Читать книгу Grundlagen der Visuellen Kommunikation - Stephanie Geise - Страница 16
4 Von der Bildbeschreibung zur Bildinterpretation 4.1 Wie beschreibe ich Bilder?
ОглавлениеAls wissenschaftliches Handwerk, das von jedem Menschen erlernt werden kann, ist die Bildbeschreibung keine natürlich gegebene Fähigkeit, sondern ein komplexer Prozess, der bis zur Kunstfertigkeit gesteigert werden kann. Dabei ist die Bildbeschreibung kein Selbstzweck, sondern ein Schritt auf dem Weg zur Bildinterpretation. Der Kunsthistoriker und Begründer der ikonografisch-ikonologischen Methode, Erwin Panofsky (1892–1968), widmete dem »Problem der Beschreibung und Inhaltsdeutung von Werken der bildenden Kunst« bereits 1932 einen vielbeachteten und noch immer aktuellen Aufsatz. Darin schlägt er für die Bedeutungsanalyse von Kunstwerken ein Dreischrittschema vor, beginnend mit der Beschreibung, gefolgt von der Bedeutungsanalyse (vgl. Kapitel 4.2) und abgerundet durch die Interpretation (vgl. Kapitel 4.3). Diese Trennung in drei Ebenen ist idealtypisch, denn in der Praxis gibt es oft Überschneidungen zwischen den Beschreibungs-, Analyse- und Interpretationselementen. In Panofskys Worten (1932/1987: 187) wird jede »Deskription […] – gewissermaßen noch ehe sie überhaupt anfängt – die rein formalen Darstellungsfaktoren bereits zu Symbolen von etwas Dargestelltem umgedeutet haben müssen; und damit wächst sie bereits, sie mag es machen wie sie will, aus einer rein formalen Sphäre schon in eine Sinnregion hinauf.«
Hier wird auch deutlich, dass es bei Bildbeschreibung, Bilddeutung und Bildinterpretation um eine interpretative Sinnentschlüsselung von Bildkommunikation geht. Bilder werden als Kommunikate vom Visuellen Kommunikationsforscher analysiert, um Erkenntnisse über den Kommunikationsprozess sowie die kommunizierten Bildbedeutungspotenziale zu gewinnen. Ausgehend von einer theoretischen Fundierung führt der Weg über die Arbeit am Bild und seinen Vorbildern über die Bildbeschreibung und Bedeutungsentschlüsselung zu dessen Interpretation. Dabei ist die Bildanalyse aber keine Einbahnstraße. Bilder enthalten grundsätzlich viele potenzielle Bedeutungs- und Sinnschichten. Die Komplexität dieser Sinnesebenen spiegelt sich in Panofskys Dreischrittschema wider, das auf der folgenden Abb. 14 auf die Bildinterpretation allgemein und nicht nur auf die Interpretation von Kunstwerken angewandt wird.
Die in diesem Kapitel gestellte Frage »Wie beschreibe ich Bilder?« bezieht sich auf die erste Sinnesebene, d. h. auf den Phänomensinn. Als Handwerkszeug basiert diese auf der »vitalen Daseinserfahrung«, die jedoch in der Gestaltungsgeschichte – das bedeutet in Vergleichen mit ähnlichen Motiven und Darstellungsstilen – ihr Korrektiv findet. Denn das Ziel einer wissenschaftlichen Bildbeschreibung ist keine subjektive Deskription des Forschers, sondern eine objektivierbare, für Dritte nachvollziehbare Beschreibung des visuellen Kommunikats. Anders als bei der künstlerischen Bildproduktion, bei der sich die Künstlerin ganz ihrem subjektiven Ausdruckswillen hingeben kann, zielt die Visuelle Kommunikationsforschung auf Bildbeschreibungen, die jenseits eines subjektiven Gefallens oder Missfallens auch Anderen den Inhalt des Bildes und dessen potenzielle Bedeutungen vermitteln können. Dabei setzt die »rein phänomenale Beschreibung […] nun wirklich nichts weiter voraus, als dass wir uns das Bild gut ansehen und es auf Vorstellungen beziehen, die uns aus der Erfahrung geläufig sind« (Panofsky 1932/1987: 190). Für den Einstieg in die Bildbeschreibung ist diese Einsicht motivierend. Was aber heißt, sich das Bild »gut anzusehen«?
Abb. 14: Sinnebenen der Bildinterpretation
Praxistipp: Bildbeschreibung
Notieren Sie Ihre ersten Bildeindrücke noch bevor Sie mit der Bildbeschreibung beginnen. Die Spontanbeschreibung kann ein hilfreiches Korrektiv bei der späteren Bedeutungsentschlüsselung sein, aber auch bei der Interpretation, wenn Sie das Bild schon so verinnerlicht haben, dass das zunächst Neue oder Ungewöhnliche aus dem Blick geraten ist.
Während Sie in der Spontanbeschreibung jedes Detail und jeden Eindruck notieren sollten, ist für die eigentliche Bildbeschreibung nicht jedes Detail gleichermaßen relevant. Konzentrieren Sie sich auf das Wesentliche: Format, Motiv, Komposition, Technik und Qualität. Auch die Blick- und Aufmerksamkeitslenkung sowie die Größenverhältnisse des Dargestellten können in die Beschreibung einbezogen werden.
Sparen Sie sich langwierige Beschreibungen, was Sie tun. Dies gehört, wenn gefordert, in die Einleitung zu Ihrer Hausarbeit. Steigen Sie gleich in die Bildbeschreibung ein. Seien Sie vorsichtig bei der Benutzung von »rechts« und »links«. Wenn es sich bei dem Bild um eine zweidimensionale Fläche handelt, benutzen Sie Richtungsangaben aus Ihrer Perspektive. Wenn Sie allerdings Körperteile beschreiben, dann benutzen Sie die bildimmanente Perspektive der abgebildeten Person und nicht diejenige des Betrachters. Bei Bildpräsentationen vor einem Publikum sollten Sie Seitenzuweisungen – mit Ausnahme von Körperbeschreibungen, wie beispielsweise »ihre linke Hand, sein rechtes Ohr« –immer aus der Sicht des Publikums schildern. Und bedenken Sie bei der Präsentation: Beschreiben Sie nur etwas, das Sie Ihrem Publikum auch zeigen – Bildbeschreibungen ohne die Möglichkeit der eigenen Anschauung sind nicht nur langweilig, sondern meistens auch unsinnig!
Der häufigste Fehler bei der Bildbeschreibung ist die Überinterpretation. Achten Sie daher auf eine sorgfältige Trennung der Beschreibung des Bildinhalts von dessen Interpretation und Bewertung. Versuchen Sie in der Beschreibung so exakt wie möglich zu sein und bei der Begriffswahl so vorzugehen, dass das Beschriebene deutungsoffen bleibt, denn noch befinden Sie sich auf dem Weg zur Bildanalyse und -interpretation. Zentral für eine umfassende Bildbeschreibung sind Format, Technik, Farbigkeit und Qualität des Bildes.
An dem folgenden Beispiel soll die Beschreibung eines Bildes veranschaulicht werden. Zur Interpretation vgl. Kapitel 4.3.
Bildbeschreibung zu Abb. 15
Der hochformatige Stich zeigt zwei menschliche Figuren vor einem Himmel als Hintergrund. Die Bildkomposition ist durch dynamische Diagonalen und einen bildimmanenten Perspektiven- und Schattenwechsel geprägt. In der linken oberen Bildecke ist ein Auge im Dreieck dargestellt, das durch eine Sonnenaureole umgeben ist. Aus dem Auge entspringt ein Lichtstrahl, der auf das Brustamulett einer geflügelten Figur gerichtet ist, die in Richtung des himmlischen Auges blickt. Die weibliche Figur ist in weite, wallende Gewänder gehüllt und trägt zwei Flügel auf dem Kopf. Ihre bloßen Arme ragen unter dem Gewand hervor und sind zur Seite ausgebreitet, während ihr linker Fuß auf einer großen Kugel steht, die mit einem figurenverzierten Band geschmückt ist. Der aus dem Himmel kommende Lichtstrahl wird durch das Brustamulett der weiblichen Figur gebrochen und strahlt von rechts oben nach links unten auf eine ebenfalls stehende männliche Figur auf einem steinernen Sockel. Auch diese statuenhafte Figur ist mit einem weiten Umhang bekleidet, wobei die Beine jedoch nackt sind. Der dargestellte Mann ist bärtig. Er hält den Kopf leicht gesenkt und blickt auf den Boden. Dort liegen mehrere an die Antike erinnernde Symbole: links ein Flügelhelm, ein Schlangenstab, eine Waage, ein Geldsäckchen, Fasces mit Axt sowie ein Dolch oder Schwert. Rechts dahinter ist ein liegender kannelierter Säulenschaft und darauf eine Schrifttafel mit den beiden Aufschriften »ABK« und »ABC« zu sehen.
Dahinter sind zwei eigentümliche Gerätschaften abgebildet. Links und leicht verdeckt durch die männliche Statue, lehnt ein Pflug oder ein Ruder. Bei dem Stab direkt hinter der ABC-Tafel könnte es sich um einen Anker handeln. Am rechten Bildrand, vor angedeuteten Bäumstämmen im Hintergrund, steht auf einem eckigen Sockel ein bauchiges Gefäß mit spitz zulaufendem Deckel. Das Zentrum des Bildes wird durch einen altarähnlichen Steinquader eingenommen, auf dem ein Füllhorn mit dampfender Substanz, ein weiteres kleines Gefäß sowie flackerndes Feuer dargestellt sind. Unmittelbar dahinter türmen sich dunkle Wolken auf, die den mittleren Bildgrund beherrschen. Lediglich die linke obere Ecke mit dem himmlischen Auge ist heller gestaltet.
Abb. 15: Frontispiz zu Giovanni Battista Vico, »Principi di una scienza nuova d’intorno alla communa natura delle nazioni«
So oder ähnlich könnte die idealtypische Beschreibung von Abb. 15 lauten, die zugegebenermaßen den Beschreibenden einigen Zwang antut, besonders wenn die abgebildeten Personen bereits erkannt wurden. Allerdings ist gerade diese bewusste Form der Neutralisierung des eigenen Blicks eine gute Schule, verhindert sie doch allzu voreilige Schlussfolgerungen und Wertungen des Dargestellten. Dabei sollte nicht vergessen werden, dass die Bildbeschreibung der erste Schritt auf dem Weg zur Interpretation ist. Bildbeschreibung ist durchaus mit der ersten Auswertung von wichtigen Hinweisen in einem Kriminalfall vergleichbar. Werden relevante Details bei der visuellen »Spurensicherung« (Ginzburg 1988) übersehen oder fehlerhaft bezeichnet, kann dies leicht auf eine falsche Fährte führen.
Bildbeschreibung ist eine forensische Methode.
Der italienische Historiker Carlo Ginzburg (1988) verglich in einem seiner Artikel des noch immer lesenswerten Bändchens »Spurensicherung. Über verborgene Geschichte, Kunst und soziales Gedächtnis« die Vorgehensweise des Bildinterpretierens mit der Methode eines Sherlock Holmes. Tatsächlich birgt die Bildgestaltung visuelle Indizien zur Beantwortung einer größeren Frage oder zur Lösung eines Problems. Zugleich verfolgt der Bildforschende, beinahe detektivisch und kaum weniger akribisch, eine bestimmte, meist aus der Theorie abgeleitete, These über die Bedeutungen, Funktionen und Wirkungspotenziale der analysierten Bilder. Diese Thesen zu erhärten oder sie zu widerlegen ist Aufgabe der Bildinterpretation, die jedoch nur nach ausgiebiger Bildanalyse erfolgen kann. Dieser zweite Schritt, der nicht ohne die Kenntnis schriftlicher Quellen sowie der Bildtypengeschichte möglich ist, wird im folgenden Kapitel behandelt. Zuvor sollten Sie jedoch noch an zwei weiteren Beispielen den ersten Schritt, die vor-ikonografische Beschreibung, üben.
Übung 1
Dieses Mal handelt es sich nicht um abgebildete Personen, sondern um Objekte, die in zwei fotografischen Darstellungen vorliegen. Bitte gehen Sie folgendermaßen vor: Zunächst notieren Sie sich auf einem separaten Blatt (oder in einem neuangelegten Word-Dokument) Ihre spontanen ersten Eindrücke und mögliche spontane Assoziationen und/oder emotionale Reaktionen. Decken Sie mit weißen Blättern den Umgebungstext des Bildes, das Sie beschreiben, ab. Nun versuchen Sie möglichst neutral, und möglichst präzise Abb. 16 zu beschreiben. Dann wiederholen Sie das Prozedere mit Abb. 17.
Nachdem Sie beide Bildbeschreibungen fertiggestellt haben, folgt die Vorbereitung auf die ikonografische Analyse: Vergleichen Sie Abb. 16 mit Abb. 17 und Ihre beiden vor-ikonografischen Beschreibungen. Was ist den beiden Bildern gemein, worin unterscheiden sich die beiden Übungsbilder? Notieren Sie zum Schluss, ob Sie irgendwelche emotionalen Assoziationen und Reaktionen auf eines der beiden oder auf beide Bilder haben. Dies können ganz persönliche Assoziationen sein, weil sie der dargestellte Gegenstand an eine bestimmte Person erinnert. Es ist genauso möglich, dass Sie beide Übungsbilder in keiner Weise ansprechen. Wichtig ist lediglich, dass Sie notieren, was Sie bei der Betrachtung und Beschreibung der beiden Bilder empfunden haben. In Kapitel 4.3 werden wir dann auf Ihre Beschreibungen zurückkommen.
Abb. 16: Ring
Abb. 17: Armbanduhr