Читать книгу ERZÄHLPERSPEKTIVEN: Auktorial, personal, multiperspektivisch - Stephan Waldscheidt - Страница 6
Das kann Perspektive
ОглавлениеDie Erzählperspektive filtert den kompletten Roman vom ersten bis zum letzten Wort, sprich: Die Perspektive beeinflusst jedes Satzzeichen und jede Silbe, jede Leerzeile und jeden Absatz, jedes Kapitel und jede Szene – und auch alles, was Sie nicht schreiben. Einzig unberührt bleibt der Mückenschiss[Fußnote 6] auf Seite 313. Anders gesagt: Das schönste Ölgemälde der Welt ist wertlos, wenn die Leute es nicht oder nicht richtig oder nicht gut sehen können.[Fußnote 7]
Damit wir wissen, worüber wir reden, Beispiele der drei gängigsten Perspektiven:
Auktorialer Erzähler:
»…
Die Frau wurde am Morgen des 11. September 2001 am Strand gefunden, ziemlich genau zwischen dem Badhotel Skodsborg und dem Strandpark Bellevue.
Das war wenige Stunden, bevor die Welt für fast alle Menschen in den unterschiedlichsten Erdteilen nachhaltig verändert wurde. Diese eigenartige Koinzidenz hatte eine entscheidende Bedeutung für den seltsamen Verlauf, den dieser Fall nahm, sodass man eigentlich nur zu dem Schluss kommen kann, das Schicksal habe seine Freude daran gehabt, zwei so vollkommen unterschiedliche Geschehnisse auf ein und den gleichen Tag zu legen.
…«
(Erik Valeur, »Das siebte Kind«, Blanvalet 2014)
Personaler Erzähler, dritte Person:
»…
Shelby hatte nur noch wenige Kilometer bis zur Ranch ihres Onkels Walt vor sich, als sie auf dem Highway 36 zwischen Fortuna und Virgin River gezwungen wurde, am Straßenrand anzuhalten. Der Highway 36 war die Verbindung zwischen Fortuna und Red Bluff, eine Landstraße, die größtenteils nur zweispurig durch die Berge führte, und natürlich war dies der Streckenabschnitt mit dem meisten Verkehr. Sie kam hinter einem Truck zu stehen, der ihr vage bekannt vorkam, stellte den Wählhebel der Automatik ihres kirschroten Geländewagens auf »Parken« und stieg aus. Die Regenwolken hatten sich endlich verzogen und der strahlenden Sommersonne Platz gemacht, aber der Asphalt war noch nass und überall hatten sich Schlammpfützen gebildet. Als sie die Straße hinaufschaute, konnte sie am Ende einer langen Autoschlange einen Mann erkennen, der eine leuchtend orangefarbene Weste trug und ein Stoppschild hochhielt, womit er beide Fahrspuren blockierte. Die Abzweigung zu dem Anwesen ihres Onkels lag direkt hinter dem nächsten Berg.
…«
(Robyn Carr, »Verliebt in Virgin River«, MIRA 2009)
Personal, Ich-Erzähler:
»…
Ich saß in der hintersten Kirchenbank und sah zu, wie die einzige Frau, die ich je lieben würde, einen anderen Mann heiratete.
Natalie kam ganz in Weiß – wie auch sonst – und sah so hinreißend aus, dass ich es nie wieder vergessen würde. In ihrer Schönheit hatten sich schon immer Grazilität und eine ruhige Kraft vereint, aber da oben, auf der Empore vor dem Altar, sah sie so ätherisch aus, als wäre sie nicht von dieser Welt.
…«
(Harlan Coben, »Ich finde dich«, Goldmann 2014)
Haben Sie sich für eine Perspektive (für den gesamten Roman oder einen Erzählstrang) entschieden, müssen[Fußnote 8] Sie sie beibehalten. Jeder unmotivierte oder falsche Wechsel, jeder Perspektivfehler ist, als würden Sie beim Kaffeekochen den Filter zwischendrin immer mal wieder austauschen, gegen ein Teesieb, einen benutzten Staubsaugerbeutel, einen Seiher. Glauben Sie mir, das braun-klumpige Ergebnis in Ihrer Kanne wollen Sie nicht trinken.
Auch wenn Sie irgendwann merken, dass dieser POV nicht funktioniert, bleibt Ihnen nichts übrig, als den kompletten Text Wort für Wort zu überarbeiten. Oder ihn gleich neu zu schreiben.
Sehen Sie die Perspektive, trotz unseres dramatischen Intros oben, nicht als Bedrohung, sondern als Chance. Mit einem kristallklaren, konsistenten POV reizen Sie die Power und die Kunst, die in Ihrem Roman und Ihren Charakteren steckt, erst so richtig aus.
Denn eine effektive Ausgestaltung der passenden Perspektive verstärkt jeden anderen Aspekt Ihres Romans, sei es die Handlung, sei es die Spannung, seien es die Charaktere und ihre Persönlichkeiten.
Umgekehrt kann eine ineffektive Perspektive das alles verzerren, schwächen, unsichtbar machen. Das ist, als würden Sie Ihrem Publikum einen Film zeigen: Die Schauspieler verstehen ihr Handwerk, sie gehen in ihren Rollen auf, die Story ist knackig und anregend, der Schauplatz und seine Ausgestaltung sind ein Meisterwerk an Authentizität und Detailreichtum. Und dann leuchten Sie die Szene nicht oder falsch aus, das Mikrofon überträgt bloß den Wind und das, was die Menschen im Saal zu sehen bekommen, sind hastig verlegte Kabel, Standmarkierungen und ein halber UGG Boot Ihrer Protagonistin. Der ganze Aufwand, Ihre Zeit und genialen Einfälle, die wunderbare Sprache – alles für die Katz!
Eine klare Erzählperspektive ist für den Leser, als wäre er extrem kurzsichtig und altersweitsichtig dazu und Sie würden ihm die perfekt passende Gleitsichtbrille auf die Nase setzen. Damit sieht er nicht nur deutlicher, was Sie ihm an Story und Figuren vorsetzen, vieles begreift oder fühlt er erst jetzt. An welchen Roman wird sich ein Leser wohl erinnern, welchen Roman weiterempfehlen? Den, den er vor seinem inneren Auge nur verschwommen gesehen hat? Oder den kristallklaren, mit Szenen wie in Bergluft?
Die Perspektive lediglich als Kameraauge oder Brille zu betrachten, greift jedoch zu kurz. Diese »Sicht der Dinge« meint neben dem über alle Sinne (einschließlich des sechsten) Wahrgenommenen auch Wissen und Emotionen des Erzählers oder POV-Charakters. Dem verliebten Helden zeigt die Perspektive nicht nur die Geliebte (sinnlich wahrnehmbar), sondern sie liefert die rosarote Brille (für die Emotionen) gleich mit. Wer eine Menge über dsungarische Zwerghamster weiß, sieht die kasachischen Steppen mit anderen Augen als ein Hamsterignorant.
Denken Sie auch an die vom Wahrgenommenen ausgelösten körperlichen Empfindungen, etwa die Schmetterlinge im Bauch, die leider manchmal, danke, Herbert G., zu Flugzeugen werden.
Damit sich all das auch auf die Leser überträgt, es ihnen verständlich wird und sie berührt, sie zum Weinen bringt und ihnen den Atem verschlägt oder sogar die Faust im Triumph recken lässt, damit Ihnen all das und mehr gelingt, genügt nicht allein Ihr sprachliches und schreibhandwerkliches Geschick. Die effektive Arbeit mit Perspektiven verlangt das Einnehmen des jeweiligen Standpunkts samt Filter, das Einlassen auf die Perspektiven, das Einfühlen in Charaktere, die Übernahme der Sicht Ihrer Erzähler, seien sie auktorial oder personal.
Merke
Um aus einer Perspektive überzeugend und mitreißend zu schreiben, müssen Sie diese selbst einnehmen.
Mit der Erzählperspektive steuern Sie den Fluss der Informationen: Welche Informationen übermitteln Sie an die Leser? Relevante! Doch selbst die unterscheiden sich von Perspektive zu Perspektive. Ein allwissender Erzähler hat andere Informationen zur Verfügung als ein Ich-Erzähler; eine siebzigjährige Ärztin als POV-Charakter präsentiert eine Information über die Risiken einer frühen Schwangerschaft anders als eine dreizehnjährige Hauptschülerin; eine ungeduldige Frau mit großem Freundeskreis verrät ein wichtiges Geheimnis eher als ein autistischer Mann ohne soziale Kontakte. In welchem POV, an welcher Stelle der Dramaturgie und auf welche Weise bringt Ihr Erzähler seine Informationen an?
Die Perspektive ist nicht fixiert oder für einen ganzen Roman verbindlich. Jeden Handlungsstrang können Sie aus einer eigenen Perspektive erzählen. In jeder Perspektive wiederum können Sie oder Ihre Erzähler sich mal näher, mal aus größerer Distanz Ihren Charakteren widmen.
Steht das nicht im Widerspruch zum oben beschworenen konsistenten Durcherzählen in einer Perspektive? Nein. Sie dürfen die Perspektive (aus gutem Grund) wechseln, sollten aber in der Perspektive selbst konsistent bleiben – weitgehend. Denn ein zielgerichteter, dynamischer Umgang mit der Distanz zwischen Leser und POV-Charakter oder Leser und Story ist je nach Perspektive ebenfalls möglich. Mehr dazu später.
Einer der wichtigsten Gründe für Ausgestaltung und Optimierung der Erzählperspektive sind die Charaktere Ihres Romans. Was nutzt es den Lesern, wenn Sie einen wunderbaren Protagonisten erschaffen haben, sie ihm aber nicht nahe kommen, ihn nicht verstehen, sich nicht auf ihn einlassen, nicht emotional mit ihm verbinden können? Wenn sie keine Ahnung haben, wie er die Welt sieht oder wie seine Haltung zu den Kernthemen und -werten Ihrer Story ist? Erst mit der richtig gewählten und effektiv ausgearbeiteten Perspektive kommen Ihre Charaktere voll zur Geltung, nur dann werden die Leser sie ins Herz schließen, mit ihnen mitfiebern und bis aufs Komma genau wissen wollen, was mit ihnen geschieht – von der ersten bis zur letzten Seite.
Mehr noch: Erst wenn die Leser einen Bezug zu Ihren Charakteren aufbauen, erst wenn sie die Ereignisse auf die Weise gefiltert aufnehmen, die Sie und Ihr Erzähler mit der Perspektive vorgeben, werden sie Ihren Roman in seiner ganzen Schönheit, Spannung, Klugheit und Komplexität zu schätzen wissen.
Merke
Die Erzählperspektive fasst das Erleben der Romanfiguren in für die Leser verständliche Worte und Gefühle.
Die Möglichkeiten zur Auswahl von Perspektive und Erzähler sind zahlreicher, als Sie denken.
Die Fliege an der Wand, die wir bei der dramatischen Perspektive kennenlernen werden, kann buchstäblich eine Fliege an der Wand sein. Wie in Rebecca Millers »Jacobs wundersame Wiederkehr«. Oder ein noch sehr viel ungewöhnlicherer Erzähler. Wie das ungeborene Kind in Ian McEwans »Nussschale«, die Schüssel in Tibor Fischers »Die Voyeurin« oder die Droge Crack-Kokain, von der Hauptfigur Darlene abhängig ist, in James Hannahams »Delicious Foods«. Orhan Pamuks Roman »Rot ist mein Name« dürfte im Hinblick auf ausgefallene Perspektiven kaum zu toppen sein. Einer der vielen Erzähler des Werks ist Satan, ein anderer eine Münze, noch ein anderer die Farbe Rot.
Hoffen wir, dass diese Autoren gute Gründe für die Wahl der Perspektive hatten. Jeder Trottel kann aus der Sicht einer buddhistischen Wanderheuschrecke erzählen. Aber es auf eine Weise zu tun, die der Roman braucht und die ihm gerecht wird und die obendrein unterhaltsam oder literarisch hochwertig ist, das kriegt nicht jeder hin.
Die Perspektive ist so etwas wie ein Überholvorgang auf einer engen, kurvigen Landstraße bei dichtem Nebel und drei Ihrer Kinder auf dem Rücksitz. Bestehen Zweifel, dass Sie es hinkriegen, lassen Sie es bleiben. Es steht zu viel auf dem Spiel. Mit den bewährten Perspektiven kommen Sie sicherer an Ihr Ziel.