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4.3 Wie interpretiere ich Bilder?

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Zur Interpretation benötigen Sie Ihren Dokumentsinn (vgl. Abb. 1, S. 25), Kenntnisse über den spezifischen sozio-kulturellen Bildkontext, in dem sich politisches und soziales Handeln vollzieht sowie das auf Basis Ihrer Recherche angeeignete Wissen über die Produktionsstrukturen (Produktionsanalyse), die Gestaltungs-, Typen- und Motivgeschichte des von Ihnen zu interpretierenden Bildes (Produktanalyse) sowie ggf. Instrumente zur Ermittlung eigener Daten, wenn Sie sich auf die Interpretation der Bildrezeption konzentrieren (Wirkungsanalyse). Einen Einstieg in die Wirkungsanalyse gibt das nachfolgende Kapitel 5. Neben der Kommunikationswissenschaft sind es vor allem die Psychologie, die Kognitionswissenschaft und die Werbewirkungsforschung, die sich mit den Wirkungsaspekten von Bildern auseinandersetzen. Auch wenn hier noch Forschungsbedarf besteht, liegen mittlerweile vielversprechende Ansätze vor, die in Kapitel 5 ausführlicher behandelt werden.

Im Folgenden liegt der Schwerpunkt auf der Bildinterpretation im Rahmen von Produkt- und Produktionsanalysen. Die beiden Letztgenannten sind im Vergleich zur Wirkungsanalyse insofern voraussetzungslos, als dass zusätzlich zur Bildvorlage lediglich die üblichen Recherchemittel Internet und Bibliothek benötigt werden. Wirkungsanalysen sind hingegen meist komplexe empirische Forschungsvorhaben, die selten von einer Einzelperson durchgeführt werden können, da die Entwicklung eines Fragebogens oder eines Experiments und die Durchführung der Befragung bzw. des Experiments, sowie die Auswertung der so generierten Daten sehr arbeits-, zeit- und kostenintensiv sind. Bildwirkungsforschung findet daher oft im Team statt. Leider sind nicht alle Studien zu Bildwirkungen öffentlich zugänglich, da sie Auftragsarbeiten für die Werbewirtschaft sind.

Zudem ist die Wirkungsanalyse in gewissem Sinn abhängig von einer vorausgegangenen Produktions- und Produktanalyse.

Produkt- und Produktionsanalyse sind Voraussetzungen der Wirkungsanalyse.

Für die meisten Fragestellungen zur Wirkung von Bildern ist eine profunde Produktund Produktionsanalyse wichtige Voraussetzung. Während die Wirkungsanalyse die Adressaten und Rezipienten Visueller Kommunikation erforscht und dabei die Frage klärt, wie Bilder auf welche Personengruppe wirken, fragt die Produktanalyse nach den bildimmanenten Bedeutungspotenzialen: Was ist auf dem Bild wie dargestellt? Die Produktionsanalyse konzentriert sich auf die Bildproduzenten und den Entstehungskontext: Wann ist das Bild wie und warum entstanden? Produkt- und Produktionsanalyse stellen also eine wichtige Voraussetzung der Wirkungsanalyse dar, denn nur wenn die Bedeutungspotenziale der Bilder und ihre Funktionen ermittelt sind, kann zielgerichtet nach den Wirkungen der Bilder geforscht werden. Auch für die Erstellung von wirkungsorientierten Erhebungsinstrumenten (z. B. Fragebögen) kann eine Produktionsanalyse hilfreich sein. So lassen sich beispielsweise bei qualitativen Interviews mit den Bildproduzenten leicht der Adressatenkreis sowie die intendierten Rezeptionseffekte in der bestimmten Zielgruppe ermitteln – und dann entsprechend empirisch testen.

Praxistipp: Bildinterpretation

Klären Sie von Beginn an für sich, auf welchen Aspekt der Visuellen Kommunikationsforschung Sie sich konzentrieren möchten – Produkt-, Produktions- oder Wirkungsanalyse –, denn Ihre Schwerpunktsetzung ist ausschlaggebend für die Wahl Ihres methodischen Vorgehens.

Hüten Sie sich vor Überinterpretationen und Überfrachtungen. Nicht jedes Detail ist gleichermaßen relevant. Entscheidend ist, dass Sie bei der Interpretation die forensisch ermittelten Indizien zu einer sinnvollen, intersubjektiv nachvollziehbaren Erklärung zusammenfügen. Diese kann durchaus ambivalent sein. Erscheinen Ihnen zwei »Interpretationsfährten« relevant, dann verfolgen Sie beide und wägen Sie beide Varianten gegeneinander ab. Behalten Sie auch Gegen-Standpunkte im Blick. Die beiden der Interpretation vorangehenden Schritte, Bildbeschreibung und Bildanalyse, sind dabei wichtige Voraussetzungen, um nicht zu Kurzschlussinterpretationen zu gelangen. Bedenken Sie auch, dass Ihre eigene Bildinterpretation nicht unbedingt von anderen Rezipienten geteilt wird. Versuchen Sie daher selbstkritisch zu bewerten, wie stichhaltig Ihre eigene Beschreibung, Analyse und Interpretation ist und auf welche Quellen und »Beweise« Sie sich dabei stützen.

Die Interpretation von Grafiken, Fotografien und Tafelbildern muss sich anderer Instrumentarien und Methoden bedienen als die Interpretation bewegter Bilder. Wenn es sich zudem bei den zu analysierenden und interpretierenden Grafiken (vgl. Abb. 15, S. 56) um historisches Material handelt, liegt die Anwendung historischer bzw. kunsthistorischer Ansätze nahe.

Das Geheimnis des Stiches kann nun gelüftet werden: Es handelt sich hier um das Frontispiz zu einer philosophisch-kulturwissenschaftlichen Abhandlung aus dem 18. Jahrhundert. Der aus Neapel stammende Wissenschaftler Giovanni Battista Vico (1668–1744) stellte der dritten Auflage seines Hauptwerkes »Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker« 1744 jenes Frontispiz voran. Dabei ließ es Vico nicht bei der bloßen Illustration seines Werkes bewenden. Er verfasste vielmehr eine beinahe 30-seitige Einleitung, welche die abgebildeten Symbole detailgenau erläutert und zudem deutlich macht, wie ein Bild Informationen verdichtet. Denn in der vorangestellten Grafik sei, so der Autor, die Idee seines gesamten Werkes enthalten. Gleich zu Beginn der »Erklärung des an den Anfang gestellten Bildes, die als Einleitung in das Werk dient«, schreibt Vico (1744/1990: 3):

»So zeigen wir hier eine Tafel der politischen Verhältnisse, die dem Leser behilflich sein soll, die Idee dieses Werkes vor der Lektüre zu erfassen und sie nach der Lektüre mit Hilfe der Phantasie leichter im Gedächtnis zu behalten.«

Eine analytische Bildbeschreibung, die ausdrücklich auf Vicos Kommentar Bezug nimmt, könnte folgendermaßen lauten:

Beispiel für eine analytische Beschreibung zu Abb. 15 (Frontispiz Giambattista Vico)

Das Bild ist in zwei Teile gegliedert: Der eine Bereich ist der Visualisierung der immateriellen Dinge vorbehalten, der andere visualisiert die materiellen Aspekte des menschlichen Lebens.

Die weibliche Allegorie verkörpert die Metaphysik, die, und das ist typisch für die Denkweise des Autors, als visuelle Metapher die Bedeutung des Begriffes sprichwörtlich umsetzt, denn sie steht – über der Physis – auf der Weltkugel, die die natürliche Welt symbolisiert. Ihr Blick ist gebannt durch das Auge Gottes, der in einem Lichtstrahl seine Vorsehung auf die denkende Menschheit herabschickt. Aber nicht nur diese soll in Gestalt der Metaphysik von ihr profitieren. Auf ihrem Brustamulett trägt die Metaphysik einen konvexen Edelstein, der die Vorsehung auf die Erde reflektiert und zu poetischer Weisheit inspiriert, verkörpert durch die Statue Homers, des ersten überlieferten griechischen Dichters, am linken Bildrand. Homer blickt zu Boden, auf die Instrumente zu seinen Füßen. Der Heroldsstab steht symbolisch für die Zivilisierung des Krieges durch dessen Ankündigung und Beendigung per Friedensschluss, die Waage verkörpert politische Gleichheit in demokratischen Republiken, der Beutel stellt den Handel dar, der mit Geld geführt wird, das Schwert verkörpert ein Recht der Gewalt, das durch die Religion gebändigt wird und das römische Rutenbündel symbolisiert politische Herrschaft.

Die dahinterliegenden Symbole stehen für die menschlichen Kulturleistungen – das Alphabet als Ursprung von Sprache, den Ackerbau und die Bestattungsriten. Das Steuerruder links des Altars erinnert an die Völkerwanderung, die mit der Schifffahrt begann. Der Altar in der Mitte des Bildes trennt den dunklen Hintergrund sowohl zeitlich als auch räumlich von dem aufgeklärt-zivilisierten Vordergrund. Die dunklen Wolken werden vom Autor als dunkle Urzeit gesehen und der Wald rechts verkörpert die mythologische Wildnis, den Nemeischen Wald, in welchem Herkules, der als Sternbild auf der Weltkugel dargestellt ist, den Löwen besiegte. Nicht ohne Grund ist der Altar mit den Opferinsignien Fackel, Feuer, Wasser im Zentrum des Blattes angeordnet. Denn für den Autor nahm die politische Welt ihren Anfang mit der Religion. Mit seiner »Scienza Nuova« wollte Vico das Dunkel der Urzeit durchdringen und den Menschen vor allem als soziales Wesen begreifen. In seinen eigenen Worten bestand das Neuartige seiner Wissenschaft darin, dass die Metaphysik nicht nur auf die Natur, sondern auf die politisch-soziale Welt angewandt würde. Die Weltkugel im Bild steht nur auf einer Ecke des Altars: »da die Philosophen die göttliche Vorsehung bisher nur unter dem Gesichtspunkt der natürlichen Ordnung betrachtet haben, haben sie von ihr nur einen Teil erwiesen […]; aber sie haben ihn (den Geist, A.d.V.) noch nicht von jener Seite betrachtet, die den Menschen eigentümlicher ist, zu deren Natur als Haupteigenschaft gehört, gesellig zu sein« (Vico 1744/1990, I: 3). Weiter unten fährt Vico in seiner Bilderläuterung fort: »Überdies deutet (der Lichtstrahl, A.d.V.) an, daß die Erkenntnis Gottes nicht in der Metaphysik enden soll, damit diese sich auf private Weise mit den geistigen Dingen erleuchte und somit nur ihre eigene moralische Haltung regle, wie es bisher die Philosophen getan haben; das hätte man nämlich mit einem flachen Edelstein angezeigt. Aber er ist konvex, so daß der Lichtstrahl sich bricht und nach außen ausstrahlt, damit die Metaphysik Gott erkenne, wie seine Vorsehung die öffentlichen moralischen Verhältnisse oder die politischen Sitten bestimmt« (Vico 1744/1990, I: 6/7).

Soll das Bild jedoch nicht nur vom Motiv her entschlüsselt, sondern auch hinsichtlich seiner weitergehenden Bedeutungspotenziale und Funktionen analysiert werden, reichen Bild und Primärquellentext nicht aus. Hier muss Sekundärliteratur sowie die Motivgeschichte zu Rate gezogen und in die Interpretation miteinbezogen werden.

Beispiel für eine Interpretation von Abb. 15 (Frontispiz Giambattista Vico)

Das allegorische Titelbild wurde ursprünglich von Vico bestellt und von dem Rokoko-Künstler Domenico Antonio Vaccaro entworfen (Wessely 1989: 7). Das in Abb. 15 abgebildete Frontispiz ist die erste von mehreren Versionen des Titelbildes, das nicht erst 1744, sondern bereits der zweiten Auflage des Werkes 1730 vorangestellt wurde (Wessely 1989: 7, darin Groblewski (1987) kritisierend). Während dieser ersten, mit dem Titelbild versehenen Ausgabe ein Stich von Antonio Baldi vorangestellt wurde, zeigten die meisten der späteren Nachdrucke eher unbeholfene Kopien der Baldi-Grafik (Wessely 1989: 7).

Der Produktionsprozess des Frontispizes zeigt, wie arbeitsteilig bereits im 18. Jahrhundert die Bildproduktion verlief. Die Bildidee wurde vom Autor in Auftrag gegeben an einen Künstler, der einen Entwurf ablieferte und diesen wiederum an einen Stecher weitergab. Das gestochene Bild wurde von anderen Grafikern kopiert und dabei häufig verfremdet, so dass zwar bestimmte kompositorische Grundelemente erhalten blieben, jedoch die ursprüngliche Bildaussage davon nicht unberührt blieb und an entscheidenden Stellen Veränderungen erfuhr.

Über die intendierten Symbolbedeutungen in seiner Zeit zeigt die wechselseitige Analyse von Vicos Frontispiz und seiner Texterläuterung, dass im 18. Jahrhundert noch eine sehr viel stärkere Verschmelzung von Gedanke, Begriff und Bild vorhanden war, als dies heute der Fall ist. Wenn der Autor beispielsweise den Ursprung des Begriffes »ius«, das Recht, etymologisch bei »Ious«, dem lateinischen Namen für den Gott Jupiter sieht (Vico 1744/1990, I: 14) oder den Ursprung des lateinischen Begriffs für Stadt – »urbs« – aus dem Krummholz des Ackerpfluges – »urbum« – ableitet (Vico 1744/1990, I: 15), wird deutlich, dass der Autor den Einsatz assoziativer Logik bewusst intendierte. Das Interessante an dieser Form der Argumentation ist weniger die historische Korrektheit dieser Ableitungen als vielmehr der Ableitungsprozess an sich.

Gleich drei Probleme werden bei der Bildinterpretation offensichtlich: Zum einen geht mit der historischen Rückbetrachtung eines Bildes der Verlust des historischen Originalkontextes einher, in welchem das Bild entstanden ist. Zwar funktioniert die multimediale und multimodale Realität des 21. Jahrhunderts aufgrund einer ähnlich assoziativen Logik, die ebenso wie im 18. Jahrhundert nicht rational und manchmal nicht einmal richtig sein muss. Im besten Fall können assoziativ erzeugte Informationen und Behauptungen einen Argumentationsstrang untermauern. Im schlimmsten Fall zerstören assoziativ generierte Bedeutungen die argumentative Logik, indem sie sie mit emotionalen Werten überlagern und die rationale Diskussion unmöglich machen. Visuelle Assoziation an und für sich ist ein wertfreies Ergebnis eines Wahrnehmungs- und Verarbeitungsprozesses, kann jedoch instrumentalisiert werden – im guten wie im schlechten Sinn. Dabei wirken bestimmte Motivtraditionen auch in der Gegenwart fort und dies sowohl bewusst als auch unbewusst. Nichtsdestotrotz muss der jeweilige historische Kontext vom Forscher rekonstruiert werden, um das Bild und seine Bedeutungen zeitgeschichtlich einordnen zu können. Und dies trifft sowohl auf die Rekonstruktion des 18. Jahrhunderts als auch auf die Vergegenwärtigung weniger weit zurückliegender Ereignisse zu.

Zum anderen muss für eine adäquate Interpretation die Motivgeschichte des Bildes – dessen Ikonografie (vgl. Kapitel 8) – hinzugezogen werden. Ist das Motiv originär? Auf welche Vorbilder und Darstellungstypen bezogen sich Vaccaro und Baldi? Wo haben sie ihre künstlerische Ausbildung erfahren? Welche Stilelemente des Bildes lassen sich auf diese künstlerischen Traditionen beziehen? An was für einen Adresssatenkreis richtete sich Vicos Werk? Wie wandelte sich das Frontispiz und welche Bedeutungsänderungen sind mit der gestalterischen Veränderung des Frontispizes verbunden?

Zudem stellt sich nach Lektüre der Sekundärliteratur (z. B. Groblewski 1987; Wessely 1989) heraus, dass der abgebildete Stich (vgl. Abb. 15, S. 56) nur einen Ausschnitt darstellt und die Bildränder in der Abbildung beschnitten sind. Auf dem Originalstich, wie in der Abbildung bei Wessely (1989: 7) zumindest andeutungsweise erkennbar, sind Vaccaros und Baldis Namen am unteren Blattrand aufgedruckt. Auch die Größe des Originalblattes wäre für eine akkurate Interpretation wichtig. Diese Fragen können jedoch nur am Original geklärt werden, wozu zunächst zu recherchieren wäre, in welchen Bibliotheken Kopien der Stiche vorhanden sind. Unter Umständen ist also für eine kunsthistorische Bearbeitung auch die Reise in das entsprechende Archiv oder Museum erforderlich, um die Bildanalyse am Original sowie den Vergleich mit anderen Originalfrontispizen zu ermöglichen.

Das Problemfeld »Kopie – Original« ist in der Visuellen Kommunikationsforschung besonders akut und sollte bei jeglicher Bildanalyse und -interpretation bedacht werden. Handelt es sich bei dem vorliegenden Bildmaterial um ein Original oder um eine, möglicherweise modifizierte, Reproduktion? Im Forschungsprozess sollte diese Frage immer gleich zu Anfang gestellt und beantwortet werden. Die Frage nach dem Original ist eng verknüpft mit der Quellenkritik, die in Kapitel 6 ausführlich behandelt wird.

Übung 3

Beschreiben und analysieren Sie die Abb. 1924 auf S. 66–67. Interpretieren Sie im Anschluss das bereits beschriebene Porträt des François Mitterrand im fortgeschrittenen Alter (Abb. 18, S. 59), indem Sie die Motivgeschichte der Mitterrand-Ikonografie miteinbeziehen. Im Zentrum Ihrer Interpretation sollte die Bedeutung der politischen Gestik (vgl. Warnke/Fleckner/Ziegler 2011) stehen. Ziel dieser Übung ist es, auf eine erweiterte Interpretation hinzuzuarbeiten, bei der Bilder in ihrer Motivgeschichte analysiert und zugleich vor dem Hintergrund ihrer Produktionsgeschichte sowie des zeitgeschichtlichen Kontextes interpretiert werden. Entstehungszeitpunkt und Titel sind den Übungsbildern absichtlich beigefügt, um Ihnen Rechercheanreize und Orientierungshilfen zu bieten. Für diese Übung sollten Sie zwei Wochen Bearbeitungszeit kalkulieren.

Abb. 19: François Mitterrand am Meer – Bildvorlage für ein Plakat zu den französischen Kommunalwahlen 1977


Abb. 20: Gemälde von Alexander Gerassimov, das den Revolutionär Lenin auf der Tribüne zeigt, 1930 (Detail)


Abb. 21: Sowjetische Sonder briefmarke zum 29. Todestag von Lenin, erschienen am 26. Januar 1953


Abb. 22: Plakat »La force tranquille« der französischen Sozialisten zur Präsidentschaftswahl 1981, zweiteilig


Abb. 23: Plakat für Marschall Pétain, November 1943


Abb. 24: Plakat von Nicolas Sarkozy für den französischen Präsidentschaftswahlkampf 2012


Im Anschluss an Ihre eigene Interpretation finden Sie unter www.utb-shop.deeine beispielhafte Kurzinterpretation. Die ausführlichere Analyse und Interpretation können Sie nachlesen in: Marion G. Müller (1998). La force tranquille … Die stille Macht der Bilder. In: A. Köstler & E. Seidl (Hrsg.): Bildnis und Image. Das Portrait zwischen Intention und Rezeption. Köln, S. 327–334. Zur Funktion von Pressefotografie allgemein werden als Einstiegslektüre die Texte von Grittmann (2001, 2007) sowie von Müller, Kappas und Olk (2012) empfohlen.

Das obige Beispiel hat gezeigt, wie wichtig die Motivgeschichte für die erweiterte Interpretation ist. Darstellungstypen und Motivtraditionen helfen zudem dabei, den zeitgeschichtlichen Kontext zu rekonstruieren und Veränderungen und Übereinstimmungen festzustellen. Dabei kann, wie im gewählten Beispiel, die persönliche Ikonografie eines Politikers im Zentrum der Untersuchung stehen. Für ein Verständnis der Wirkungen von Wahlplakaten ist jedoch auch das Kontextwissen unerlässlich. Da der Wahlkampfkontext und die Bedeutung visueller Werbemittel abhängig von tagesaktuellen Ereignissen ist, wäre es eigentlich erforderlich, die untersuchten Wahlkampfmittel in ihrem Originalkontext zu erforschen. Dies setzt eine kosten- und zeitaufwendige Studie zu den Produktionsbedingungen und intendierten Botschaften voraus (vgl. Müller 1999, 2002) sowie parallel die Erforschung der tatsächlichen Wirkungen der politischen Werbemittel, etwa durch unabhängige Fokusgruppen, Befragungen sowie durch einen Test der Wahlwerbemittel und der ihnen zugeschriebenen Bedeutungen (vgl. Geise 2011a, b). Sowohl produktions- als auch rezeptionsorientierte Forschungsprojekte benötigen eine lange Vorbereitungszeit sowie ein Forschungsbudget. Dies bedeutet, dass die Projektplanung mindestens zwei bis drei Jahre vor dem Ereignis begonnen werden sollte, zumal es in der Gegenwart schwieriger geworden ist, während der heißen Wahlkampfphase wissenschaftliche Interviews mit Wahlkampfmanagern, Kandidaten und den Parteizentralen zu bekommen, da diese fürchten, jegliche Information, die sie geben, könnte ihrer Kampagne oder ihrem Kandidaten schaden. Projektanträge bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) oder anderen Institutionen der Forschungsförderung sind ebenfalls einem langwierigen und sehr kompetitiven Auswahlprozess unterworfen, dessen Ausgang ungewiss ist. Ist der Wahlkampf vorbei, dann können die meisten Daten nicht mehr nachträglich erhoben werden. Die nur zeitweise angestellten Wahlkampfmanager arbeiten an anderen Projekten, die Werbeagenturen dürfen keine Auskunft ohne Zustimmung ihres Auftraggebers geben, zumal das Projekt Wahlkampf für sie abgeschlossen ist und ihre Mitarbeiter bereits an den nächsten Kampagnen arbeiten. Frühzeitig Zugang zu den Wahlkampagnen, den beauftragten Agenturen und den politischen Entscheidungsträgern zu gewinnen, ist damit zentral, um in Zukunft die visuellen Produktions- und Rezeptionskontexte des wichtigsten demokratischen Legitimationsrituals besser zu erforschen.

Wie wichtig der Kontext zur Analyse der Bedeutungs- und Wirkungspotenziale eines Wahlplakats ist, illustriert das Plakat für den damaligen baden-württembergischen Ministerpräsidenten Stefan Mappus (vgl. Abb. 25). Die Fotografie, die das Plakat in seinem Kontext, neben einem weiteren, ebenfalls querformatigen Werbeplakat zeigt, stammt aus einem privaten Aufnahmekontext. Ein anonymer Blogger stellte das Bild als visuellen Kommentar ins Internet. Von seiner intendierten Wirkung als Wahlwerbung kann vermutet werden, dass, ähnlich der Bildstrategie Sarkozys auf Abb. 24, S. 67, der Politiker Stefan Mappus mit dem Land Baden-Württemberg gleichgesetzt werden sollte. Mappus füllt beinahe die gesamte Plakatfläche aus. Lediglich der rechte Hintergrund ist diffus Blau und davor der Name des Abgebildeten, in kleineren weißen Lettern der Vorname »Stefan« und leicht versetzt in größeren Buchstaben und in Gelb »Mappus«, dann das ebenfalls gelb unterlegte Logo der CDU Baden-Württemberg. Mappus hat seine linke Hand zur Faust geballt und legt seine rechte Hand darüber. Beide Arme sind gleichmäßig auf die Ellenbogen gestützt. Seinen Kopf legt Mappus auf beide Hände und blickt die Betrachter direkt mit einem breiten Lächeln an. Diese frontale Haltung soll vermutlich einen sympathischen, bürgerzugewandten Eindruck des regierenden Ministerpräsidenten vermitteln. Seine Haltung könnte als selbstbewusst lässig bezeichnet werden, ein Strahlemann, der auf seinen Amtsvorteil und seine Bekanntheit setzt und zuversichtlich davon ausgeht, dass ihm seine Wiederwahl sicher ist.

Ohne jegliches Kontextwissen wäre dies eine Interpretation auf der Form- bzw. Gestaltebene (vgl. Abb. 1, S. 25), die Rückschlüsse auf die intendierten Bildbedeutungen zulässt. Zum Zeitpunkt der Aufnahme war Mappus jedoch aufgrund seiner

Abb. 25: Wahlplakat des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Stefan Mappus im Kontext eines Werbeplakates für Jägermeister, 2011


Entscheidung, hart gegen die Demonstranten vorzugehen, die das Prestigeprojekt »Stuttgart 21« – den Umbau des Stuttgarter Hauptbahnhofs – verhindern wollten, bereits einer der umstrittensten Politiker Deutschlands. Im September 2010 kam es zum Einsatz von Pfefferspray gegen Demonstranten, um die Besetzung des Bahnhofs aufzulösen. Zahlreiche friedliche Demonstranten wurden bei der Aktion verletzt und das harte Vorgehen der Polizei und die Unnachgiebigkeit der Landesregierung führten zu einer großen Solidaritäts- und Protestwelle in dem konservativen Bundesland, das seit 1972 von der CDU regiert wurde. Mappus hatte vor dem Hintergrund der konservativen Grundeinstellung der Baden-Württemberger also allen Grund zuversichtlich in die Wahl zu gehen. Andererseits unterschätzte er den Bürgerprotest und im Endeffekt führten sein Führungsstil und seine unnachgiebige Haltung dazu, dass sein Image als gütiger Landesvater, das er auch auf dem Wahlplakat verkörpert, offenbar nicht mehr als passend zu seinen tatsächlichen Äußerungen und Handlungen wahrgenommen wurde. Für die Grünen, die sich mit dem Bürgerprotest solidarisierten, führte die Wahl 2011 zu einem spektakulären Zugewinn als stärkste Partei, die dann in einer grün-roten Koalition den ersten grünen Ministerpräsidenten stellte.

Aber zurück zu Abb. 25. Das Prosumer-Bild hält in einer Art Situationskomik den Verfall des Mappus-Images fest. In einer Umkehrung der intendierten Bedeutungen wird durch die Gegenüberstellung von Mappus Wahlplakat mit der Jägermeister-Werbung eine neue Bedeutung des Mappus-Porträts erzeugt. Beide querformatigen Plakate haben die gleiche Größe. Wird nun also das rechts plakatierte Bild als unmittelbarer Kontext in die Interpretation integriert, dann liest sich – von links nach rechts – der Text zur Jägermeister-Werbung wie ein Kommentar zu Mappus: »Stefan Mappus. Was für eine Flasche!«. Dabei finden mehrere Kontext- und dadurch Bedeutungsverschiebungen der beiden Plakate statt. Von der Bildproduktion betrachtet, handelt es sich um ein nutzergeneriertes digitales Bild, das in einem privaten Produktionskontext entstanden ist und dann per Internet potenziell global verbreitet wurde. Das Bild an sich ist aber auch ein politisches Statement. Während das Mappus-Plakat eindeutig in einem politisch-kommerziellen Produktionskontext des Wahlkampfes produziert wurde, ist die Jägermeister-Werbung ein kommerzielles Produkt, das aber im Zusammenklang mit dem Wahlplakat eine zweite, politische Bedeutung als Textkommentar zum baden-württembergischen Ministerpräsidenten annimmt. Über den Rezeptionskontext sagt uns das Bild allein kaum etwas. Wir wissen nicht, wer sich den Bildblog wann und wie lange angesehen hat und ob dies einen Einfluss auf die spätere Wahlentscheidung des Betrachters hatte. Hierfür hätten die oben bereits erwähnten standardisierten bzw. experimentellen Methoden in Echtzeit zur Untersuchung des Plakates angewandt werden müssen. Allerdings bleibt das Bild als Dokument zugänglich, so dass sowohl interpretative Aussagen über die Form sowie den Gestaltungskontext getroffen werden können als auch argumentativ untermauerte Vermutungen über den Produktionskontext angestellt werden können.

Mit Angela Merkels Wahl zum ersten weiblichen Bundeskanzler im November 2005 wurde auch die Frage nach der ikonografischen Geschlechterdifferenz aktuell. Wird die Bundeskanzlerin anders dargestellt als ihre männlichen Vorgänger? Gibt es Kontinuitäten, die dem Amt geschuldet sind? Gibt es Differenzen in der visuellen Darstellung Angela Merkels, die ihrem Geschlecht geschuldet sind? Merkels Vorgänger, Gerhard Schröder (SPD), zeichnete sich durch eine eigene Ikonografie aus (vgl. Müller 2003). Das Bild des Bundeskanzlers in der Presse ist jedoch ein anderes als das politisch gewünschte und intendierte Bild, das aus der SPD-Parteizentrale und von den beauftragten PR- und Werbeagenturen gern vermittelt würde. Der journalistische Bildproduktionskontext gehorcht eigenen Regeln, zu denen die Kritik der politischen Führungsfigur gehört. Ein typisches Format der journalistischen Bildkritik männlicher Politiker und Despoten (vgl. auch Abb. 83, S. 170) stellt die Entkleidung dar. So erschienen sowohl Gerhard Schröder als auch der damalige österreichische Bundeskanzler Vranitzky nackt auf den Titelseiten der Nachrichtenmagazine STERN bzw. PROFIL (Müller 2003: 99). Die Assoziation, die vermutlich geweckt werden sollte, war im Fall Schröder »Die nackte Wahrheit. Kann Schröder noch gewinnen?«. Für weitere

Abb. 26: Die Berliner CDU-Direktkandidatin Vera Lengsfeld mit ihrem Wahlplakat, August 2009


Abb. 27: Bundeskanzlerin Angela Merkel als Ehrengast bei der Eröffnung des Opernhauses in Oslo, April 2008


Interpretationen spielen herrschaftsikonografische Traditionen (vgl. Burke 1993, 1998; Köstler/Seidl 1998; Köstler 1998; Seidl 1998) eine Rolle ebenso wie die volkstümliche Erzählung »Des Kaisers neue Kleider« oder die populäre Redensart »Kleider machen Leute« (Röhrich 1992, 2: 853). Nacktheit im Kontext der Politik erzeugt einen hohen Aufmerksamkeitswert. Bei der Entkleidung prominenter Politiker kommt der Tabubruch hinzu. Die persönliche Bloßstellung wird durch die assoziierte politische Bloßstellung verstärkt.

Kanzlerin Merkel wurde bislang physisch noch nicht völlig bloßgestellt (vgl. aber Abb. 92, S. 195). Andererseits scheute sich die konservative Politikerin auch nicht, ihre Weiblichkeit zur Schau zu stellen (vgl. Abb. 27, s. o.), als sie anlässlich der feierlichen Eröffnung des norwegischen Opernhauses in Oslo 2008 tief dekolletiert erschien, im vollen Bewusstsein, dass dies von der Presse aufgegriffen würde. Besonders betont wird Merkels Ausschnitt durch eine Perlenkette. Weniger elegant wird die Pressefotografie von Reuters in der Selbstdarstellung der Berliner CDU-Direktkandidatin Vera Lengsfeld (vgl. Abb. 26, S. 71) im Jahr darauf aufgegriffen. Links ist die Reuters-Fotografie Merkels und rechts daneben Vera Lengsfeld, die ebenfalls tief blicken lässt, dabei aber die Betrachter direkt anblickt und anlächelt. Lengsfeld trägt eine große grüne Perlenkette. Der Plakatslogan spielt auf die gezielte weibliche Selbstentblößung an: »Wir haben mehr zu bieten«. Dabei ist die Plakataussage deutungsof-fen – bezieht sich das »mehr« auf die weiblichen Brüste, im Vergleich zu männlichen Politikern, zielt dies also auf die weibliche Wählerschaft ab? Zudem ist dies – zumindest aus dieser Perspektive – ein geschickter Einsatz assoziativer Logik, denn die Lokalpolitikerin vergleicht sich direkt mit der Kanzlerin, spricht die weiblichen Vorteile an, die auch Männer zu schätzen wissen und verdeutlicht einen »neuen Konservativismus«, der die CDU als Partei stärker in die Mitte rückt und eine Gleichsetzung von konservativ mit prüde ausschließt. In jedem Fall führte die »Neue Weiblichkeit« der Bundeskanzlerin auch eine neue Imagefacette hinzu.

Angela Merkels Image war lange Zeit durch ihren politischen Ziehvater Helmut Kohl geprägt – sie war zunächst »Kohls Mädchen«, später die »Ost-Mutti der Nation«. Insbesondere ihre Frisur war über lange Jahre journalistischem Gespött ausgesetzt. Dies wurde sogar in einem kommerziellen Werbeplakat für die Leihwagenfirma Sixt zum Argument für eine Spritztour mit Cabrio gemacht (vgl. Abb. 28).

Die große Zeitungsanzeige im Mai 2001 warb mit einem Doppelporträt der CDU-Vorsitzenden als Motiv. In dem aus der Diätwerbung in Frauenzeitschriften bekannten Vorher-Nachher-Format wurde für den positiven Effekt des Autofahrens mit offenem Verdeck geworben. Auf dem Vorher-Bild links wird Angela Merkel in gewohnter Sicht im Frontalporträt gezeigt mit der darunter gesetzten Frage: »Lust auf eine neue Frisur?« Das Nachher-Bild rechts zeigt Merkel nach der angeblichen Cabrio-Fahrt, mit wilder Mähne und der Empfehlung: »Mieten Sie sich ein Cabrio.«

Abb. 28: Sixt-Werbeanzeige für Cabriolets mit Angela Merkel, 2001


Zum Verständnis dieser Werbeanzeige ist das Kontextwissen unerlässlich, dass Merkels Erscheinungsbild und ihre Frisur seit dem Beginn ihrer politischen Karriere in den Medien und damit in der Öffentlichkeit thematisiert wurden. Dabei wurde von Seiten der Medien an weibliche Politiker offenbar ein anderer Maßstab angelegt als an die männlichen Kollegen. Die Empörung über die Verunglimpfung Angela Merkels kam jedoch nicht von ihr selbst, sondern wurde von der konservativen Presse, wie hier am Beispiel des HAMBURGER ABENDBLATTS, geäußert: »Darf Werbung so weit gehen? Prominent sein hat seinen Preis, da spielen Fragen des guten Geschmacks dann keine Rolle mehr. Was wird sich Angela Merkel, die [damals lediglich] CDU-Vorsitzende [und noch nicht Kanzlerin war,] wohl gedacht haben, als sie eine große deutsche Zeitung aufschlug und sich als Werbe-Objekt für Leihwagen missbraucht sah?« Vielleicht ist die Gelassenheit, mit der die Parteivorsitzende auf die Fotomontage reagierte auch der ikonografischen Anleihe geschuldet, die in dem Porträt Anwendung findet: Der das Porträt umgebende Heiligenschein erinnert an Mariendarstellungen und eine Madonna im Strahlenkranz ist kein schlechtes Motivvorbild für eine christdemokratische Politikerin.

Der Visualisierung von Politikern sowie der visuellen Ebene von Politiker-Images wird – insbesondere im Kontext Visueller Wahlkampfkommunikation sowie der Bildberichterstattung im Wahlkampf – mittlerweile mehr Aufmerksamkeit gewidmet. Vorreiter auf diesem Gebiet in Deutschland ist Hans-Mathias Kepplinger (1987, 2010) mit der Untersuchung von »Darstellungseffekten« und dem Vergleich der textuellen und der visuellen Komponenten in der Wahlwerbung (vgl. auch Kepplinger/ Maurer 2001; vgl. zur Nonverbalen Medienkommunikation Kapitel 12). Auch Jürgen Wilke hat wiederholt inhaltsanalytisch und medienhistorisch die Produktionsstrukturen von Nachrichtenbildern untersucht, auch mit Fokus auf Politikerdarstellungen (z. B. Wilke/Beuler 1998; Wilke 1999; Reinemann/Wilke 2007). Christina Holtz-Bacha hat zahlreiche Bundestags- und Europaparlamentswahlen auf ihre visuellen Strategien hin analysiert (z. B. Holtz-Bacha 2001; 2010; vgl. auch Geise 2010).

Zukunftsweisende Forschung ist auf dem Gebiet der politischen Imageanalyse in dreifacher Hinsicht zu erwarten: zum einen durch die Ergänzung klassischer empirischer Umfragetechniken mit einer visuellen Komponente (vgl. Petersen 2005), durch Weiterentwicklung spezifischer Methoden der Visuellen Kommunikationsforschung, insbesondere der Blickbewegungsmessung (Geise 2011a, b) und der Bildinhaltsanalyse (Grittmann/Lobinger 2011; Bock/Isermann/Knieper 2011; Geise/Rössler 2012, 2013; vgl. Kapitel 9 und 10) sowie auch durch eine stärkere Synthese von Fragen der Gender- und der Visuellen Kommunikationsforschung (vgl. Boomgaarden/Semetko 2007; Holtz-Bacha/König-Reiling 2007; Holtz-Bacha 2011; Geise/Kamps 2012).

Praxistipp: Kontext

Die Serie politischer Porträts sollte – wie oben ausgeführt – auf zwei wesentliche Aspekte einer gelungenen Bildinterpretation hinweisen: zum einen auf die Bedeutung der Motivgeschichte, zum anderen auf die Relevanz des Kontextbezuges.

Jedes Bildmotiv hat eine Vorgeschichte und entsteht und wirkt in einem bestimmten Kontext. Für eine umfassende Bildinterpretation ist zunächst eine exakte Bildbeschreibung (vgl. Kapitel 4.1) Voraussetzung, die dabei hilft, zwischen dem eigentlichen Bild und dem Abgebildeten zu unterscheiden. So ist für Abb. 25, S. 69 bedeutsam, dass es sich nicht um eine reine Reprofotografie des Plakates handelt, sondern um eine Situationsfotografie, die zu einer Bedeutungsumkehr der ursprünglichen Bildbotschaft des Wahlplakates führt. Gerade auch kleine Details, die nicht überinterpretiert werden sollten, können hier wichtige Anhaltspunkte liefern, auf die im Rahmen der Interpretation rekurriert werden kann. Nachdem die Bildbeschreibung erstellt ist, lohnt sich die Recherche nach ähnlichen Bildmotiven im zeitnahen und historischen Vergleich.

Den Kontextbezug ernst zu nehmen, bedeutet, dass es notwendig ist, den Produktionskontext des Bildes – im Fall von Abb. 25 sowohl den privaten, den kommerziellen als auch den politischen des Wahlplakates – und den Wirkungskontext im Wahljahr 2011 zu rekonstruieren.

Übung 4

Details, wie etwa die Perlenkette auf der Pressefotografie von Angela Merkel (vgl. Abb. 27, S. 72) können Relevanz für die Interpretation haben. Deshalb sollten Sie in Ihrer vor-ikonografischen Beschreibung (vgl. Kapitel 4.1) jegliches Detail so neutral wie möglich beschreiben.

Nun nehmen Sie sich die vor-ikonografischen Beschreibungen, die Sie von den Abb. 16 und 17 auf S. 58 angefertigt haben nochmals zur Hand und überprüfen Sie, ob Sie die wesentlichen Elemente des Ringes und der Armbanduhr erfasst haben und wenn überhaupt, welche emotionalen Reaktionen Sie an sich beobachtet haben. Beim Vergleich der beiden Übungsbilder wird Ihnen bereits auf der analytischen Ebene aufgefallen sein, dass der Ring ein weibliches, die Armbanduhr ein männliches Accessoire ist. Der Diamantring könnte Sie an die Ehe, an eine Hochzeit erinnert haben, die Armbanduhr an einen verstorbenen Verwandten. Vielleicht hatten Sie aber auch keinerlei emotionale Assoziationen oder Reaktionen hinsichtlich der beiden Schmuckstücke? Welchen Produktionskontext vermuten Sie für die beiden Bilder – einen privaten, einen kommerziellen, einen journalistischen oder einen anderen Kontext? Halten Sie schriftlich fest, warum Sie diesen Produktionskontext vermuten und keinen anderen.

Bei Ihrer folgenden Interpretation beobachten Sie, was sich für Sie sowohl von der Bildbeschreibung, der Kontextanalyse als auch von Ihrer emotionalen Reaktion den beiden Objekten gegenüber verändert, wenn Sie die kontextualisierten farbigen Fassungen im Internet betrachten. Halten Sie schriftlich fest: Wie ist Ihre emotionale Reaktion auf die beiden Objekte nach Betrachten der übrigen Fotografien und des erläuternden Textes? Wie kann der Wandel Ihrer emotionalen Reaktion erklärt werden, sprich, was hat sich konkret verändert? Ist diese Veränderung eher auf den Text oder auf die Bilder zurückzuführen? Stellen Sie sich vor, Sie würden lediglich die beiden Fotografien im Internet sehen und hätten keine zusätzliche textliche Information – wie hätte Ihre ikonografische Analyse dann vermutlich gelautet?

Diese Übung hat in etwa den Umfang einer Semesterarbeit. Sie sollten also mindestens einen Monat für die Bearbeitung einplanen, beispielsweise während der Semesterferien. Beschreiben Sie zunächst die beiden Doppelseiten des Nachrichtenmagazins STERN, alle drei Bilder, den Text und ihre jeweilige Größe und Platzierung auf den Seiten. Recherchieren Sie dann die übrigen Beiträge in dem Original. Recherchieren Sie zudem die Chronologie und die Täter-Opfer-Darstellungen in Verbindung mit dem Terrorangriff vom 11. September 2001 und die Erinnerung daran zehn Jahre später. Welche Bilder haben sich bei Ihnen eingeprägt? Welche Ereignisse und Bilder folgten als Reaktion auf 9/11?

Diese Übung eignet sich auch für eine Hausarbeit. In diesem Fall sollten Sie parallel zur vor-ikonografischen Bildbeschreibung eine eigene Forschungsfrage entwickeln. Diese kann bildspezifisch sein, etwa mit welchen visuellen Motiven wird in der STERN Onlineberichterstattung der Opfer von 9/11 gedacht? Hier hätten Sie die Bilder eindeutig auf die Onlineausgaben des STERNS bezogen und zeitlich die letzten elf Jahre und besonders die September-Ausgaben begrenzt. Sie könnten sich jedoch auch auf die emotionalen Reaktionen und die Bildwirkungen beziehen und würden damit zusätzlich zur spezifischen Fragestellung Ihrer Forschung auch ein Methodendesign für Ihre Semesterarbeit entwerfen. Verwenden Sie standardisierte oder experimentelle Methoden, so sollten Sie versuchen, Ihre Fragestellung auf eine, maximal zwei Variablen zu begrenzen, die Sie testen möchten. Zuvor wird jedoch die eingehende Lektüre des folgenden Kapitels empfohlen, das in den Rezeptions- und Wirkungskontext von Bildern und dessen Erforschung einführt.

Grundlagen der Visuellen Kommunikation

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