Читать книгу Schattenseiten - Stephanie Ahlen - Страница 10
ОглавлениеKapitel 5
Donnerstag, 15. Februar
Flug von London (LHR) nach Honolulu (HNL)
Flug 940 der British Airways nach Los Angeles war ein voll besetzter Airbus A380. Lauren und Randy hatten zwei der Economy Sitze in der oberen Etage zugewiesen bekommen, zusammen mit einer italienischen 20-köpfigen Reisegruppe, die laut und ausgelassen ihrem Aufenthalt in den USA entgegenfieberte. Als sie sich gegen Mitternacht auf der Webseite der Airline eingeloggt hatten, um online einzuchecken, waren natürlich nur noch Restplätze übrig gewesen. Und zwar die Art von Sitzen, die keiner haben wollte: neben den Toiletten, in den letzten Reihen oder in der Mitte. Keine Chance auf einen Fensterplatz, um den großartigen Anflug auf die Smogglocke von L.A. zu genießen.
Erwartungsgemäß hatte Lauren in der Nacht weder besonders gut noch besonders viel geschlafen. Zum einen ging ihr die Aussage von George McAllister im Kopf herum, dass er sich gegen ihren Auslandseinsatz ausgesprochen hatte. Sie wusste, dass er ihre Arbeit schätzte. Schließlich hatte sie sich in relativ kuzer Zeit vom Constable zum Inspektor hochgearbeitet. Trotzdem enttäuschte es sie, dass er ihr nicht mehr vertraute.
Den Rest der Nacht war sie damit beschäftigt gewesen darüber nachzudenken, was sie in Honolulu erwarten würde. Würden ihre alten Kollegen noch im Dienst sein? Und wie würden sie auf ihre Rückkehr reagieren? War Kalei noch bei der Truppe? Hasste er sie? Oder war sie ihm egal? War es eine gute Sache nach acht Jahren zurückzukehren und sich ihrer Vergangenheit zu stellen? Zurück zu all den losen Enden, die sie zurückgelassen hatte.
Laurens Partner, Randy Sheridan, mit dem sie seit drei Jahren ein Team bildete, war aufgekratzt und bester Stimmung. Für ihn war es wie ein Sechser im Lotto auf Kosten des Steuerzahlers auf eine sonnige Pazifikinsel fliegen zu dürfen. Seit ihrem Treffen am London Heathrow Terminal 5 nervte er sie mit seiner guten Laune.
Randy war in der Nähe von Bristol aufgewachsen und hatte dann in der Stadt am Fluss Avon die Polizeiakademie besucht. Er hatte seine bodenständige Familie, die im Umland eine Farm betrieb, nur zu gerne verlassen, um gleich nach Beendigung seiner Ausbildung nach London zu wechseln. Seitdem war er auf der Suche nach seiner besseren Hälfte, wobei er sich über seine sexuelle Orientierung noch nicht ganz im Klaren war. Er hatte zunächst einige kurze Beziehungen mit Frauen gehabt, war dann mehrere Monate mit einem wesentlich älteren Mann zusammen gewesen, um dann wieder zu einer seiner Ex-Freundinnen zurückzukehren. Zwischendurch hatten auch Lauren und er es einmal miteinander versucht, jedoch schnell festgestellt, dass sie als Kollegen weitaus besser zusammenpassten. Sie hatten ohne Tränen oder Drama die Wandlung von Friends with Benefits zurück zu Brothers in Arms geschafft.
Randy war nun seit fast eineinhalb Jahren mit Lawrence zusammen, einem 3D-Artist, der in SoHo für eine bekannte Filmproduktion arbeitete.
Normalerweise ließ sich Lauren gern von Randy unterhalten und sie interessierte sich durchaus für den neuesten Gossip, die aktuellen Londoner Filmprojekte betreffend, aber an diesem Morgen wollte sie mit ihren Gedanken allein sein.
Kurz nach dem Start hatte Lauren ihre Kopfhörer aufgesetzt und angefangen “Live, Die, Repeat” mit Tom Cruise und Emily Blunt anzuschauen, um Randy und die italienische Reisegruppe auszublenden, aber ihre Gedanken verfingen sich ständig in alten Erinnerungen und Fragen.
Ihre Kindheit hatte Lauren in Deutschland, in der Nähe von Frankfurt, verbracht. Laurens Mutter Marie-Luise, die Tochter eines Engländers und einer Deutschen, hatte ein kleines englisches Café geführt, in das viele amerikanische Soldaten kamen, die in der nahegelegenen US-Militärbasis stationiert waren. Einer der Offiziere, ein stattlicher junger Mann aus Portland, Oregon, hatte sich in die Besitzerin des Cafés verliebt. Er liebte Wandern und Bourbon Whisky aus Kentucky und da Laurens Mutter diese Leidenschaften teilte, - wenn sie auch den schottischen Whisky dem amerikanischen vorzog - dauerte es nicht lange, bis sie sein Mädchen und zwei Jahre später seine Frau wurde. Nach drei Jahren wurde Lauren als einziges Kind geboren und verbrachte eine sorglose und glückliche Kindheit im Taunus.
In dem Sommer, in dem Lauren die siebte Klasse beendet hatte, schied ihr Vater aus dem aktiven Militärdienst aus und die kleine Familie zog in die USA, in seine Heimatstadt Portland. Scott, Laurens Vater, hatte seit jeher den Traum gehabt, aus den damals heruntergekommenen Gebäuden der Innenstadt, durch deren Straßen Obdachlose und Meth- Süchtige zogen, wieder ein trendiges Ausgehviertel zu machen. Gemeinsam mit zwei Freunden kaufte er eine alte Fabrikhalle in der 4. Avenue und wandelte sie in
eine der ersten angesagten Industrial Kitchens um, die seitdem das Straßenbild von Portland prägen.
Scott Bradleys Talent zum Unternehmertum hatte seiner Ehe mit Marie-Luise leider nicht sehr gutgetan.
Laurens Eltern hatten sich scheiden lassen, als sie sechzehn war. Laurens Mutter war nach Canterbury in England gezogen, wo ihr Vater, Laurens Großvater, lebte. Lauren hingegen hatte sich entschieden, bei ihrem Vater in Oregon zu bleiben.
Nachdem Lauren zunächst das College besucht hatte und eine Weile in Portland in verschiedenen Jobs gearbeitet hatte, verspürte sie den dringenden Wunsch nach einem Standortwechsel. Ihre Entscheidung vom regnerischen Portland nach Hawaii zu ziehen, kam für niemanden besonders überraschend. Schließlich war sie in den vorangegangenen Jahren hauptsächlich zwischen Canterbury und Portland hin und her gependelt, also zwischen zwei Städten, die nicht gerade für ihr sonniges Wetter bekannt waren.
Als Lauren jedoch nach zwei Monaten in Honolulu eine erste Bilanz zog, war sie ein wenig enttäuscht, dass sich Portland und Waikiki in ihrem einfallslosen Baustil der 1960er-Jahre sowie in der Zahl der Obdachlosen und Drogensüchtigen kaum unterschieden. Waikiki war ein hässlicher, verbauter Stadtteil, dessen berühmter Strand künstlich mit Sand von den Nachbarinseln aufgefüllt werden musste, damit er nicht einfach im Meer verschwand. Das Ausgehen war teuer, selbst lokal produzierte Lebensmittel kosteten das Doppelte von dem, was man daheim gewohnt war.
Die Apartments und Eigenheime waren unbezahlbar und die Straßen permanent verstopft. Auf der Kalakaua Avenue, der Strandpromenade Waikikis, bewegte sich ein permanenter Strom von Touristen, japanischen Hochzeitsdelegationen und Polizeistreifen.
Aloha und 'Willkommen im Paradies'! Die Inseln von Hawaii sind nicht für jeden. Es heißt, dass Hawaii dich entweder mit offenen Armen empfängt oder von sich wegstößt.
Weil so viele Menschen im scheinbaren Paradies leben wollten, waren sie bereit, für sehr viel weniger Lohn zu arbeiten als die Menschen auf dem US-Festland. Gleichzeitig waren aber das Wohnen und die Lebensmittel sehr viel teurer als in anderen Staaten oder Ländern. Deshalb fühlte man sich selbst als gutverdienender Mittelständler immer ein wenig ärmer als in anderen großen US-Städten.
Ein weiterer abschreckender Faktor für nach Hawaii zugezogene Menschen war, dass man sich auch nach Jahren noch als Außenseiter fühlte. Dabei spielte es keine Rolle, wie gut man sich in die Kultur Hawaiis integriert, ob man in eine einheimische Familie eingeheiratet, gemeinsame Kinder hatte oder unzählige gute oder soziale Dinge für Hawaii getan hatte. Man würde für die in Hawaii Geborenen immer ein 'Festlandbewohner‘ oder Haole, ein Fremder, sein. Bestenfalls war man ein 'Einwohner Hawaiis', aber niemals ein 'Hawaiianer'.
Viele Zugereiste blieben zwei Jahre auf den Inseln von Hawaii und kehrten dann aufs Festland oder in ihr Heimatland zurück. Aber manche Menschen blieben für immer. Lauren blieb genau drei Jahre und acht Monate.
Wie fast jeder Neuankömmling fing auch Lauren nach wenigen Wochen an zu surfen. Das Meer war fast das ganze Jahr über warm und es trug sie fort von den lauten Straßen und überfüllten Stränden der Stadt in eine stille, blaue Welt aus bunten Fischen, Meeresschildkröten, Delfinen und Korallen. Im Winter kamen die Wale aus den kalten Gebieten des Nordpazifik, um in dem warmen Wasser ihre Jungen zur Welt zu bringen. Mit den Walen kamen die Orcas und die Haie wie nach einem festgelegten Fahrplan. Jeden Winter gab es einige Haiunfälle mit Schwimmern, Surfern und Tauchern. In Laurens erstem Winter auf den Inseln wurde einem Mädchen aus Deutschland, das sich mit seiner Schnorchelausrüstung nicht weiter als 50 Meter vom Strand entfernt hatte, ein Arm abgebissen. Das Mädchen verstarb wenige Tage später in einem Krankenhaus auf der Nachbarinsel Maui.
Die Wellen um Oahu herum veränderten sich im Laufe des Jahres. Während sich in den Wintermonaten gigantische Wellen an der North Shore der Insel bildeten und Weltmeisterschaften an der berühmten Banzai Pipeline und in Waimea stattfanden, ebbte der Swell an der Südseite ab und die Surf Playgrounds vor Waikiki erfuhren eine ruhige Zeit mit flachen, langen Wellen, ideal, um Surfen zu lernen oder zum Stand Up-Paddeln.
Vier Monate nach ihrer Ankunft in Honolulu hatte Lauren es sich zur Gewohnheit gemacht, die Zeit zwischen Frühstück und ihrem Arbeitsbeginn in einer Eisdiele an einem Strandabschnitt namens Queens auf dem Board zu verbringen. Üblicherweise ging es ihr weniger um das Surfen als vielmehr um den freien Blick auf den Ozean und die rhythmische Bewegung der langen Wellen, die unter ihrem Surfbrett entlangrollten. An einem dieser Tage hatte Lauren Kalei Kahamoku kennengelernt. Schnell hatten sie sich immer häufiger zufällig am Queens Surf Spot getroffen und nach etwa zwei Wochen kam auch ein gelegentliches Treffen zu einem Feierabendbier nach der Arbeit zustande. Erst an einem dieser Abende erfuhr sie, dass Kalei auf die Polizeischule des HPD, des Honolulu Police Departments, ging und in wenigen Wochen seine Vereidigung zum Officer bevorstand. Kalei hatte gelernt, dass seine Berufswahl nicht bei allen Mädchen gut ankam und er erzählte niemals vorschnell von seiner Ausbildung. Lauren hingegen war nicht nur unvoreingenommen, sie war total hin und weg von seinen Geschichten aus dem Polizeialltag. Und ja, okay, auch von Kalei selbst. Er sah klasse aus und surfte in ihren Augen wie Eddie Aikau.
Daheim in ihrem Apartment in Waikiki, und während sie bei der Arbeit Eiswaffeln befüllte, begann sie über ein Leben als Polizistin nachzudenken. Es würde ihrem Leben vielleicht endlich eine Richtung und ein Ziel geben. Sie besprach ihre Idee immer öfter mit Kalei, der ihre Pläne unterstützte. Und so schrieb sie sich mit 23 Jahren schließlich an der Polizeiakademie ein.
Im Laufe ihrer Ausbildung wurden Kalei und Lauren ein Paar und es dauerte nicht lange, bis sie in eine gemeinsame, kleine Wohnung zogen. Sie arbeiteten und lebten zusammen. Oft hatten sie unterschiedliche Dienste und gaben sich die sprichwörtliche Klinke in die Hand. Sie waren beide im Streifendienst und hatten es hauptsächlich mit kleinen Diebstählen an Touristen, betrunkenen Kids und ein paar Junkies zu tun. Wenn etwas wirklich Spannendes passierte, kamen die Jungs von der Criminal Investigation und ließen sie den Tatort absperren. Aber es war okay so, irgendwie. In den ersten beiden Jahren zumindest.
Im dritten Jahr veränderte sich ihr Zusammenleben und Kaleis und Laurens Wünsche und Ziele drifteten auseinander. Kalei träumte von einem eigenen Haus mit Mangobaum im Garten. Er war in Hawaii geboren und konnte sich einfach nicht vorstellen, die Inseln für länger als ein paar Wochen zu verlassen. Wozu auch? Für ihn war Oahu Heimat und Paradies zugleich. Warum hätte er jemals an einen anderen Ort gehen sollen?
Lauren hingegen dachte immer häufiger an die Orte auf der anderen Seite des Pazifiks, die sie sehen wollte. Sie hatte Sehnsucht nach all den aufregenden Städten der Welt. Sie wollte nach New York, nach Shanghai, Mumbai und Sydney. Vor allem aber sehnte sie sich nach dem fernen Europa, nach der Heimat ihrer Kindheit und der ihrer Mutter, mit den jahrhundertealten Städten und der Kultur der Alten Welt. Am stärksten zog es sie nach London, ihrem ganz persönlichen Sehnsuchtsort.
Dank ihrer deutsch-amerikanischen Herkunft besaß Lauren nicht nur die amerikanische, sondern auch die deutsche Staatsbürgerschaft. Deshalb standen ihr Möglichkeiten offen, die Kalei nicht hatte, die er aber auch nicht vermisste.
Die Isoliertheit der hawaiianischen Inseln hatte sich oft für Lauren wie ein Gefängnis angefühlt. Ein paradiesisches Gefängnis, sechs Stunden Flugzeit vom nächsten Festland entfernt. Mit vielen ihrer Kollegen kam sie gut klar, aber einige waren nicht besonders gut auf ihre rebellische und in ihren Augen respektlose Einstellung zu sprechen, die sie den alten Haudegen der Truppe gegenüber an den Tag legte. Sie sahen sich als Teil einer Bruderschaft, als Männer, die auf den Straßen Honolulus für Recht und Ordnung sorgten. Sie verfolgten dasselbe Ziel und standen zusammen, egal was passierte. Lauren konnte mit dieser besonderen Art der Männerfreundschaft wenig anfangen und geriet speziell mit einem Kollegen namens Kenneth Akamoto immer häufiger aneinander, bis zu jenem Abend, in dessen Verlauf ihre Karriere beim HPD endete und sie wenige Tage später von den Inseln floh.
Acht Jahre später erwachte Lauren im Flieger in Richtung Westen, kurz vor ihrer Landung in LAX. Sie war trotz der lärmenden Reisegruppe vor und Randys Gerede neben sich in einen tiefen Schlaf gefallen, der ihr vor allem eine üble Nackenverspannung eingebracht hatte. Übernächtigt aussehende Flugbegleiterinnen servierten gerade ein sogenanntes kontinentales Frühstück in Pappschachteln.
„Tee?“, fragte Randy gutgelaunt, da er sich freute, dass sie wieder wach war und er sich wieder mit jemandem unterhalten konnte. Lauren blinzelte auf ihre Armbanduhr, die noch auf Londoner Zeit eingestellt war, und murmelte: „Es ist halb 7 Uhr abends. Wäre es da nicht eher an der Zeit für ein Bier?“
„Meine Liebe, hier ist es jetzt halb 11 morgens und deshalb trinken du und ich jetzt einen guten englischen Tee. Wahrscheinlich wird es der Letzte für eine ganze Weile sein", meinte ihr Partner und roch misstrauisch an seinem Pappbecher.
„Mit Sicherheit", stimmte Lauren zu und dachte an den üblicherweise sehr dünnen Filterkaffee, der in den USA in Halbliterbechern ausgeschenkt wurde.
Nach einem dreistündigen Aufenthalt am LAX Airport, von dem Randy gefühlte zwei Stunden in der Schlange vor der US-Immigration verbrachte, bestiegen sie einen Flieger der Hawaiian Airlines für den sechsstündigen Weiterflug nach Honolulu.
„Nochmal sechs Stunden?“, quengelte Randy wie kleines Kind, als er mit ihr und zweihundert anderen Mitfliegern am Gate auf den Einstieg wartete. „Hawaii ist die am weitesten von einem Kontinent entfernte Landmasse der Welt", belehrte ein älterer Herr, der hinter ihnen stand, Randy ungefragt. „Zwischen Los Angeles und Hawaii liegen sage und schreibe 4000 Kilometer.“
Zwei Stunden nach dem Start konnte Lauren es nicht verhindern, dass sie noch einmal in einem komatösen Schlaf versank. Dabei hatte vermutlich auch der kostenlose Mai Tai geholfen, der nach Erreichen der Reisehöhe in Plastikbechern ausgeteilt wurde.