Читать книгу Bessere! Romane! Schreiben! - Stephan Waldscheidt - Страница 10
Warum Sie Geschichten weben und nicht bloß spinnen sollten Ein Glas Sauerkirsch-Konfitüre, und der Leser weint
ОглавлениеLacey wandte sich zu ihm [Wolgast]. »Nimm ihn.«
Das tat er. Seine Arme waren noch geschwächt vom Klettern, aber er hielt ihn fest an sich gepresst.*
Eine der wichtigsten Romanfiguren in Justin Cronins Mystery-Thriller »Der Übergang«, Wolgast, ist ein lebendig geschilderter, überzeugender Charakter. Bei ihm schließen sich Wunden nicht automatisch, wirkt eine Anstrengung in der nächsten Szene nach. Cronin webt ein dichtes Netz in seinem Roman – und der Ausdruck des Webens scheint mir treffender als das englische »Spinning a yarn«, woher wohl auch unser Erzählfaden kommt. Einen Roman schreiben hat weit mehr mit Weben als mit Spinnen zu tun. (Zugegeben, der Witz mit dem Spinnen ist offensichtlich, den dürfen Sie gerne selber weiterspinnen.)
Viele Autoren kappen nach einer Szene zu viele ihrer Fäden. Sie scheinen froh zu sein, die Szene hinter sich gebracht zu haben und denken nicht mehr daran, was sie da mit ihren Figuren angerichtet haben. Das geht über reine Continuity-Fehler weit hinaus.
(Randnotiz: Continuity, Kontinuität, ist ein Begriff aus der Filmbranche. Dort werden eigens Leute beschäftigt, die Szenen so herrichten wie bei der Einstellung eine Woche zuvor – damit die rote Vase wieder genau so auf dem gelben Häkeldeckchen steht, an dem die Heldin mal kurz zupfen muss, um ihren Ordnungswahn zu demonstrieren.)
Eine gewebte Geschichte enthält Symbole, die an verschiedenen Stellen im Roman auftauchen. Eine gewebte Geschichte zieht den Leser tiefer in das Geschehen hinein. Warum? Weil er das Gefühl hat, einem Organismus beim Wachsen zuzusehen. Und nicht bloß einem roten Faden in ein Labyrinth hinein zu folgen.
Er [Wolgast] ging um kurz nach sieben. Nach so vielen Wochen, wo er nur herumgestanden war und Pollen von den Bäumen sammelte, protestierte der Toyota lange und keuchend, als Wolgast ihn startete, aber schließlich griff der Motor und lief.*
Cronin hätte Wolgast auch einfach ins Auto steigen und wegfahren lassen können. Gestört hätte das die Leser kaum, schließlich könnte der Toyota ja auch nach drei Wochen sofort anspringen. Aber mit seinem Rückgriff auf ein zurückliegendes Ereignis webt Cronin eine weitere Reihe in seinen Stoff, der Roman wirkt realistischer.
Und nicht nur das: Durch den Rückgriff auf den schlecht anspringenden Wagen zeigt Cronin die vergangene Zeitspanne, statt sie nur zu behaupten.
Schließlich hat das Geschichtenweben einen ganz praktischen Vorteil für Sie als Autor: Es gibt Ihnen einen willkommenen Anknüpfungspunkt, um in die Szene einzusteigen: hier Cronins Toyota.
Für Sie heißt das: Wenn Sie in einer Szene nicht wissen, was Sie Ihre Charaktere tun lassen sollen, probieren Sie es mit einer Verbindung zu einem zurückliegenden Ereignis. Der Charakter könnte sich an eine Unterhaltung erinnern, die sieben Szenen zuvor stattgefunden hat und den Gesprächspartner jetzt darauf ansprechen, vielleicht auf etwas, was der ihm gesagt hat. Oder Ihrem Charakter fällt beim Durchwühlen der Schränke ein Glas Konfitüre in die Hand, das er vor elf Szenen zusammen mit seiner inzwischen verstorbenen Frau gekauft hat. Sofort wallen Emotionen auf.
Sie können auf alles zurückgreifen, Stimmungen, Versprechen, Aussichten, Gegenstände, Wetterlagen, Toyotas, alles, was Ihnen nur einfällt, um ihren Stoff noch ein wenig dichter zu weben.
Kleiner Tipp: Je spezifischer die Details sind, die Sie in Ihre Geschichten einweben, desto leichter sind Rückgriffe möglich – und desto organischer erscheinen sie dem Leser.
Geschichten dicht zu weben, statt nur Erzählfäden zu spinnen, wird Ihrem Roman gut tun. Und ein banales Glas Sauerkirsch-Konfitüre löst plötzlich tiefe Gefühle aus. Auch bei Ihren Lesern.
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*) eigene Übersetzung aus: Justin Cronin, »The Passage«, Ballantine 2010.