignisse und Taten, das ganze Umfeld bewerten lassen: durch Reaktionen in Form von Gedanken und Gefühlen. Erst diese Bewertungen geben den Lesern einen Kontext und Anhaltspunkte, sich ihr eigenes Bild zu machen, erst diese Bewertungen erlauben es ihnen, den POV-Charakter kennenzulernen.

Reagiert die Protagonistin auf eine Beleidigung mit Trotz? Mit Humor? Oder zieht sie sich innerlich zurück? Liebt der Held seine Arbeit als Forensiker? Oder leidet er unter dem Anblick eines Kinderherzens auf einer Waage im Leichenschauhaus? Beobachten die Leser die beiden Protagonisten nur bei diesen Ereignissen und Handlungen, ohne in ihr Innenleben zu blicken, können sie ihnen nicht nahekommen. Mehr noch: Ohne diese Orientierung durch die Innenschau wissen die Leser nicht, was sie selbst empfinden sollen. Erst die Nähe zu den Charakteren gibt den Lesern eine Richtung oder eine Schablone für ihre eigenen Emotionen. Und wie Sie wissen, sind die Emotionen der Leser das Wichtigste bei Ihrem Roman, für Sie zugleich Ziel und Kapital.[Fußnote 14]

Für einen angenehmen Lesefluss sorgt eine rhythmische Abwechslung aus Außensicht und Innenschau, sodass sich eine Abfolge ergibt, die so natürlich wirkt wie atmen.

Faustregel[Fußnote 15]

Zu viel Außensicht tötet die Emotionen, zu viel Innenschau tötet die Handlung.

Das für Ihren Roman oder für einen Handlungsstrang richtige Verhältnis Außensicht zu Innenschau hängt vom Genre und von der Art Roman ab, die Sie schreiben.

Schreibtipp

Das Innenleben können Sie durchaus mal unterschlagen – an einer Stelle und pointiert –, um eine Überraschung oder einen Twist vorzubereiten.

Nahe zu erzählen, heißt auch: durch den Filter des Erzählers oder POV-Charakters. Je stärker das (objektiv) Wahrnehmbare vom (subjektiven) Filter verändert wird, desto intimer, authentischer und näher wirkt die Erzählweise.

Letztlich stellen sich Ihnen die zentralen Fragen, die uns bei jeder Perspektivwahl begegnen werden: Was wollen Sie bei den Lesern erreichen? Und was wollen Ihre Leser von Ihrem Roman?

Denken Sie etwa an Frank Schätzings Buchbacksteine wie »Der Schwarm« oder »Limit«. Darin gelingt es ihm gut, die Leser nahe an die Ereignisse und an das Thema heranzuholen. An die Charaktere holt er sie eher weniger heran. Die in diesen Romanen erzeugte Nähe ist eine eher intellektuelle, kopfgesteuerte Nähe, mehr Verständnis als Mitgefühl, und genau das, was Leser in dieser Art Roman suchen.

Emotional am nächsten aber kommen die Leser Ihrem Roman als Ganzes dann, wenn sie mit den Charakteren mitfiebern und sich mit ihnen identifizieren. Idealerweise sorgt diese Nähe zu den Figuren für die Nähe zu Handlung und Thema. Logisch: Wir interessieren uns mehr für Ereignisse und Themen, wenn uns die Menschen nahe sind, denen diese Ereignisse widerfahren oder denen die Themen etwas bedeuten. Daher betrachten wir im Folgenden vor allem die emotionale Nähe oder Distanz zwischen Leser und Figur. Dass Sie alternativ oder zusätzlich Nähe zur Handlung, zum Thema, zum Setting herstellen können, behalten Sie im Hinterkopf.

Vergleichen Sie die Anfänge von zwei der größten Klassiker der Weltliteratur:

»…

Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Weise.

Drunter und drüber ging es bei den Oblonskis. Die Frau des Hauses hatte erfahren, dass ihr Mann eine Liaison hatte mit einer Französin, die als Gouvernante im Haus gewesen war, und hatte ihrem Mann verkündet, dass sie nicht mehr im selben Haus mit ihm leben könne. Diese Situation dauerte schon den dritten Tag und wurde sowohl von den Eheleuten wie von allen Familienmitgliedern und Hausgenossen als qualvoll empfunden. Alle Familienmitglieder und Hausgenossen hatten das Gefühl, dass ihr Zusammenleben keinen Sinn habe und dass in jedem Absteigequartier die zusammengewürfelten Gäste mehr miteinander verbinde als sie, die Familienmitglieder und Hausgenossen der Oblonskis. Die Frau des Hauses kam nicht aus ihren Räumen, ihr Mann war den dritten Tag nie daheim.

Die Kinder rannten wie verloren im Haus herum; die Engländerin hatte sich mit der Wirtschafterin zerstritten und schrieb einer Freundin ein Billett, sie möge sich nach einer neuen Stelle für sie umtun; der Koch hatte gestern das Weite gesucht, noch während des Diners; Küchenmagd und Kutscher baten um Auszahlung.

…«

(Leo Tolstoi, »Anna Karenina«, Hanser in der Übersetzung von 2009, Original von 1877)

»…

»Was ist das. – Was – ist das …«

»Je, den Düwel ook, c’est la question, ma très chère demoiselle!« Die Konsulin Buddenbrook, neben ihrer Schwiegermutter auf dem geradlinigen, weiß lackierten und mit einem goldenen Löwenkopf verzierten Sofa, dessen Polster hellgelb überzogen waren, warf einen Blick auf ihren Gatten, der in einem Armsessel bei ihr saß, und kam ihrer kleinen Tochter zu Hilfe, die der Großvater am Fenster auf den Knieen hielt.

»Tony!«, sagte sie, »ich glaube, daß mich Gott –« Und die kleine Antonie, achtjährig und zartgebaut, in einem Kleidchen aus ganz leichter changierender Seide, den hübschen Blondkopf ein wenig vom Gesichte des Großvaters abgewandt, blickte aus ihren graublauen Augen angestrengt nachdenkend und ohne etwas zu sehen ins Zimmer hinein, wiederholte noch einmal: »Was ist das«, sprach darauf langsam: »Ich glaube, daß mich Gott«, fügte, während ihr Gesicht sich aufklärte, rasch hinzu: »– geschaffen hat samt allen Kreaturen«, war plötzlich auf glatte Bahn geraten und schnurrte nun, glückstrahlend und unaufhaltsam, den ganzen Artikel daher, getreu nach dem Katechismus, wie er soeben, anno 1835, unter Genehmigung eines hohen und wohlweisen Senates, neu revidiert herausgegeben war. Wenn man im Gange war, dachte sie, war es ein Gefühl, wie wenn man im Winter auf dem kleinen Handschlitten mit den Brüdern den »Jerusalemsberg« hinunterfuhr: es vergingen einem geradezu die Gedanken dabei, und man konnte nicht einhalten, wenn man auch wollte.

…«

(Thomas Mann, »Buddenbrooks«, S. Fischer 2014 (Erstausgabe 1901))

Beide Anfänge werden auktorial erzählt, beide beginnen mit der Schilderung eines Familienlebens. Während Tolstoi eher einen Überblick über die Verhältnisse gibt, schreibt Mann szenisch, bringt Dialog und dringt in die Gedanken seiner Charaktere vor. Sein Erzähler ist den Charakteren näher, Tolstois Erzähler bleibt mehr auf Distanz.

Übersetzungen

Tolstois Text oben ist eine Übersetzung. Da Übersetzungen nur Annäherungen sein können, nehmen Leser zu ihnen und ihren Charakteren häufig eine andere Distanz ein als zum Original. Schwerwiegender: Die Distanz des Originals über die Länge des Romans auch beizubehalten, stellt höchste Anforderungen an den Übersetzer. Bei manchen Werken ist das kaum möglich.

Je nach Schwierigkeit der Übertragung, dem Sachverstand des Übersetzers und der Zeit, die der Verlag ihm für seine Arbeit zur Verfügung stellt, können Abweichungen in der Distanz wenig ausmachen. Aber auch sehr viel. So mag eine in der Übersetzung nicht erreichte Nähe ein Grund dafür sein, dass die Übersetzung hinter dem Erfolg des Originals zurückbleibt.

Hinzu kommt, dass Leser automatisch mehr Nähe entwickeln zu vertrauten Umgebungen, Situationen oder Sprechweisen. So hat ein Deutscher, der Stephen King auf Deutsch liest, sowohl mit der distanzierenden Übersetzung zu kämpfen als auch mit den von Deutschland sehr verschiedenen sozialen Gefügen und Regeln, den Situationen und Interaktionen der Menschen in den USA.

Vielleicht denken Sie künftig daran, wenn Sie, als Leserin oder Leser, ein übersetztes Buch aus einer anderen Kultur bewerten. Ihnen als deutschsprachigem Autor oder deutschsprachiger Autorin bringt das einen Heimvorteil bei Agenten, Verlagen, Buchhändlern und Lesern in Deutschland, Österreich oder der Schweiz – den Sie nutzen sollten, indem Sie sich besondere Mühe bei der Justierung von Nähe und Distanz in Ihrem Roman geben.

Leser kommen Ihren Charakteren umso näher, je tiefer Sie sie in das Innenleben dieser Figur eintauchen lassen und je unmittelbarer ihnen die Gedanken oder Gefühle präsentiert werden.

In der Tiefe gibt es Abstufungen: von einer oberflächlichen Zusammenfassung bis zur extremen Tiefe eines Bewusstseinsstroms.

• zusammengefasst erzählte Gedanken

In ihrem Kopf fügten sich die Einzelheiten endlich zu einem Ganzen.

• detailliert erzählte Gedanken

Sie mochte Clara nicht, nicht mehr, und sie würde ihr morgen Abend nicht gratulieren.

• erzählte und gezeigte (direkte) Gedanken, optisch abgesetzt

Clara kann mich mal, dachte sie. Von mir kriegt sie nur die kalte Schulter.

• gezeigte Gedanken, optisch abgesetzt

Clara kann mich mal. Von mir kriegt sie nur die kalte Schulter.

• gezeigte Gedanken

Clara kann mich mal. Von mir kriegt sie nur die kalte Schulter.

• Bewusstseinsstrom

Clara, vergiss es, diese … diese, ach, diese Verräterin hatte alles verdient, nur kein Geschenk, hoffentlich hat sie den Schal von letztem Jahr weggeschmissen, den ich ihr … ich hätte es wissen können, nein, wissen müssen, ich hätte …

Achtung!

Bloß tief in einen Charakter hineinzugehen, garantiert nicht, dass die Leser sich ihm nahe fühlen. Wenn die Leser den POV-Charakter oder den Erzähler nicht mögen oder sich nicht für ihn interessieren oder wenn Sie die Sache sprachlich oder stilistisch ungeschickt darstellen, empfinden die Leser trotz Tiefe keine Nähe.

Der Bewusstseinsstrom kann ein hervorragendes Mittel zur kurzfristigen (!) Herstellung großer Nähe sein. Doch spätestens nach einer Seite dürften die meisten Leser genug haben.

Im folgenden Ausschnitt geht es um den Sprung aus einem Hubschrauber auf ein Dach mit Oberlicht. In der kritischen Phase der Szene wechselt Autor Tim Willocks von der nahen drittpersonalen Sicht zur ultranahen Sicht eines Bewusstseinsstroms – der hier sogar noch tiefer ausfiele, würde Willocks ihn aus der Ich-Perspektive schreiben.

»…

Grimes sah den Staatsanwalt an. »Ich bin froh, dass du so denkst«, sagte er. »Denn du kommst mit mir da rein.«

Er wandte sich von Atwaters erbleichendem Gesicht ab und nickte Titus Oates zu.

Grimes sagte: »Das ist die Belohnung der Ungläubigen.«

Titus Oates sagte: »Amen.«

Dann legte Oates seine Schrotflinte an die Schulter und pumpte zwei Ladungen großkalibrigen Schrots durchs Oberlicht.

Grimes sprang durch die Ladeluke und ließ sich fallen.

Eindruck: Seine Eingeweide kommen ihm durch die Kehle hoch. Intensive Hitze auf seinen Handflächen. Blendendes Licht. Stahlstäbe. Fallen. Zu schnell.

Drücken. Brennen. Blick nach unten.

Eindruck: Wellblech rast auf ihn zu. Die Knie gebeugt. Hält sich fest. Seine Füße schlagen auf das Blech, die Beine knicken ein. Seine Hüfte. Seine Schulter. Sein Atem wird ihm ausgetrieben. Das Brennen lässt nach. Nach unten rutschen, sich auf den Rücken drehen. Der Rand des Blechs rast näher. Er krallt sich mit aller Kraft am Seil fest.

Eindruck: ein weißer Knall auf der Rückseite seines Schädels. Baumeln. Er rutscht immer noch. Das Schnappen des Seilendes. Seine Handflächen plötzlich leer. Grimes fiel zwei Meter auf eine hölzerne Plattform, Knie und Schulter wie zerschmettert, er rollte. Die Plattform verschwand. Er stürzte drei Fuß tiefer auf harte Fliesen. Außer Atem. Er öffnete die Augen.

…«

(Tim Willocks, »Bloodstained Kings«, Jonathan Cape 1995, eigene Übersetzung)

Nähe bezieht sich auch auf die Fragen, wie leicht und wie bereitwillig sich die Leser mit dem Protagonisten identifizieren. Wenn den Lesern das Leben (seine Backstory) oder die Persönlichkeit des Protagonisten vertraut ist, fällt ihnen die Identifikation leichter. Hier spielt das Einfühlungsvermögen mit hinein.

Umgekehrt nehmen die Leser, sind sie erst emotional verbunden, auch Ähnlichkeiten zwischen sich und dem Charakter oder Erzähler wahr oder machen sich eher auf die Suche danach, was zu einer positiveren Einstellung dieser Figur gegenüber führt. Die Psychologie nennt diesen Prozess Ähnlichkeitswahrnehmung. Und welcher Leser könnte einem Roman widerstehen, in dem es zumindest um jemanden geht, der ihm ähnelt?

Auch unter diesem Aspekt ist das Schaffen von möglichst großer Nähe zwischen Leser und Charakteren sinnvoll.

Zur Identifikation gehört außerdem, wie sympathisch der Charakter den Lesern ist. Mit einer Romanfigur, die ihnen zwar ähnelt und der sie vertrauen, die sie aber dennoch nicht mögen, wollen sie sich nicht identifizieren – und keine Nähe herstellen.

Achtung!

Versuchen Sie nicht mit der Brechstange, den Lesern die Nähe zu einer Figur aufzuzwingen, deren Nähe sie nicht wollen. Das kann Ihren ganzen Roman beschädigen. Achten Sie darauf gerade bei extremen oder negativen Charakteren.

Ob Sie Ihren Erzähler letztlich nahe oder distanziert erzählen lassen, hängt – wie seine Sichtbarkeit und Objektivität – von seiner Persönlichkeit ab. Handelt es sich um einen personalen Erzähler, also eine Figur Ihres Ensembles, sollten die Wesensmerkmale des POV-Charakters zum Grad von Nähe und Distanz passen. Erzählen Sie auktorial, sollten Sie einen Erzähler schaffen, der, seinem Charakter entsprechend, nahe oder distanziert erzählt. Oder, der umgekehrte Weg: Sie erschaffen den Erzähler anhand des Grads an Nähe, den Ihr Roman zwischen Story, Figuren und Leser erreichen soll.

Stellen Sie sich Ihren Erzähler eher als peniblen Buchhalter vor, der jedes Wort notiert, ohne es zu werten? Oder ist Ihr Erzähler gefühlsbestimmt, zartbesaitet, aufbrausend, ein Schlawiner oder Manipulator? Achten Sie darauf, dass die Persönlichkeit Ihres Erzählers und die Art, wie er erzählt, zueinander passen, denn nur dann arbeiten sie nicht gegeneinander, sondern miteinander für einen starken Roman.

• Sie wollen die Leser möglichst tief in die Geschichte hineinziehen und dafür sorgen, dass sie sich mit dem Protagonisten identifizieren: Hier schlägt Emotion die Information.

• Eine größere Distanz kann dagegen für mehr Objektivität und einen besseren Überblick über das Geschehen sorgen, etwa wenn es darum geht, die Taten verschiedener Charaktere neutral zu beurteilen: Hier schlägt Information die Emotion.

Keine der beiden Erzählweisen ist der anderen überlegen, keine ist grundsätzlich populärer bei allen Lesern. Die nahe Erzählweise ist in den letzten Jahrzehnten jedoch gängiger geworden, mehr und mehr Leser sehnen sich nach Immersion in Geschichten und Figuren. Erinnern Sie sich an das oben zur zunehmend virtuellen Welt Gesagte.

Bestseller gibt es in beiden Lagern. Die Entscheidung, wie nahe Sie die Leser an Ihre Charaktere heranlassen wollen, ist allein Ihre. Im Folgenden sehen wir uns Gründe für beide und verschiedene Möglichkeiten an, wie Sie die jeweils gewählte Distanz literarisch optimal umsetzen.

Ein Aber vorweg

Viele Autoren entscheiden sich nicht bewusst für ein bestimmtes Maß an Nähe oder Distanz. Häufig erzählen sie distanzierter, als sie es für ihren Roman möchten oder als ihre Leser sich das wünschen. Durch dieses unbedachte Vorgehen entstehen Perspektivfehler. Wenn sich zudem die Distanz dauernd und ungeplant ändert, geraten die Story und insbesondere die Emotionen der Leser aus dem Fokus. Die Möglichkeiten, die die Perspektive bietet, reizen diese Autoren bei Weitem nicht aus. Am Ende erschweren sie ihren Lesern die Immersion in die Geschichte oder die Identifikation mit den Charakteren.[Fußnote 16]

Nähe und Distanz als Pole eines Kontinuums zu betrachten, erleichtert Ihnen die praktische Gestaltung Ihres Romans. Je nach den Erfordernissen der Story, des Themas, der Charaktere, der Ereignisse oder der Situation passen Sie die Distanz an, ohne die Perspektive zu wechseln. Beispielsweise intensivieren Sie eine emotionale Szene, indem Sie die Leser näher an Ihren Protagonisten und POV-Charakter heranholen.

Allerdings besteht die Gefahr, dass Sie zu oft, zu unmotiviert oder zu extrem auf der Nähe-Distanz-Skala hin und her rutschen. Dadurch fallen Sie aus der Perspektive oder verwirren Ihre Leser.

Unter solchen Distanzänderungen leidet insbesondere das sehr nahe Erzählen. Die intime Nähe zu einem Charakter funktioniert nur langfristig als immersives Instrument. Mit jeder Unterbrechung, auch einer Änderung der Distanz, verletzen Sie dieses empfindliche Verhältnis.

Eine Gefahr nahen Erzählens ist eine übersteigerte Selbstfokussierung, Selbstbeobachtung und Selbstanalyse des Erzählers, gerade bei personalen Perspektiven. Ein Warnzeichen ist die häufige Verwendung psychologischer oder poetischer Begriffe. Auch das Beschreiben von Mikrohandlungen (blinzeln, an der Nase reiben und Ähnliches) deutet darauf hin.

In ihrem Roman »Hetzjagd« (orig. »Swerve«) lässt Autorin Vicki Pettersson die Ich-Erzählerin Kristine Folgendes denken:

»…

Ich habe Daniel erzählt, dass ich in der beschissenen Wüste nicht eingefangen werden konnte.

Ich fahre mit der Hand über meine Stirn, wische den Schweiß ab, der an meinem Haaransatz klebt, und stampfe den Gedanken ein. Ärger über Daniel geht in die falsche Richtung; er ist ebenso ein Opfer, wie ich das bin. Aber, Gott, falls etwas diese Rüstung aufbrechen kann, die ich im vergangenen Jahrzehnt so festgehämmert habe, dann ist es diese unnachgiebige Sandfalle.

Es gibt kein Fließen hier, du kannst nicht weich sein. Du kannst nichts weiter tun, als dich so lange an den Kanten der Wüste zu schärfen, bis du spröde bist wie Feuerstein.

…«

(Vicki Pettersson, »Swerve«, Gallery Books 2015, eigene Übersetzung)

Dass jemand in solchen Metaphern über sich nachdenkt, zumal in einem Moment akuter Lebensgefahr, ist der Nähe (für viele Leser) zu viel. Die Autorin gibt sich zwischen den Wörtern zu erkennen, die Situation wird unglaubhaft und die Leser werden aus der Story gerissen. Dabei zeigt die Autorin den richtigen Weg: Sie bleibt mit ihren Metaphern in derselben Bilderwelt von Sand und Stein und hält dadurch den Text zusammen. Nur wäre hier weniger, wie so oft, mehr gewesen.

Stellen Sie sich den Leser vor, wie er Ihren Roman als Bild auf einem Monitor betrachtet. Zu weit weg, und er sieht nicht, was vor sich geht. Zu nahe, und das Bild löst sich in zusammenhanglose Pixel auf.

Damit verwandt ist eine weitere Gefahr: Nähern Sie sich Ihrem POV-Charakter zu sehr, riskieren Sie den Tunnelblick – die andere Seite der Selbstfokussierung. Alles, was außerhalb des Charakters liegt, erscheint den Lesern unwichtiger oder unschärfer, vielleicht nehmen sie es gar nicht erst wahr. Mit zu viel Innensicht rauben Sie den Lesern den Blick auf das Umfeld, auf Schauplatz und Setting, auf Ereignisse und Handlung, und vor allem auf andere Charaktere. Der Roman wirkt skizzenhaft, unzureichend beschrieben, in den Lesern bleiben die inneren Bilder aus.

Achtung!

Jeder Satz, den Sie dem Innenleben Ihres Charakters widmen, fehlt den Lesern bei der Außensicht auf Umfeld und andere Figuren. Selbst wenn Sie Ihren Roman darum doppelt so dick machen, bremst zu viel Innensicht die Handlung aus.

Eine andere Gefahr nahen Erzählens ist indirekter Art: Allein mit der Perspektive holen Sie die Leser nicht dicht an Ihre Charaktere heran. Zwei entscheidende Faktoren fehlen: Zum einen das, was zwischen den Zeilen geschieht. Zum anderen die Backstory. Das Wissen um wichtige Ereignisse und Schlüsselinformationen aus dem (Vor-)Leben eines Charakters gehört für die Leser zu einer intimen Kenntnis dieses Charakters. Auch zur Identifikation und Immersion trägt die Backstory bei.

Je intensiver die nahe Erzählweise ist, desto mehr riskieren Sie, dass die Leser sich eingesperrt fühlen. Das umso eher, je unsympathischer oder schwerer zugänglich ihnen Erzähler oder erzählender Charakter erscheinen. Auch für die Leser unerträgliche Schilderungen schrecklicher Ereignisse können die erzwungene Nähe zu einer klaustrophobischen Erfahrung machen.

Riskant kann zu große Nähe auch dann sein, wenn Sie sich in den Gefühlen und Gedankengängen des Charakters verlieren und den Lesern statt Handlung immer nur Innenleben präsentieren.

Verloren hat sich auch Joe Hill in folgendem Beispiel:

»…

Sie flog durch eine Stadt, die kaum mehr als eine gelbe Ampel war, die über einer Kreuzung mit vier Fahrtrichtungen hing. Vic hatte vor, ihr Motorrad laufen zu lassen, bis ihr das Benzin ausging, und dann könnte sie es fallen lassen, die Triumph im Dreck zurücklassen und einfach weiterlaufen, mitten auf der Straße, bis die verdammte Shorter-Way-Brücke erschien oder ihre Beine nicht mehr wollten. Bloß würde sie nicht erscheinen, weil es keine Brücke gab. Der einzige Ort, an dem der Shortaway existierte, war in ihrem Kopf. Mit jedem Kilometer wurde ihr das klarer. Es war das, worauf ihr Psychiater immer bestanden hatte: eine Fluchtluke, durch die sie sprang, wenn sie mit der Realität nicht zurechtkam, die tröstende Machtfantasie einer gewalttätig depressiven Frau mit einer Krankheitsgeschichte von Traumata.

…«

(Joe Hill, »N0S4A2«, Gollancz 2013, eigene Übersetzung)

Protagonistin Vic ist als Kind mehrmals über eine aus dem Nichts erscheinende Brücke zu weit entfernten Orten gereist. Die Leser haben es miterlebt. Sie wissen, dass Vic sich die Brücke nicht eingebildet hat, sie wissen auch, dass Vic sich das später so lange einredete, bis sie selbst glaubte, die Brücke sei bloß eine Wahnvorstellung. Hill schildert ihren inneren Konflikt hier nicht zum ersten Mal. Er ist dicht bei Vic, zu dicht, denn er verliert die Leser aus dem Blick. Für sie hält Vics innerer Konflikt keinerlei Spannung mehr bereit, es ist überflüssig, sie ein weiteres Mal da durch zu schicken. Das ist mindestens Platzverschwendung und verlangsamt den Roman. Vermutlich, und das ist gravierender, fühlen sich die Leser mehr und mehr von Vic genervt.

Hill hätte das leicht lösen können: diesen inneren Konflikt einmal ausführlicher darstellen und danach nur noch darauf verweisen.

Die vielleicht größte Gefahr nahen Erzählens ist, dass Sie melodramatisch werden und Ihnen die Leser die zu zahlreichen und zu extremen Emotionen und Emotionswechsel nicht mehr abkaufen.

Doch wo das Zuviel an herbeigeschriebener Nähe aufhört, wo das Melodrama endet, das ist von Leser zu Leser anders. Die den kreischenden Medienwahnsinn gewohnten Mädchen der 2010er-Jahre können anscheinend viel ab, zumindest denken das die Autorin und ihr Verlag. Wer weiß, vielleicht haben sie ja recht.

»…

Die U-Bahn ist brechend voll, weil sich niemand diesem grimmigen Februar und seinem schneidenden Wind aussetzen will. Im gesamten Wagen drängen sich Menschen in dicken Jacken und Wollschals, mit großen Taschen und Aktenkoffern, Frauen mit Kinderwägen und Männer auf dem Weg zu wichtigen Terminen. Die meisten starren auf ihre Smartphones, tippen irgendwelche Nachrichten oder hören Musik. So wie ich. Wir sind alle in unserer eigenen Welt, ganz dicht beisammen. Isoliert in dieser Nähe, die keiner wirklich will, aber jeder stillschweigend erträgt. Wir schotten uns ab, senken mal den Blick, lassen ihn mal schweifen. Ich versuche, seinem auszuweichen, versuche mich loszureißen, aber meine Augen gehorchen mir nicht. In diesem Meer aus Gesichtern sehe ich nur noch seines. Ich tauche ein in die Art, wie er mich ansieht, in diesen Blick, der jeden Muskel in meinem Körper anspannt. Sein schiefes Lächeln wird zu einem Sog, der mich mitreißt, und alles, was übrig bleibt, ist der wohlige Schauer, der mir langsam über den Rücken läuft und jedes noch so kleine Härchen an meinem Nacken aufrichtet. Für einen Moment fallen meine Augen zu, dann erinnern sie sich an ihn und finden ihn in der Menge, in dieser Festung aus Körpern, die mich umgibt. Ihre Hitze liegt wie feuchter Nebel auf den Scheiben. Meine Arme und Beine kribbeln, während die U-Bahn unaufhaltsam durch die Dunkelheit rast. Die Luft ist abgestanden, fast tropisch. Wie ein Stück Regenwald mitten im Großstadtdschungel. Ich spüre, wie sich ein dünner Film auf meiner Haut ausbreitet. Wie mir das Herz bis in die Schläfen hämmert. Ich zittere innerlich. Überall. Jake Buggs Stimme begleitet den Moment, und das Lächeln in meinem Gesicht tut, was es will. Es ist, als würden sich unsere Blicke unterhalten, sich erkennen, wie aus einem anderen Leben. Ich lausche weiter dem Lied, während ich mich in seinen Augen verliere. In ihren strahlend blauen Tiefen und in dem, was dahinter schimmert.

…«

(Anne Freytag, »Mein bester letzter Sommer«, Heyne fliegt 2016)

Die größte Gefahr distanzierten Erzählens ist, dass Sie damit das Leben aus Ihrer Geschichte lassen, sodass die Farben blasser werden, die Geschmäcke schaler – und vor allem: dass die Charaktere den Lesern egal bleiben.

Ein absolutes Richtig und Falsch gibt es auch bei der Frage nach Nähe und Distanz nicht. Doch wenn Sie wissen, was Sie da schreiberisch tun und wo die Risiken lauern, sind die Chancen größer, dass Sie eine gute Entscheidung treffen und ein für Ihre Zielgruppe bekömmliches Maß an Emotionen und Nähe finden.

Wie etwa das John Grisham seit Jahrzehnten wieder und wieder schafft, weltweit. In seinem Roman »Die Bruderschaft« wird seinen Lesern die Geschichte aus den Perspektiven von mehr als zehn Charakteren nahegebracht. Nicht einer dieser Charaktere hat eine bemerkenswerte Stimme, keiner ist besonders sympathisch oder bemerkenswert. Trotzdem beschert der Roman seinen Lesern gute Unterhaltung, die weder flach noch banal daherkommt.

Denn Grisham weiß, für wen er schreibt. Zugleich hat er sich seine zu Fans gewordenen Leser über die Jahre erzogen und auf seine Linie gebracht. Wer Grisham liest, sucht nicht das emotional berührende Erlebnis, seine Leser brauchen keine Identifikationsfigur, um den Roman zu genießen. Für Grisham-Leser steht, nicht nur in »Die Bruderschaft«, der Plot im Mittelpunkt. Der Genuss ist eher ein intellektueller als ein emotionaler, eher ein breiter als ein tiefer, sie suchen keine Geschichte, die lange nach dem Schließen des Buchs in ihnen nachwirkt, sie suchen die Lektüre für den Strand, die Hotellobby und zum Einschlafen, für die paar Seiten Lesen zwischendurch, sie suchen keine Bindungen an die Figuren, möchten aber doch intelligent unterhalten werden.

Wobei wir mit »Leser« grundsätzlich nicht die Person meinen, sondern die Lese-Rolle. Denn die meisten Leser nehmen unterschiedliche Rollen ein, wollen mal flott unterhalten, mal tief bewegt werden, mal lachen und sich mal vor Spannung die Nägel abkauen.

Mit richtig oder falsch hat diese Entscheidung der Leser so wenig zu tun wie mit anspruchsvoller und anspruchsloser Lektüre oder mit guter oder schlechter Literatur. Es geht eben nicht nur darum, effektiv Nähe oder Distanz herzustellen – sondern das richtige Maß zu kennen und im Roman zu realisieren. Für wen also schreiben Sie?

Haben Sie das passende Maß für Ihre Leser ermittelt oder festgelegt, geht es nun darum, Nähe oder Distanz in der gewählten Perspektive von Anfang bis Ende durchzuhalten. Davon abweichen sollten Sie nur zweckgerichtet, etwa beim Einzoomen oder bei Kommentaren des Erzählers.

Zoom

Reden wir von Heran- oder Herauszoomen, verstehen wir darunter grundsätzlich einen Wechsel der Distanz innerhalb derselben Perspektive. Zoomen nach diesem Verständnis erfordert oder begründet also keinen Perspektivwechsel.

Bieten Sie Ihren Lesern auf den ersten hundert Seiten einen flotten, distanziert personalen Roman, der sich an ein plot-orientiertes Publikum richtet, sollten Sie nicht den Rest des Romans versuchen, den Lesern mit einem intimen POV auf die Emotionspelle zu rücken. Umgekehrt werden Sie Ihre Leser verstören und aus dem Roman treiben, wenn Sie nach zweihundert Seiten einer nahen Ich-Perspektive zu einer distanziert-ironischen Erzählweise wechseln.

Behalten Sie eins im Hinterkopf: Zu den Fragen nach der Nähe der Leser zu Charakteren, Story und Thema gehört eine weitere, die bei allem mitschwingt: Wie nahe holen oder lassen Sie die Leser an sich selbst heran?

ERZÄHLPERSPEKTIVEN: Auktorial, personal, multiperspektivisch

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