Читать книгу ERZÄHLPERSPEKTIVEN: Auktorial, personal, multiperspektivisch - Stephan Waldscheidt - Страница 7
Vorteile klarer und konsistenter Perspektiven
ОглавлениеDie filternden Eigenschaften der Perspektive erweisen sich, wenn konsequent durchgehalten, als Vorteil: Vieles, was Sie sonst wieder und wieder erklären und betonen müssten, wird von einer klaren und konsistenten Erzählperspektive verstärkt. Der Erzähler erscheint konturiert und lebendig, unabhängig davon, ob er auktorial erzählt oder personal (und damit im Roman selbst als Figur vorkommt). Auch seine Erzählerstimme kristallisiert sich besser heraus. Umgekehrt stärken ein prägnanter Erzähler und eine eigenständige Stimme die Filterwirkung des POV.
Logisch, oder? Haben die Leser erst Ihren Erzähler als »Freund feiner Ironie« erkannt, werden sie die Ironie zwischen seinen Zeilen heraushören, ohne dass Sie sie jedes Mal in den Zeilen ausformulieren oder gar umständlich erklären müssten.
Wenn Ihre Erzählerin von den Lesern als »raffiniert« abgespeichert wurde – und Sie die Perspektive durchhalten –, merken die Leser, wenn die Erzählerin sich dumm stellt, um an Infos zu kommen. Und Ihre Erzählerin für umso raffinierter halten.
Sorgen Sie bei den Lesern für ein einheitliches Bild des Charakters, müssen Sie vieles nicht mehr eigens erwähnen – die Leser ergänzen es selbst. Weil sie, dank Ihrer Konsistenz, jetzt dazu in der Lage sind.
Weitere wichtige Vorteile einer konsistenten Perspektive (die wir uns bei den einzelnen Perspektiven genauer ansehen werden):
+ Die Verbindung zwischen Leser und Charakter wird erleichtert.
Eine strikt durchgehaltene Erzählperspektive hält die Leser dauerhaft eng an der Perspektivfigur (dem POV-Charakter). Damit vergessen die Leser schneller, dass sie nur eine Geschichte lesen. Der Charakter gewinnt an Kontur.
Dazu gehört, dass Sie sich als Autor tief genug in den POV-Charakter[Fußnote 9] hineindenken, hineinversetzen, um überzeugend aus seiner Sicht zu berichten.
Wie das C. J. Sansom in seinem historischen Roman »Die Schrift des Todes« (orig. »Lamentation«) vormacht. Darin schleicht Protagonist und Ich-Erzähler Shardlake im Schutz der Dunkelheit mit Verbündeten zu einem Schiff, das am Hafen vor Anker liegt. Sie wollen verhindern, dass religiöse Fanatiker mit einem bedeutenden Manuskript England verlassen, und die Männer abfangen, bevor diese das Schiff betreten. Shardlake wirft einen Blick aufs Deck und beschreibt, was er sieht:
»…
Es gab ein kleines Deckhaus, die Fenster ohne Läden; drinnen saßen zwei Männer in Leinenhemden und spielten Karten im Licht der Lampe. Sie waren mittleren Alters, aber sahen kräftig aus.
…«
(C. J. Sansom, »Lamentation«, Mantle 2014, eigene Übersetzung)
Die Beschreibung ist perspektivisch effektiv, gibt sie doch genau wieder, worauf der Charakter in dieser Situation achten würde – und nicht mehr. Für einen bevorstehenden Kampf ist es wichtig, zu wissen, wie alt und wie stark die Männer sind, selbst die Leinenhemden sind bedeutsam, weil sie keinen Schutz gegen Shardlakes Messer bieten. Was die Männer tun, spielt ebenfalls eine Rolle: Sie beschäftigen sich mit Karten, sind also nicht wachsam und nicht interessiert daran, was am Kai vor sich geht. Sogar die Erwähnung der Lampe macht, aus Shardlakes Sicht, Sinn. Natürlich brauchen die Männer zum Kartenspielen eine Lampe. Aber eine Lampe im Deckhaus bedeutet auch, dass die Männer weniger gut erkennen können, was auf dem dunklen Kai vor sich geht.
Für Sie heißt das: Widerstehen Sie der Versuchung, Überflüssiges zu beschreiben oder zu erwähnen, sondern konzentrieren Sie sich auf die Situation und ihre Erfordernisse. So gestalten Sie eine Perspektive angemessen und einheitlich.
Ginge Shardlake nur am Kai spazieren, seine Frau im Arm, und würde die Nachtluft genießen und von Reisen in ferne Länder träumen, müsste seine Beschreibung der beiden Kartenspieler anders ausfallen. Vielleicht würde er das fremdländische Aussehen der Männer registrieren und sie um die Reise beneiden, die vor ihnen liegt. Er würde sehen, dass auf dem Arm des einen zwei sonderbare Tattoos prangen, und sich fragen, in welchem exotischen Hafen er die wohl erworben hat. Um seine Frau zu necken, könnte er betonen, wie gutaussehend einer der Männer im Deckhaus ist.
Gehen Sie so vor, schlagen die Emotionen Ihrer Charaktere effektiver auf die Leser durch. Denn je klarer der POV, desto besser können sich die Leser in den POV-Charakter einfühlen, sodass sie entweder Vergleichbares empfinden oder die Emotion zumindest besser erkennen und nachvollziehen können – unverzichtbar für die Identifikation.
+ Die Handlungen der Charaktere werden plausibler.
Je länger und tiefer die Leser im Kopf des erzählenden Charakters stecken, desto eher lassen sie sich auf dessen Weltsicht und Motive ein.
Das sorgt bei positiven Charakteren, wie etwa der Heldin und ihren Verbündeten, für eine schnellere und intensivere Bindung der Leser. Die Motivationen, Ziele und Handlungen schwieriger bis negativer Charaktere – insbesondere die des Antagonisten – werden transparenter. Damit steigt die Bereitschaft der Leser, mehr Zeit selbst mit weniger netten Gesellen zu verbringen, und ermöglicht erst einen zugkräftigen Erzählstrang für den Antagonisten.
+ Die guten Charaktere erscheinen sympathischer, die bösen unsympathischer.
Eine gestochen scharfe und zweckmäßige Erzählperspektive sorgt dafür, dass die Leser das wahre Wesen der Romanfiguren deutlicher erkennen – auch eine mögliche Zerrissenheit oder Mehrdeutigkeit. Die Leser nehmen sie intensiver wahr. Das sorgt für ein tieferes Lese-Erlebnis und erhöht die Chancen, dass sie Ihr Buch weiterempfehlen.
+ Die Figuren erscheinen trennschärfer und auch für den Autor klarer umrissen.
Je augenfälliger Sie mit der Perspektive die Persönlichkeiten der Romanfiguren herausarbeiten, desto besser unterscheidbar werden sie für die Leser und umso lebensechter erscheinen sie ihm.
+ Die Leser werden tiefer berührt und erfahren mehr.
Auch über sich selbst lernen die Leser mehr, denn der konsistente POV erleichtert ihnen Rückschlüsse auf sich selbst. Stellen Sie sich einen Spiegel vor. Man sieht sich in dem sauberen, geraden Metall besser als in dem verdreckten, gewellten.
+ Das Lesen fällt leichter …,
… der Text liest sich flotter und wirkt tiefer, logischer, eindrücklicher. Die Leser haben das Gefühl, durch den Roman hindurchgeflogen zu sein. Die klare, konsistente Erzählperspektive macht aus Ihrem Roman einen Pageturner.
+ Die Perspektive macht die Worte Ihres Erzählers fassbarer.
So geben veränderte Wahrnehmungen und Emotionen eines POV-Charakters Aufschluss über seine Veränderung. Nehmen Sie eine Frau, die sich gegen Ende eines Entwicklungsromans entschieden hat, ein Kind zu bekommen. Zuvor fielen ihr Kinder auf der Straße nicht auf und falls doch, dann eher negativ. Nach ihrer Veränderung scheinen die Straßen von Kindern überrannt zu werden – und sie freut sich darüber. Diese Entwicklung wird für die Leser in einer konsequenten Perspektive besser erkennbar.
+ Gute Beschreibungen und Details finden sich leichter.
Eine klare Erzählperspektive erleichtert es Ihnen als Autor, genau die Beschreibungen oder spezifischen Details herauszufinden, die am besten zum POV-Charakter und zum Erzähler passen. Denn was eine Figur wahrnimmt, sagt oft mehr über sie aus als über das Wahrgenommene.
Beispiel: Melanie betritt Freds Wohnzimmer und bemerkt sofort die geschmackvolle Ton-in-Ton-Wahl von Tapete, Couch und Kissen. Lutz betritt dasselbe Zimmer und ihm fallen zuerst die Stapel von Musical-DVDs in einer Ecke auf.
Auf diese Weise werden Beschreibungen zudem prägnanter und individueller. Sie bringen die Persönlichkeit des Beschreibenden deutlicher zum Vorschein. Eine Szene liest sich wie aus einem Guss, wenn der POV-Charakter Action und Setting mit einer Stimme beschreibt – und einer akzentuierten dazu.
+ Instrumente wie Subtext oder dramatische Ironie[Fußnote 10] können ihre Möglichkeiten ausspielen …
… und so Ihren Roman deutlich verbessern. Subtext funktioniert nur dann, wenn der eigentliche Text klar genug umrissen ist, die Bedeutung darunter hindurchscheinen zu lassen.
Stellen Sie sich den Text auf der Seite wie Ausstanzungen im Papier vor, die den Blick auf den Subtext darunter freigeben. Sobald die Kanten der Löcher unscharf sind oder die Löcher woanders liegen, kommt der Subtext gar nicht oder nur verzerrt zum Vorschein. Und in jedem Fall anders, als Sie das vorhaben.
+ Falsche Fährten funktionieren besser …
… ebenso eingestreute Hinweise und Vorausdeutungen.
+ Spannung und Suspense lassen sich besser aufbauen …
… und länger halten, was insgesamt für einen spannenderen Roman sorgt. So macht ein konsistenter POV beispielsweise die Bedrohlichkeit einer Umgebung deutlicher, da alles Wahrgenommene auf den Erzähler/POV-Charakter bedrohlich wirkt und er das den Lesern konsequent vermittelt.
Flicht der Erzähler im Beispiel hingegen eine nette Erinnerung an einen Urlaub ein, zerstört er damit die Bedrohlichkeit. Oder er fällt aus der Perspektive und mischt die Gedanken eines anderen Charakters in die Beschreibungen, für den die Szenerie nicht bedrohlich wirkt, sondern deprimierend.
+ Im Leser entstehen klarere Bilder …
… und damit klarere Emotionen. Denn das Durchhalten einer Perspektive vermittelt einen trennschärferen Eindruck einer Szene. Die Leser wissen genauer, was sie fühlen und fühlen sollen.
Stellen Sie sich den Erzähler wie einen Maler vor, der die Szene in einem einzigen Stil darstellt. Die Szene würde unschärfer, je mehr und je stärker er von dem Stil abweicht, etwa in seine superrealistische Szene impressionistisches Gepünktel einfließen lässt oder den spitzen Zeichenstift hier und da durch den breiten Malerpinsel ersetzt. Am Ende hat er das eigene Bild ruiniert.
+ POV-Charaktere lassen sich klarer unterscheiden.
Beim multiperspektivischen Erzählen heben sich die POV-Charaktere entschiedener voneinander ab, wenn jeder von ihnen den Roman aus einer erkennbar individuellen Sicht erlebt und schildert. Hier entfaltet insbesondere eine markante Erzählstimme ihre Wirkung, ebenso kommen die unterschiedlichen Filter der POV-Charaktere zum Tragen.
Nehmen wir wieder unseren Maler, zu dem sich zwei Kollegen gesellen: Einer malt durchgängig impressionistisch, der zweite realistisch, der dritte expressionistisch. Der Bildbetrachter weiß auf den ersten Blick, welchen Maler er vor sich hat. – Die Leser wissen nach den ersten Sätzen, welchen Erzähler sie lesen.
+ Der Erzähler erhält mehr Autorität …,
… auch wirkt er kompetenter. Denn Unterbrechungen und Unebenheiten in der Perspektive sind, als würde ein Erzähler mal deutlich, mal undeutlich, mal mit Bassstimme, mal im Mezzosopran sprechen. Wer könnte da noch in der Geschichte versinken?
Haben Sie die Autorität des Erzählers etabliert und den Leser damit gepackt, können Sie erzählerisch tun, was Sie wollen. Die Leser lassen Ihnen so gut wie alles durchgehen und folgen Ihrem Erzähler bis ans Ende der Welt – mindestens bis ans Ende Ihres Buchs.
+ Sie als Autorin oder Autor erleichtern sich das Schreiben.
Wenn Sie eine Perspektive klar und sicher durchhalten, wirkt das auch auf Sie und Ihr Schreiben positiv zurück. Denn nicht nur die Leser, auch Sie selbst erhalten ein klareres Bild von Erzähler, Charakteren, Story, Thema. Was Ihnen das Schreiben erleichtert und dazu führt, dass Ihnen weniger Fehler unterlaufen, etwa im Ton oder in der Darstellung eines Charakters. Ja, der ganze Roman liegt auf einmal sehr viel deutlicher vor Ihnen.
Alles in allem bereitet Ihnen das Durchhalten einer klaren Perspektive weit weniger Mühe und kostet weniger Zeit, als sich permanent mit den Folgen schlampiger Perspektivarbeit herumzuschlagen. Stellen Sie sich das Schreiben wie eine Straße vor. Ein unklarer oder inkonsistenter POV sorgt für eine Holperstrecke, jeder Fehler ein eigenes Schlagloch. Die konsistente Perspektive hingegen ist ein glatter, gerader Highway, der Sie sofort in den Schreibfluss bringt und darin hält.
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Klingt gut. Ist noch besser. Eine konsistente Erzählperspektive nutzt Ihren Lesern und Ihnen selbst. Sie sehen, es lohnt sich, im Vorfeld einiges an Hirnschmalz und Hosenboden in die Erzählperspektive zu investieren.
Sehen wir uns an, was passiert, wenn Sie aus der Perspektive fallen. Wie das hier Jeffery Deaver unterläuft, im letzten Satz am (vorläufigen) Ende eines Handlungsstrangs:
»…
Und sie [POV-Charakter Amelia Sachs] erinnerte sich daran, was Lincoln Rhyme gesagt hatte.
Ich werde diesen Fehler nicht noch einmal begehen …
Die letzten Worte, die er je an sie richten würde.
…«
(Jeffery Deaver, »Der Todbringer«, Blanvalet 2019)
Sachs ist eine der Hauptfiguren der Krimireihe um Lincoln Rhyme. Dass sie stirbt, halten die Leser für unwahrscheinlich. Der Satz lässt zwei Lesarten zu, je nach POV.
Wird er personal erzählt? Dann wird Amelia Sachs tatsächlich sterben.[Fußnote 11] Und sie als personale Erzählerin weiß das in diesem Moment. Kann sie in die Zukunft sehen? Oder ist die Situation so offenbar tödlich?
Oder wird der Satz auktorial erzählt? Dann würde der auktoriale Erzähler lügen, um Spannung zu erzeugen. Und damit den Vertrag mit den Lesern brechen, die den auktorialen Erzähler für zuverlässig halten (müssen).
Dass Amelia Sachs überzeugt davon ist, sie werde sterben, und sich irrt, ist wenig wahrscheinlich. Dafür ist der Satz zu eindeutig. Zumal sich einige Seiten weiter dieser Satz findet:
»…
Amelia Sachs wusste, sie würde sterben.
…«
Dass sie dann doch überlebt, fühlt sich für viele Leser wie ein Betrug an, und zwar ein unfairer, einer, den sie dem Autor nicht durchgehen lassen. Vertragsbruch, Jeff!