Читать книгу ERZÄHLPERSPEKTIVEN: Auktorial, personal, multiperspektivisch - Stephan Waldscheidt - Страница 4

Die Perspektive macht den Roman

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Sie kennen die gängigen Perspektiven: Da erzählt jemand in der Ich-Form oder in der dritten Person Singular. Vielleicht weiß der Erzähler alles, womöglich sieht er nur so weit wie der Protagonist.

Es ist wie im Leben: Jeder hat seine ganz eigene Version derselben Geschichte. Die Versionen können so weit voneinander abweichen, dass ein Außenstehender sie nicht mal mehr als die gleiche Geschichte erkennen würde. Logisch, dass die Perspektive tatsächlich auch einen Roman erst zu diesem einen Roman macht: dem Roman des jeweiligen Erzählers, der aus seiner ganz eigenen Perspektive berichtet.

Die Wahl der Perspektive für Ihren Roman oder für einen Handlungsstrang treffen Sie vermutlich intuitiv. Das ist nicht unbedingt falsch. Aber damit ist es auch nicht automatisch richtig – so gut wie nie ist es optimal. Das Beste für Ihren Roman und Ihre Leser holen Sie dann heraus, wenn Sie exakt wissen, was für jede Perspektive spricht, wie Sie sie auswählen und auf welche Weise Sie sie bestmöglich einsetzen.

Denn die Erzählperspektive gehört zu den Aspekten beim Schreiben Ihres Romans, die alles andere beeinflussen. Jeden Satz schreiben und erzählen Sie aus einer ganz bestimmten Perspektive heraus, ja, selbst die Auswahl einzelner Wörter wird von der Perspektive beeinflusst, wenn nicht sogar geregelt und geprägt. Damit reiht sie sich ein in Aspekte wie den Erzähler und seine Stimme, die nie isoliert wirken. Wir betrachten die Perspektive dennoch für sich, um klarer zu sehen.

Umgekehrt unterstützt und inspiriert Sie eine prägnante und konsistente Perspektive bei den meisten Romanbausteinen wie Plot und Charaktere, Spannung und Suspense, Emotionen und Identifikation, Beschreibungen und Setting, Sprache und Stil. Mehr noch: Das Schreiben aus der passenden und passend umgesetzten Erzählperspektive fällt Ihnen leichter, weil Sie exakter wissen, was Ihr Protagonist sehen, fühlen, beschreiben würde. Je tiefer Sie als Autor in der Perspektive drin sind, desto relevanter wird das, was Sie schreiben, desto klarer entstehen Bilder im Kopf Ihrer Leser, desto intensiver lassen Sie die Leser fühlen. Sie schreiben schneller, Sie schreiben besser, Sie schreiben präziser, Sie schreiben weniger Überflüssiges und haben selbst sehr viel mehr Spaß an Ihrer Geschichte, Ihren Figuren, Ihren Themen.[Fußnote 1]

Die Erzählperspektive ist eine Vereinbarung, die Sie als Autor mit Ihren Lesern treffen: Die Leser und Sie tun so, als würde der Roman nicht von Ihnen, der Autorin oder dem Autor, erzählt, sondern von einer Ihrer Schöpfungen: dem Erzähler[Fußnote 2].

So viel zur Theorie. Was wir uns in diesem Buch ganz praktisch ansehen werden, ist die Erzählperspektive als Standpunkt, den der Erzähler einnimmt. Im mehrdeutigen Wort Standpunkt schwingt neben der Perspektive passenderweise auch die Haltung des Erzählers mit. Die Erzählperspektive gibt an, aus welchem Blick- und, allgemeiner, aus welchem Wahrnehmungswinkel der Erzähler die Geschichte betrachtet, in welchem Emotionswinkel er sie spürt, aus welchem Intuitionswinkel er sich ihr annähert. Mit der Erzählperspektive lenkt und filtert der Erzähler die Wahrnehmung und die Gefühle der Leser. Sie sehen, das mit der enormen Bedeutung der Perspektive für Ihren Roman ist eher noch untertrieben.

Der vielen von Ihnen vertrauten Nomenklatur aus der amerikanischen Creative-Writing-Literatur folgend verwende ich für Erzählperspektive synonym den Begriff Point-of-View oder kurz POV.[Fußnote 3]

Übrigens …

Der Ausdruck »Perspektive« ist insofern missverständlich, als er (scheinbar) nur die visuellen Eindrücke meint. Besser passt da die in der Erzähltheorie verwendete Bezeichnung Fokalisierung. Da wir hier aber alles Praktiker sind, bleiben wir bei den im kreativen Schreiben gängigen Begriffen und vermeiden eine babylonische Sprachverwirrung.

Stellen Sie sich den Erzähler wie den Regisseur in einem Fernsehstudio vor. Bei einer Live-Übertragung eines Konzerts bestimmt er, welche Kamera welchen Standort (beim Schlagzeug) und welche Perspektive (über die Schulter des Schlagzeugers) einnimmt. Er legt fest, welche der Kameraeinstellungen dem Zuschauer gezeigt wird (beim Einzählen die Sticks des Drummers, beim Einsetzen der Leadgitarre eine Großaufnahme der Finger des Gitarristen). Anschließend lässt er herauszoomen, um den Bühnenauftritt der Sängerin zu zeigen, und begleitet sie mit dem Kameraauge zum Mikrofon, wo sie eine Faust in die Höhe reckt, dann der Schwenk ins Publikum, das die Sängerin kreischend begrüßt.

Sie als Autor lenken diesen Erzähler-Regisseur.

Dasselbe Konzert könnte ein anderer Erzähler völlig anders zeigen. Etwa bei der Sängerin in der Garderobe beginnen und sie mit einer Handkamera durch die Eingeweide der Halle hinauf zur Bühne begleiten, während die einsetzende Musik im Hintergrund läuft und die Sängerin, aus einem Interview im Off, ihre nachdenklichen Eindrücke vor dem Auftritt schildert. Dasselbe Konzert – und doch ein ganz anderer Film.

An diesem Beispiel erkennen Sie, wie mächtig und zugleich wichtig die gewählte Perspektive ist. In der ersten Konzert-Übertragung liegt der Fokus auf der Musik, in der zweiten auf den Gefühlen der Sängerin. Beim Zuschauer entstehen so ganz unterschiedliche Eindrücke und Emotionen.

Je nachdem, was Sie als Autor mit Ihrer Story oder Ihrem Roman erreichen wollen, wählen Sie die Erzählperspektiven aus. Entscheidend ist die Frage, wie nahe Sie die Leser an Ihre Erzähler, Protagonisten, Handlungen und Themen heranholen möchten oder ob Distanz Ihren Zwecken mehr entgegenkommt.

Die andere entscheidende Frage ist die, ob Ihr Erzähler im Roman mitspielt und damit Teil Ihres Ensembles ist, also des Romanpersonals. Diese Perspektiven nennen wir personale Perspektiven.

Betrachtet und schildert Ihr Erzähler den Roman als Außenstehender, spielt er in der Geschichte folglich keine Rolle, sprechen wir von einem auktorialen Erzähler.

Falls ein Roman aus mehreren (in der Regel personalen) Perspektiven erzählt wird, reden wir vom multiperspektivischen Erzählen.

Mit der richtigen Perspektive verstärken Sie die Wirkungen des Erzählten, mit der falschen jedoch arbeiten Sie gegen sich selbst – und letztlich gegen Ihre Leser. Darum sollten Sie sich vor dem Schreiben klar werden, welche Geschichte und welche Art Geschichte Sie erzählen und was Sie damit bei den Lesern erreichen wollen.

Eine erste Hilfestellung bei dieser Frage ist das Genre, in dem Sie Ihren Roman ansiedeln, denn es sagt grob, was die Leser von Ihrem Roman erwarten. In einem Thriller etwa suchen die Leser nach Spannung und Suspense, nach überraschenden Wendungen und raffinierten Plänen. Also wählen Sie die Perspektiven so aus, dass Sie damit die Spannung und Suspense, den Wendungsreichtum und die Raffinesse Ihres Plots herausstellen. Das kann zum Beispiel bedeuten, die Perspektive des Antagonisten einzunehmen, um den Lesern das Perfide an seinen Fallen und Täuschungen zu zeigen.

In einem Roman mit Lokalkolorit mag das Erzählen aus der Perspektive einer alten Dorfhistorikerin sinnvoll sein, weil diese Dame die überlieferten Geschichtchen und Anekdoten, die Gerüchte und Mythen, den Klatsch und den Tratsch kennt und die Geschehnisse im Roman mithilfe dieses Insiderwissens interpretiert.

Übrigens …

Klatsch ist eine Form der Unterhaltung, bei der Informationen über nicht anwesende Personen ausgetauscht werden, mit Vorliebe Dinge, die man in ihrem Beisein gerade nicht sagen würde. Dies unterscheidet ihn vom Tratsch, der ein eher zielloses Schwatzen und Erzählen meint.

Was macht eine gelungene, eine die Leser begeisternde Erzählperspektive aus? Ein großartiger und auf das zu Berichtende maßgeschneiderter Erzähler[Fußnote 4] hat eine klare Vorstellung von Themen, Charakteren und Plot. Er oder sie wählt seine Perspektive(n) danach aus, Themen, Charakteren und Plot bestmöglich zu dienen und ihre Stärken herauszustreichen. Die Geschichte erzählt er auf konsistente und stets kontrollierte Weise mit einer packenden und eine klare Haltung verkörpernden Erzählstimme[Fußnote 5].

Klingt schwierig? Keine Sorge. Was wir hier plakativ zusammengefasst sehen, ist der unerreichbare Idealfall. Dem Sie sich so weit annähern, wie Sie das hinkriegen – nach Lektüre dieses Ratgebers (noch) besser, versprochen. In jedem Fall gut genug, um einen mitreißenden Roman zu schreiben.

Übrigens …

Beim Beschäftigen mit der Erzählperspektive kommen Sie nicht umhin, Ihre Protagonisten und POV-Charaktere (abermals) näher unter die Lupe zu nehmen. Sehen Sie die Arbeit mit Perspektiven und Figuren als einen sich gegenseitig befruchtenden Prozess. Je mehr Sie sich mit der Erzählperspektive befassen, desto mehr Impulse erhalten Sie für die Ausformung und Optimierung Ihrer Charaktere – und umgekehrt.

Perspektive, Leute! Ich dachte lange Zeit, dass viele Autoren damit ein Problem hätten, weil sie nicht verstehen, warum man wann wie damit umgeht. Das Problem, fürchte ich, liegt tiefer.

Vielen ist nicht bewusst, dass es überhaupt ein Problem gibt, genauer gesagt: eine Vielzahl davon. Munter schreiben sie drauflos – »munter« kann, muss aber nicht »planlos« bedeuten – und kümmern sich nicht weiter um die Perspektive.

Warum sollten sie? Perspektive, Erzählperspektive, das klingt abstrakt, nach Schulgrammatik. Ohne die man blendend durchs Leben kommt, oder? Ich meine, was interessiert es den Bäckereifachverkäufer, die Bankenvorstandsvorsitzende oder den Escortherrn, was ein Konditionalsatz ist oder ein Akkusativobjekt? Brötchen, Staatspleiten und Sex verkauft man auch ohne dieses Wissen. Hat ein Autor eine Geschichte zu erzählen, kann eine Autorin wunderbare Charaktere zum Leben erwecken, muss es ihn oder sie doch einen trockenen Kehricht interessieren, wie das eigentlich so genau war mit der Perspektive.

Womit wir am Punkt sind: Sie als Autor (oder Ihr Erzähler, siehe oben) erzählen eine Geschichte besser und wirkungsvoller und gestalten Charaktere runder und lebendiger, wenn Sie das mit der Erzählperspektive hinbekommen.

Umgekehrt können reihenweise Perspektivfehler und die Wahl eines falschen POV eine Szene, einen Erzählstrang oder den kompletten Roman verwässern, schwächen und schlimmstenfalls zerstören. Etwa, wenn Sie an Schlüsselstellen dem Leser die relevante Sicht verwehren. Oder wenn Sie die Kontrolle über Ihre Charaktere verlieren und diese unglaubhaft oder inkonsistent agieren oder fühlen.

Keine Sorge, wir sind nicht in der Schule, nur in der des Lebens, und hier geht es nicht um richtig oder falsch, sondern um wirkungsvoll oder weniger wirkungsvoll. Es geht uns nicht darum, irgendeinen Roman irgendwie in die Tasten zu hacken, sondern darum, einen guten oder sogar den besten Roman zu schreiben, den Sie schreiben können. Schließlich haben Sie Ambitionen und eine Schreiber-Ehre.

Denn die Perspektive macht nicht nur den Roman – die Perspektive macht auch die Autorin und den Autor. Je präziser und prägnanter Sie die bestmögliche Perspektive einsetzen, desto näher kommen Sie dem Idealbild des Romans, den Sie schreiben und erzählen möchten, desto besser bringen Sie Ihre literarischen Fähigkeiten zur Geltung, nutzen mehr Ihres Potenzials aus und werden als Autorin oder Autor zu dem, der Sie sein können.

ERZÄHLPERSPEKTIVEN: Auktorial, personal, multiperspektivisch

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