Читать книгу Grundlagen der Visuellen Kommunikation - Stephanie Geise - Страница 15

3.2 Digitales Bild und globale Verbreitung

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Die Mediatisierung und Digitalisierung der Lebenswelt macht auch vor dem Bild nicht Halt. In gewissem Sinne sind Bilder sogar eine »treibende Kraft« der globalen Digitalisierung. Das Neue am digitalen Bild ist dabei, dass es vormals voneinander getrennte Bildkontexte aufbricht und zu einer Hybridisierung und Konvergenz der Medien und ihrer Kommunikationskontexte führt. Ehemals lokal beschränkte Medien, die aufgrund ihrer Sprachlichkeit nur eingeschränkt in andere kulturelle und sprachliche Kontexte transferiert werden konnten, können nun visuell global verbreitet werden – werden dabei aber auch aus ihren ursprünglichen Kontexten und den damit verbundenen intendierten Bedeutungen gelöst. Das Bild bleibt zwar als Bildgestalt und -motiv erhalten, aber die kommunikativen Deutungs- und Bedeutungsprozesse sind vielfältiger und ihre Analyse ist komplexer geworden. Per Smartphone oder iPad werden unzählige Bilder ausgetauscht. Der private Produktionskontext von Bildern hat damit ungeahnte Dimensionen angenommen. So tat der Marktführer unter den sozialen Netzwerken FACEBOOK anlässlich seines Börsengangs im Februar 2012 kund, dass die 900 Millionen Nutzer weltweit täglich 250 Millionen Fotografien – das entspricht 3.000 Fotos pro Sekunde – auf die Onlineplattform hochladen (Petapixel 2012). Vergleichbare Plattformen wie FLICKR berichten ebenfalls über millionenfache Bildaktivitäten im Netz. Zwar gab es auch in vordigitalen Zeiten Amateurfotografie und private Bildproduktion (vgl. Von Dewitz 1989; Skrein/Von Dewitz 2005; Fotogeschichte 2009; Regener 2009), doch konnten diese analogen Datenmengen nicht per Mausklick global verbreitet werden.

Die globalisierte Bilddigitalisierung suggeriert, dass die verfügbaren Daten über den Bildeinsatz von Millionen Nutzern auch wissenschaftlich untersucht werden können. Das Ausmaß der digitalen Bildflut geht jedoch weit über das menschlich Vorstellbare und das kommunikationswissenschaftlich Analysierbare hinaus, solange die sich in Entwicklung befindenden visuellen Methoden des Datamining und der standardisierten Bild(inhalts)analyse noch nicht in der Forschungspraxis einsetzbar sind. Die global verbreitete visuelle Onlinekommunikation ist somit eine der großen Herausforderungen der Visuellen Kommunikationsforschung.

Immerhin liegen erste Klassifizierungsversuche von FACEBOOK-Bildern vor (vgl. Autenrieth/Neumann-Braun 2011). Innerhalb der sozialen Austauschprozesse auf FACEBOOK sind die sogenannten Profilbilder von zentraler Bedeutung (ibid.: 10). Profilbilder sind eine Form der Selbstrepräsentation und Stellvertretung. Mit Thumbnails – kleinen daumennagelgroßen Ausschnitten der Profilbilder – werden Kommentare auf Facebook versehen, so dass die meist passfotoähnlichen Bilder die Autorin bzw. den Autor der Kommunikation im Netzwerk repräsentieren. Der anonyme Nutzer wird damit zu einem sichtbaren Akteur im globalen Netzwerk (vgl. Astheimer/ Neumann-Braun/Schmidt 2011: 15). Dabei entsteht auch eine neue Kategorie des Bildproduzenten. Im Unterschied zu den asymmetrisch wirkenden traditionellen Massenmedien im 20. Jahrhundert, die durch einen unidirektionalen Kommunikationskanal zu einem weitgehend anonymen Publikum charakterisiert waren, sind die sozialen Netzwerke nicht nur global, sondern auch interaktiv. Eine Selektion von Kommunikationsinhalten findet nicht anhand professioneller journalistischer Aufmerksamkeitsfaktoren statt. So hat potenziell jeder Internetnutzer die Chance, mit seinen selbstproduzierten Bildern ein globales Publikum zu erreichen. Diese Demokratisierung der öffentlichen Bildproduktion wurde bereits 1980 von dem amerikanischen Autor Alvin Toffler (1980: 11) als sogenannte Prosumption beschrieben. Der heutige Internetnutzer ist damit ein neuer Typus des Bildproduzenten – ein Prosumer, d. h. zugleich Produzent und Konsument von Bildern. Nutzergenerierte Bilder sind dem privaten Produktionskontext zuzuordnen und können dementsprechend wie analoge Bilder auf ihre Form hin analysiert werden (vgl. Abb. 1, S. 25). Lediglich hinsichtlich des privaten Produktions- und Rezeptionskontextes fügt das digitale Bild aufgrund seiner in Pixel standardisierten, leicht kopierbaren und schnell zu verbreitenden Struktur zusätzliche Elemente zur Kontextanalyse hinzu. Im Prinzip sind jedoch digitale Bilder beschreib-, analysier- und interpretierbar wie andere Bilder auch – Gemälde, Printfotografien oder Karikaturen.

An dieser Stelle und im Rahmen dieses Buches kann und soll keine umfassende Erörterung der Auswirkungen von Mediatisierung, Digitalisierung und Globalisierung auf die Visuelle Kommunikation stehen (zur Mediatisierung vgl. ausführlich: Lobinger/Geise 2015). Vielmehr wird an einem konkreten Beispiel die digitale Dimension des visuellen Kommunikationsprozesses verdeutlicht:

Das Porträt (vgl. Abb. 11, S. 48) stellt einen jungen Mann dar, dessen Gesicht in Nahaufnahme gezeigt wird. Der Bildausschnitt bis zum Schulteransatz sowie der monochrome dunkle Hintergrund deuten auf eine Art offizielles Passfoto hin. Der junge Mann hat blonde, kurze Haare, die an den Schläfen bis zur Hälfte der Ohren reichen. Seine helle Haut und seine linke Gesichtshälfte werden durch eine Lichtquelle von rechts beleuchtet, während seine rechte Gesichtshälfte vergleichsweise im Schatten liegt. Seine hellen Augen sind nicht der Kamera bzw. dem Betrachter zugewandt, sondern links außerhalb des Bildes in die Ferne gerichtet. Der Porträtierte trägt einen dunklen Pullover mit rundem Ausschnitt sowie ein helles Polohemd, mit aufgestelltem Kragen. Zwischen den Enden des Kragens ist der Adamsapfel des Mannes deutlich sichtbar.

Abb. 11: Ein frühes Fotos des späteren Attentäters Anders Breivik


Der aufgestellte Kragen deutet stilistisch auf einen Aufnahmezeitpunkt des Bildes in den 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts hin, als dies zur gängigen Mode zählte. Ungewöhnlich ist lediglich der seitliche Blick des Abgebildeten, der sich dadurch der Konfrontation mit der Kamera und damit dem Betrachter entzieht. Ansonsten ist dieses männliche Porträt für den Betrachter zunächst belanglos und enthält keine Informationen zu persönlichem Hintergrund, Nationalität, den politischen Einstellungen oder dem emotionalen Empfinden des Porträtierten.

Die Bedeutung des Bildes ändert sich erst durch den beigefügten Text. Der Name des Abgebildeten ist Anders Breivik. Durch den Text wird zum einen die Identität des Porträtierten vermittelt, aber auch dessen vermutliche regionale Herkunft, da es sich um einen skandinavischen Namen handelt. Erst die multimodale Wechselwirkung zwischen Bild und Text stellt eine Sinneinheit zwischen Bezeichnetem und Abgebildetem her. Aber selbst wenn nun die Identität des Abgebildeten bekannt ist, erzeugt dies noch keine emotionale Reaktion bei den Betrachtern, solange kein weiteres Wissen über die abgebildete männliche Person besteht.

Einen erneuten Bedeutungswandel erfährt die Abbildung durch Kontextwissen aus der Rezeption des Bildes. Zum Aufnahmezeitpunkt der Fotografie war Anders Breivik einer von Millionen Norwegern, die ein Foto von sich haben machen lassen. Zum Zeitpunkt der medialen Wiederveröffentlichung dieses Porträts im Juli 2011 hatte der Rückblick auf den jungen Anders Breivik eine andere Bedeutung erlangt. Das Wissen, dass es sich bei Abb. 11 um ein frühes Porträt des späteren Attentäters von Oslo und Utøya handelt, der am 22. Juli 2011 insgesamt 77 Menschen bei einem Bombenattentat in Oslo und anschließend, zumeist Jugendliche, auf der Ferieninsel Utøya hinrichtete sowie zahlreiche Menschen schwer verletzte, ändert die Bedeutungszuweisung und die emotionale Reaktion der Betrachter. Der Rezeptionskontext wird so durch Wissen beeinflusst und führt zu unterschiedlichen kognitiven und emotionalen Reaktionen bei den Betrachtern. Die konkrete Wirkung des Bildes wird somit durch zwei Faktoren beeinflusst: durch die Relevanz des Bildes und des erweiterten Kontextwissens für den individuellen Betrachter sowie durch die ethisch-moralisch-politischen Bewertungen (Appraisals), die quasi automatisch vom Betrachter zur Beurteilung des Bildes getroffen werden (vgl. Müller/Kappas 2011).

Typisch für den digitalen Bildeinsatz ist, dass es nicht nur Textkommentare auf wahrgenommene Bilder gibt, sondern auch Bildkommentare. In diesem Fall wird ein Vorbild genommen und visuell verändert, bevor es online publiziert und damit potenziell global verbreitet wird. Abb. 12 auf S. 50 stellt einen von vielen solcher Bildkommentare dar.

Das Proträtfoto Breiviks wird hier als visuelle Grundlage genommen und manuell ein rotes Kreuz über das Gesicht Breiviks gezogen, darunter die englische Textaufforderung »DIE« – »Stirb!«. Der visuelle Kommentar – das Durchstreichen – und der Textkommentar ergänzen und verstärken sich hierbei wechselseitig. Die Porträtvorlage nimmt damit eine zusätzliche Bedeutung an, neben der Identifikation des Attentäters nun auch die emotionale Reaktion der Wut und des Wunsches, den Täter auszulöschen. Dabei greift der Prosumer von Abb. 12 ein stilistisches Mittel auf, das aus der visuellen Nachrichtenkommunikation stammt und das von dem ehemaligen Leitmedium der US-Presse – dem Nachrichtenmagazin TIME – bereits viermal prominent auf der Titelseite veröffentlicht wurde.

Der anonyme FACEBOOK-Blogger und Urheber von Abb. 12 könnte von dem zeitlich nahegelegenen Titelbild des TIME-Magazins (Abb. 13, S. 51) beeinflusst worden sein, das die Ermordung des Al-Qaida Topterroristen Osama Bin Laden mit Hilfe eines roten Kreuzes visualisiert, das sein Gesicht durchzieht. Der Unterschied zu dem Breivik-Porträt (Abb. 11, S. 48) ist jedoch, dass bei der Gestaltung des Bin-Laden-Covers (Abb. 13, S. 51) die oberen Enden des roten X verwischt sind, so als ob es sich um herunterlaufendes Blut handele. Die Farbe Rot sowie die formale Blutassoziation weisen dabei zum einen darauf hin, dass der getötete Terrorist Blut von vielen Menschen an den Händen hat, als auch auf die Art seines eigenen gewaltsamen Todes.

Abb. 12: Modifiziertes Porträt des Attentäters von Oslo und Utøya, Anders Breivik auf einer privaten FACEBOOK-Seite


Auf der Ebene des Formkontextes (Abb. 1, S. 25) ist interessant, dass sich das Motiv des mit rotem X durchgestrichenen Porträts ikonografisch in eine lange Reihe visueller Darstellungen einordnen lässt, die zu der erstmaligen Verwendung der TIME-Ausgabe im Mai 1945 zurückzuverfolgen ist, bei der der Sieg über Adolf Hitler und dessen Tod visuell verkündet wurden. Auch die Hinrichtung Saddam Husseins wurde im April 2003 mit den gleichen gestalterischen Mitteln behandelt sowie der Tod des Al-Qaida-Terroristen Abu Musab al-Zarqawi im Juni 2006. Auf der Produktionsebene (vgl. Abb. 1, S. 25) findet hierbei eine Adaptation eines professionell-journalistischen Kontextes durch einen privaten Prosumer-Kontext statt. Die potenziellen Bedeutungen im Rezeptionskontext (Abb. 3) sind durch eine grenzüberschreitende, potenziell global verständliche Bildsprache charakterisiert. Dabei wird die bildimmanente Bedeutung des ausgelöschten Täters und Feindes verdichtet. Während auf den TIME-Titelseiten auf Abb. 13, S. 51 eine Tatsache visualisiert wird – alle dargestellten Männer waren zum Zeitpunkt des Erscheinens des Nachrichtenmagazins bereits tot – lässt sich das rote X über Breiviks Gesicht als visualisierte Wunschvorstellung lesen. Das digitale Bild verdichtet die Bildbotschaft und erzeugt neue Bildmuster, die aus massenmedialen Kontexten stammen und überträgt sie auf nutzergenerierte Netzwerkkontexte, die zu einer globalen Verbreitung ursprünglich national und kulturell begrenzter visueller Ausdrucksformen führten. Das eigentliche Bildmotiv wird somit transportabel, von einem konkreten Trägermedium gelöst und zugleich global verfügbar für weitere Bildeinsätze, die zu Bedeutungsintensivierungen und -ergänzungen, aber auch zu Bedeutungswechseln führen können.

Abb. 13: TIME-Titelbilder: Osama Bin Laden (20. Mai 2011), Adolf Hitler (7. Mai 1945), Saddam Hussein (21. April 2003), Abu Musab al-Zarqawi (19. Juni 2006)


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