Читать книгу Schattenseiten - Stephanie Ahlen - Страница 6

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Kapitel 1

Mittwoch, 14. FebruarHonolulu, Hawaii

Der anbrechende Morgen brachte lange, sanfte Wellen nach Waikiki.

Die Sonne war gerade aufgegangen und ließ das Meer silbrig und verheißungsvoll schimmern. Um diese Zeit, bevor die Touristen aus ihren Hoteltürmen und Ferienapartments in Richtung Strand strebten, war Waikiki ein friedlicher Ort, an dem sich Banker, Kellner, Studenten und Lehrer versammelten, um vor der Arbeit zu surfen, zu paddeln oder zu kajaken. Es spielte keine Rolle, ob man Geld hatte oder nicht, in welcher Gegend von Honolulu man zu Hause war, ob man in einer 6-Schlafzimmer-Villa im vornehmen Kahala oder in einem Einzimmer-Apartment in Kaimuki lebte. Hier auf dem Wasser galten eigene Regeln: Nimm keinem die Welle weg und paddle niemandem, der bereits auf seinem Board steht, im Weg herum. Ach ja, und leg dich nicht mit den Locals, den Einheimischen, an …

An manchen Tagen konnte es vor Waikiki recht anarchistisch zugehen. Heute aber war man nicht draußen, um für die Triple Crown zu trainieren, sondern um sich vor dem Arbeitstag ein wenig Frieden zu gönnen. Ähnlich einer morgendlichen Yoga-Einheit.

Kalei Kahamoku, Detective beim Honolulu Police Department, saß rittlings auf seinem Surfboard und blickte in Richtung Ozean. Er wusste, dass es heute kaum surfbare Wellen geben würde, aber darum ging es ihm nicht. Er wollte allein sein mit sich, seinem Board und der Stille dieser frühen Morgenstunde. Er war heute lange vor Sonnenaufgang in seinem kleinen Hinterhaus im Stadtteil Manoa aufgewacht, nachdem er einen ziemlich blutrünstigen Traum mit seiner Ex-Freundin Malu in der Hauptrolle gehabt hatte. Er hatte versucht, sich an Details zu erinnern, und darüber nachgegrübelt, warum sein Unterbewusstsein Malu als bösartige Medusa besetzt hatte, die ihm nach dem Leben trachtete. Malu war eine ausgesprochen sanfte Person, die als Krankenschwester im Queens Hospital in Honolulu arbeitete. Tatsächlich war ihre fürsorgliche und mütterliche Seite schuld daran gewesen, dass ein Zusammenleben mit ihm, Kalei, nicht von langer Dauer gewesen war. Selbstverständlich hatten die Schichtdienste, die ihre Berufe zwangsläufig mit sich brachten, dazu geführt, dass die beiden sich tagelang nur im Bad oder im Schlafzimmer getroffen hatten. Das war aber nicht der Hauptgrund, warum Malu Kalei vor drei Wochen verlassen hatte.

Kalei wollte gerne glauben, dass seine Arbeit bei der Criminal Investigation Division des Honolulu Police Departments Malu abgeschreckt hatte, aber in Wirklichkeit war es seine Unfähigkeit gewesen, mit ihr einen Schritt weiterzugehen. Malu wünschte sich Kinder, und zwar so bald wie möglich. Ohana, Familie, wurde bei ihr und ihren Geschwistern großgeschrieben und während ihre beiden älteren Schwestern bereits respektable Männer geheiratet und Kinder in die Welt gesetzt hatten, wartete Malu seit einem Jahr auf eine Geste von ihm, die signalisierte, dass er bereit war, sie zu heiraten.

Der Abschied war tränenreich gewesen, aber in keiner Weise böse. Warum träumte er jetzt davon, dass Malu auf brutale Weise hinter ihm her war? Nachdem er eine Weile im Dunkeln gelegen hatte, war ihm das Fehlen jeglicher Geräusche in seinem Haus aufgefallen und ganz plötzlich hatte er die Leere und Stille nicht mehr ertragen. Er war in seine Boardshorts gesprungen und hatte sich ohne Frühstück mit seinen Surfbrettern in seinem Pick-up auf den Weg nach Waikiki gemacht.

Um halb sieben in der Früh hatte er nicht mal eine Viertelstunde gebraucht und war rechtzeitig zum Sonnenaufgang am Strand gewesen und vom 'The Wall'-Surfspot aus in Richtung Diamond Head gepaddelt.

Nun saß er bereits seit fast einer Stunde auf seinem Surfbrett, aber seine Stimmung hatte sich trotz des traumhaften Ausblicks kaum gebessert. Er schaute auf den weiten Ozean hinaus. Wenn er jetzt geradeaus lospaddelte, würde der nächste Stopp Tahiti sein. Nichts wäre dazwischen, außer viereinhalbtausend Kilometer Wasser. Wenn er sich allerdings um 180 Grad drehte, würde er direkt auf einen der belebtesten und bekanntesten Strände der Welt mit seinen bis auf wenige Ausnahmen mehr oder weniger hässlichen und einfallslosen Hotels und Apartmenttürmen schauen.

Entschlossen wartete er die nächste akzeptable Welle ab und paddelte los, als er beinahe von einem Siebenjährigen gerammt wurde, der, stolz auf seinem Brett stehend, an ihm vorbeisurfte. Der Kleine schrie ihm wütend etwas zu, das sich Kalei als Kind niemals zu einem Älteren zu sagen gewagt hätte, und rauschte an ihm vorbei.

Kalei beschloss, dass er heute auf den Wellen weder Frieden noch Antworten finden würde, und entschied, dass es Zeit war, zur Arbeit zu gehen. Er sah sich um, um nicht ein weiteres Mal peinlich aufzufallen, legte sich bäuchlings auf sein Brett und hielt mit wasserschaufelnden Händen auf den Strand zu. Als er näherkam, meinte er, an der Kalakaua Avenue ein ziviles Einsatzfahrzeug mit Blaulicht auf dem Dach zu sehen. Und nachdem er noch ein paar Meter weiter gepaddelt war, glaubte er sogar, seinen Partner Chris Logan am Strand stehen und zu ihm herüberwinken zu sehen.

Erst gestern Abend hatten die beiden zusammen ein paar Bier im 'Kanpai' getrunken, bevor Chris zu seiner Frau und seinen drei Kindern ins Palolo Tal gefahren war und Kalei in sein Häuschen im Nachbartal Manoa. Dass sie beide mehr als ein Bier getrunken hatten, hatte sie, wie so oft, nicht weiter gestört. Und wie üblich hatte sie auch keiner von den Kollegen der Streifenpolizei angehalten.

Kalei erreichte den Strand mit einem letzten kräftigen Zug und Chris, der seine Hosenbeine bis zum Knie hochgekrempelt hatte, kam ihm entgegen und hielt sein Board fest.

"So früh wollte ich dich noch gar nicht wiedersehen, Mann", begrüßte Chris seinen Partner, während er Kalei dabei zusah, wie dieser die Sicherungsleine seines Boards von seinem Knöchel löste.

"Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass du für einen morgendlichen Strandspaziergang hier bist", erwiderte Kalei und sah zu Chris' aufgerüstetem Dodge Charger hinüber. Das Fahrzeug war Chris' Privatfahrzeug, das er auch im Dienst nutzen konnte. Dafür bekam er eine monatliche Subvention vom Honolulu Police Department.

Er hob sein Handtuch vom Sand auf, begann, sich Gesicht und Haare abzutrocknen, und wünschte sich, Chris hätte einen Kaffee von Starbucks gegenüber mitgebracht. Könnte sein, dass er gestern Abend ein Bier zu viel gehabt hatte. Sein Magen erinnerte ihn plötzlich daran, dass er noch nichts gegessen hatte.

"In diesem schicken neuen Resort an der Turtle Bay ist heute Morgen ein Tourist aus Europa tot aufgefunden worden. Unwahrscheinlich, dass er sich selbst ertränkt hat. Die Kollegen vom Distrikt 2 in Wahiawa haben uns noch vor Sonnenaufgang angerufen", hörte er Chris‘ Stimme durch sein Handtuch hindurch.

Kalei ließ das Handtuch sinken, sah seinen Partner an und wartete auf weitere Erklärungen. Aber Chris hatte seinen Blick gerade an zwei Blondinen Anfang zwanzig festgesogen, die in winzigen Bikinis lachend an ihnen vorbeischlenderten. Das Gesetz verbot Oben-ohne-Baden oder -Sonnen an den Stränden von Hawaii, aber die Bikinihersteller fanden erstaunliche Wege, winzige Stoffteile so zu vernähen, dass man kaum mehr von einem Kleidungsstück sprechen konnte.

"Ein toter Urlauber?" Kalei boxte Chris auf den Arm, um seine Aufmerksamkeit zurückzuerlangen.

"Ich verstehe schon, warum du morgens so gerne herkommst", murmelte dieser, während er den Blick widerwillig von den Mädchen abwandte. Eine der beiden drehte sich zu Chris um und winkte ihm zu, woraufhin sie und ihre Freundin kichernd die Köpfe zusammensteckten.

"Das Opfer und seine Ehefrau kommen aus England, offensichtlich keine Billigtouristen, und unsere Kollegen in Wahiawa haben, ganz wie es sich gehört, sofort das HPD angerufen. Darum werden wir gleich die Ermittlung und den darauffolgenden lästigen Papierkram übernehmen, während die Kollegen an der North Shore sich wieder der angenehmen Aufgabe widmen können, Falschparker aufzuschreiben oder einen zugekifften Surfprofi zu verhaften.“

"Bis zur Turtle Bay sind es mindestens neunzig Minuten Fahrt", lautete Kaleis Kommentar dazu.

"Und wenn wir nicht sofort losfahren, kommen wir auch noch in die Rushhour um Pearl City herum", ergänzte Chris das Elend.

"Nicht ohne Frühstück", entschied Kalei und steuerte auf den Coffee-Shop auf der anderen Straßenseite zu. Eigentlich hasste er Starbucks, aber der verdammte Kaffeeröster aus Seattle hatte auf diesem Abschnitt der Kalakaua Avenue nun mal das Monopol. Chris folgte ihm bereitwillig.

Die Fahrt zur North Shore der Insel Oahu dauerte tatsächlich deutlich länger als eine Stunde. Nachdem Chris und Kalei sich bei Starbucks mit Getränken und Bagels versorgt hatten, brauchten sie allein zwanzig Minuten, um überhaupt bis zur Schnellstraße H1, dem Highway Number One, zu kommen. Das lag unter anderem daran, dass Chris darauf bestanden hatte, dass Kalei sich sorgfältig jedes Sandkorn von der Haut und aus den Haaren wischte, bevor er sich in seinen geliebten Dodge Charger setzen durfte. Zudem war ihm verboten worden, die Sitze vollzukrümeln.

Der Verkehr staute sich auf der Hauptstraße von Waikiki in Richtung Downtown. Kurz hinter dem Ala Wei Kanal, der dafür sorgte, dass an regenreichen Tagen das Wasser aus den Bergen und Tälern ins Meer floss, hatte die Stadt sich dazu entschlossen, die Betondecke der Fahrbahn aufzureißen, um irgendwelche Arbeiten durchzuführen. Ein dicker Kollege von der Verkehrspolizei stand mit weißen Handschuhen auf der gesperrten Fahrbahn und lotste den Verkehr in Richtung Highway.

Fahrradfahrer und Mopeds mit Surfboards in speziellen Halterungen an der Seite schlängelten sich rücksichtslos durch die langsam fahrenden Autos und berührten mehr als einmal andere Fahrzeuge. Vor und hinter ihnen ragten große doppelstöckige Ausflugsbusse zwischen den Autos hervor, die die Touristen zu den Inselattraktionen nach Pearl Harbor, zu den Tauchspots im Osten der Insel oder zum Skydiving im Norden brachten.

Sobald sie auf dem Highway waren, ging es für kurze Zeit etwas flüssiger voran, allerdings nur bis kurz nach dem Internationalen Flughafen, wo der Verkehr zunahm und sich die Fahrbahn in sechs Spuren aufteilte.

Chris Logan steuerte seinen Dodge mit antrainierter, hawaiianischer Gelassenheit weiter in Richtung Norden. Sie passierten Pearl City mit durchschnittlich 30 Kilometern pro Stunde und nahmen schließlich die Ausfahrt, die zu den weltberühmten Surf Spots Oahus führte.

Nachdem sie die Ananasfelder der Dole Plantage hinter sich gelassen hatten und nun bergab gefahren waren, konnten sie in der Ferne bereits die Strände der North Shore und den kleinen Strandort Haleiwa sehen. Malus ältere Schwestern wohnten in Haleiwa und Kalei und sie hatten viele ihrer seltenen gemeinsamen freien Wochenenden beim Barbecue mit ihrer großen Familie verbracht. Kalei überlegte, ob ihm diese Treffen in Zukunft fehlen würden.

Gleich hinter Haleiwa führte sie der Highway an der Küste entlang. Die Big Wave-Saison an der North Shore war immer noch in vollem Gange und es tummelten sich zahlreiche Surfer, Zuschauer und Touristen entlang des Highways. Die Parkplätze an den wichtigen Stränden wie Waimea Bay, Pipeline und Sharks Cove waren bereits voll besetzt. Der 'Eddie Big Wave Surf Contest' wurde noch bis Mitte März veranstaltet und zog massenweise Menschen in die Gegend.

Sämtliche Ferienwohnungen, legale wie illegale, waren in dieser Zeit belegt. Der Contest war nach dem legendären Rettungsschwimmer und Surfer Eddie Aikau benannt, von dem bekannt war, dass er furchtlos die größten Wellen jagte und keine Scheu hatte, selbst unter den härtesten Bedingungen zu paddeln.

Die Teilnehmer warteten sehnsüchtig auf einen anständigen North Swell, hohe Wellen, die von Stürmen im nördlichen Pazifik gebildet wurden.

"Das Spektakel hier wird unsere Ermittlungen nicht gerade erleichtern" bemerkte Chris mit Blick auf die vielen Leute, die sich auf den Straßen und an den Stränden befanden. “Hier geht es mal wieder zu wie beim gottverdammten Karneval.”

"Ich hoffe, es stellt sich nicht heraus, dass der getötete Engländer ein berühmter Surfprofi ist", erwiderte Kalei. Er musste an Andy Irons denken, einen hawaiianischen Surfstar, der 2010 im Alter von nur 32 Jahren in einem Hotelzimmer in Texas tot aufgefunden worden war. Man war zuerst von einem durch Denguefieber verursachten Tod ausgegangen, später stellte sich heraus, dass Irons ein massives Problem mit Alkohol und Drogen gehabt hatte und an einem Herzinfarkt gestorben war. Der Presserummel, der nach seinem Tod entstanden war, war gigantisch und schmutzig gewesen.

Sie passierten schweigend die Waimea Bay, wo überdimensionale Plakate auf die laufenden Wettbewerbe aufmerksam machten.

Als sie endlich die lange Auffahrt zum Kaihalulu Hotel & Resort hinauffuhren, hatten sie fast die gesamte Insel einmal von Süden nach Norden durchquert. Die Fahrt hatte wie erwartet knapp zwei Stunden gedauert. Chris musste auf dem Weg zum Hauptgebäude zweimal an Wachhäuschen anhalten und ihre Polizeiausweise vorzeigen. Erst nach einem eingehenden Check hob sich die Schranke vor ihrem Wagen. Chris stoppte den Dodge Charger direkt vor dem Haupteingang im Valet Parking Bereich und präsentierte einem eifrig herbeieilenden Angestellten seine Dienstmarke. Daraufhin wurde er auf einen abgelegenen Angestelltenparkplatz geschickt, wo sie bereits ein Streifenwagen aus Wahiawa erwartete. Natürlich sollte keiner der Gäste mitgekommen, was im Hotel passiert war.

Kalei und Chris verließen den Wagen, Chris streckte seine Arme in die Höhe und dehnte seine Wirbelsäule nach der langen Fahrt. Der Charger war nicht das bequemste Fahrzeug für eine Tour über die Insel. Durch einen Seiteneingang wurden sie von einem uniformierten Police Officer in den Innenbereich des Kaihalulu Beach Resorts geleitet.

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