Читать книгу TAG DER ABRECHNUNG (Shadow Warriors 2) - Stephen England - Страница 10
Kapitel 3
Оглавление08:26 Uhr
CIA-Hauptquartier
Langley, Virginia
Als sie die Tiefgarage erreichten, blieben ihnen nach Harrys Uhr noch fünf Minuten.
Fünf Minuten, bevor die Agency bemerken würde, dass etwas nicht stimmte. Fünf Minuten, bevor man den Komplex abriegeln würde.
So, wie er die Männer und Frauen kannte, mit denen er zusammenarbeitete, wunderte es ihn fast ein wenig, dass diese nicht schon früher begonnen hatte. Die Kollegen, mit denen er früher zusammengearbeitet hatte, korrigierte er sich in Gedanken, während er die Tür zur Tiefgarage aufstieß.
»Wir können meinen Wagen nehmen«, schlug sie vor, während sie ihm folgte. In ihrer Stimme lag noch immer eine Spur von Anspannung, aber sie hielt sich überraschend gut.
Er warf einen kurzen Blick über die Schulter. »Verfügt Ihr Auto über ein eingebautes GPS?«
»Ja, das tut es …« Er hörte, wie sie sich mitten im Satz selbst unterbrach, als der Hackerin in ihr die Bedeutung ihrer Worte dämmerte.
»Wir nehmen meinen Wagen«, antwortete er leise. Die Hände in den Jackentaschen, dabei den Griff seiner Waffe umfassend, lief Harry durch die Tiefgarage voraus, bis er vor einem nichtssagenden 1993er Oldsmobile Cutlass Ciera stehen blieb.
»Ist das Ihr Wagen?«, fragte Carol, die bereits zur Beifahrerseite herumlief.
Harry nickte, hob jedoch warnend die Hand. Eigentlich sollte die Tiefgarage sicher sein, wobei die Betonung auf eigentlich lag. Er war noch nie in sein Auto eingestiegen, ohne es vorher nach Sprengstoffen untersucht zu haben, und machte auch dieses Mal keine Ausnahme. Auch wenn die Zeit drängte.
Die ganze Eile würde ihnen nicht viel nützen, wenn sich unter dem Fahrgestell eine Bombe verbarg.
08:35 Uhr
NCS-Einsatzzentrale
»In Ordnung, Ethan, ich kümmere mich sofort darum.« Daniel Lasker legte das Handy auf den Tisch zurück und warf Carter einen verzweifelten Blick zu.
»Keine Ahnung, seit wann ich Teil des Security Directorate bin.«
»Was ist los?«
»Unten in der Vernehmung sind die Überwachungskameras ausgefallen und sie wollten wissen, ob ich das von hier aus beheben kann«, seufzte Lasker. »Als ob die nicht selbst jemanden da runterschicken könnten.«
Mit einem erschöpften Grinsen im Gesicht sah Ron von seinem Arbeitsplatz auf. »Das kommt davon, wenn man hier erst einmal den Ruf eines Technik-Nerds weg hat.«
»Nein«, antwortete Lasker und tippte einen Befehl in seinen Computer. »Das kommt davon, wenn man was mit seiner Schwester am Laufen hat. Ethan bittet mich ständig um Gefallen, seit er uns miteinander bekannt gemacht hat.«
»Ist sie’s wert?«
Laskers Mundwinkel zuckten. »Ein Gentleman genießt und schweigt, Ron.«
»Gentleman … was hat das mit dir zu tun?«
Der Jüngere der beiden fing an zu lachen, wollte schon etwas entgegnen. Dann erwachten die Bildschirme auf seinem Arbeitsplatz zum Leben und das Gelächter erstarb. »Was zur Hölle?«
Auf den Ausruf des Kommunikationschefs hin stieß sich Carter von seinem Platz ab und ließ seinen Bürostuhl über den glatten Fliesenboden der Einsatzzentrale neben Lasker rollen.
Das Problem war gar nicht, was die Überwachungskamera ihnen zeigte, sondern vielmehr das, was sie nicht zeigte. Im Korridor vor Raum A-13 war kein Wachposten mehr zu sehen. Wie ausgestorben.
Auch das Umschalten der Kamera auf das Innere des Vernehmungszimmers offenbarte nichts weiter außer dem Gewebe eines Jacketts, das jemand über die Kameralinse geworfen hatte.
Ohne zu zögern griff Carter nach dem Telefon. »Ich brauche die Sicherheit in Vernehmungsraum A-13. SOFORT. Riegeln Sie das Gebäude ab.«
08:36 Uhr
Das gehörte zur Standardvorgehensweise, das wusste er. Trotzdem schien es ihm, als ob der Wachmann sich dieses Mal ungewöhnlich viel Zeit dafür nahm, ihre Ausweise zu studieren.
Die Pistole unter Harrys Jacke schien bereits unruhig zu werden. Er wollte keinen befreundeten Agenten erschießen, aber seine Wünsche waren zweitrangig. Die Mission hatte Priorität.
»Scheint alles in Ordnung zu sein, Sir«, erklärte der Wachmann schließlich und griff neben sich nach einem Schalter, um die Schranke zu öffnen.
Harry warf Carol ein knappes Lächeln zu und fuhr langsam an.
»Wie viel Zeit geben Sie ihnen?«, fragte sie mit einem Blick aus dem Fenster.
»Nicht viel. Der Alarm ist wahrscheinlich schon ausgelöst worden. Wenn wir das Gelände erst einmal hinter uns gelassen haben, befinden wir uns außerhalb ihrer Zuständigkeit, weshalb sie dann die örtlichen Polizeikräfte mobilisieren müssten. Noch eine Verzögerung. Also vielleicht zehn, fünfzehn Minuten.«
Carol drehte sich zu ihm und er sah die Entschlossenheit ihres Vaters in ihren Augen aufblitzen. »Und Sie sind sicher, dass sie sich davon aufhalten lassen werden?«
»Ihren Vater wahrscheinlich nicht«, antwortete Harry leise, »aber jetzt hat Shapiro das Sagen. Und Shapiro hält sich genau an die Vorschriften. Er wird einen Fahndungsaufruf herausgeben und die Verantwortung an andere übergeben.«
Carol schwieg für einen Moment. »Haben Sie einen Plan?«
»Zumindest die Idee für einen Plan. Öffnen Sie das Handschuhfach und holen Sie heraus, was Sie darin finden.«
Sie zögerte, und er konnte spüren, wie sie ihn ansah. Er tippte auf die Bremse und setzte den Blinker, als sie sich dem Highway näherten. Am sichersten würden sie sein, wenn sie im Verkehr Richtung Westen untertauchen konnten. Eine Verfolgungsjagd gewann man nur im Film. Und dies war ganz gewiss nicht Hollywood.
Er hörte, wie sie das Handschuhfach öffnete, und warf einen kurzen Blick auf Carol, die eine Halbautomatik in einem Holster herausholte.
»Das ist eine Kahr PM-45«, erläuterte er ohne Umschweife. »Eine halbautomatische Schlagbolzenpistole. Verschießt .45 ACP-Munition, fünf Schuss. Wissen Sie, wie man so was benutzt?«
»Ja«, antwortete sie mit einer Spur von Verwirrung in der Stimme. »Mit zwanzig habe ich fünf Monate auf der Thunder Ranch verbracht.«
Das waren gute Nachrichten, dachte er, während er in den Rückspiegel sah und die Information verarbeitete.
Die Thunder Ranch gehörte zu den besten Schulen für Waffentraining im Land und Clint Smiths Ausbilder waren alles andere als Bürohengste. Sie konzentrierten sich auf die reale Welt. Trotzdem …
Soweit er es beurteilen konnte, war ihnen noch niemand gefolgt. Er erspähte eine Lücke, wechselte die Spur und beschleunigte, bis ein Sattelschlepper sie verbarg. »Schon mal jemanden umgebracht?«, fragte er rundheraus und sah sie an, um ihre Reaktion darauf zu studieren.
Doch diese blieb aus. Carol sah einfach nur auf die Pistole in ihren Händen hinunter und schüttelte den Kopf.
»Dann beten Sie zu Gott, dass Sie es niemals tun müssen.«
08:45 Uhr
Annapolis, Maryland
Hundert Meter vom Jachthafen von Annapolis entfernt schien die Meeresluft gleich merklich kühler geworden zu sein. Ein Frösteln lief durch Sergei Korsakovs Körper. Das konnte nicht sein.
»Nein«, rief er grob in das verschlüsselte Satellitentelefon, das er sich an sein Ohr presste. »Das ist unmöglich.«
»Glauben Sie mir, so lautet der Bericht auf meinem Tisch. Sie haben ihn verfehlt.«
»Die lügen«, spie Korsakov aus und schob noch ein paar russische Flüche hinterher. Erneut schloss er die Augen und stellte sich noch einmal die Szene vor, wie er sie durch die Windschutzscheibe des Durango verfolgt hatte. Die feurige Explosion, das Metall, das wie Schrapnelle durch die winterliche Luft peitschte. Diese Operation war seit Wochen geplant worden, alles war bis ins kleinste Detail vorbereitet gewesen. Und außerdem hatte er zugesehen …
»Das würden sie nicht tun, Sergei«, antwortete die Stimme gelassen und selbstsicher. »Nicht mir gegenüber. Und das wissen Sie.«
Da hatte der Mann recht. Der ehemalige Speznas-Söldner fluchte noch einmal leise in sich hinein und blickte vorsichtig die Straße entlang. »Wieso rufen Sie mich an?«
»Ich denke, das wissen Sie.«
Und auch das stimmte. Korsakov räusperte sich. »Ich bin nicht sicher, ob Sie die Tragweite des Problems begreifen. Wenn das, was Sie mir erzählen, wahr ist – dann ist unser Freund verschwunden. Und ich werde keine weitere Chance mehr bekommen, an ihn heranzukommen. Nicht, wenn das Bureau nach mir sucht. Meine Männer und ich müssen sofort das Land verlassen.«
»Sie suchen nicht nach Ihnen, Sergei«, antwortete die Stimme. »Und wenn Sie wollen, dass das so bleibt, sollten Sie mir jetzt sehr genau zuhören …«
Zorn flackerte in den dunklen Augen des Russen auf. Er wartete einen kurzen Moment lang, spürte, wie der Wind an seinem Mantelsaum zerrte. Dann leckte er sich über die trockenen Lippen und sagte: »Reden Sie weiter.«
08:50 Uhr
NCS-Einsatzzentrale
Langley, Virginia
»Würde mir irgendjemand mal erklären, was genau hier vor sich geht?«, bellte Kranemeyer, der wie eine Sturmböe in die Einsatzzentrale fegte. Für einen Mann mit nur einem Bein bot er noch immer einen recht eindrucksvollen Auftritt.
»Wir haben die Meldung vor fünf Minuten an die örtlichen Polizeikräfte herausgegeben«, antwortete Carter, der kurz von seinem Computer aufsah. »Laut den Berichten der Perimetersicherheit hat Nichols vor dreizehn Minuten den äußeren Checkpoint passiert.«
»Und Carol war bei ihm?«, erkundigte sich Kranemeyer und sein Blick verfinsterte sich dabei.
»Ja.«
Der DCS fluchte. »Wovon sollen wir ausgehen – dass er sie entführt hat?«
»Wir haben drei Wachmänner auf der Krankenstation liegen. Sie wurden mit einem Taser überwältigt und gefesselt. Kameraaufnahmen aus der Tiefgarage zeigen, wie sie mit ihm zusammen in ein Auto stieg, aber wer weiß, vielleicht hat er sie mit gezogener Waffe gezwungen.«
»Was ist mit ihrem Handy?«, fragte Kranemeyer. »Es muss eine Möglichkeit geben, sie aufzuspüren.«
»Ihr Handy ging offline, kurz nachdem sie das Gelände verließen«, erwiderte Daniel Lasker, der weiter konzentriert auf seine Bildschirme starrte. »Ich habe einen Hinweis auf ihren letzten bekannten Aufenthaltsort. Fünfhundert Meter außerhalb des Geländes. Unsere einzige Spur ist der Wagen. Nichols fuhr seinen Cutlass.«
Der DCS quittierte die Information mit einem weiteren Fluch und schüttelte den Kopf. »Das ist nicht gut. Er wird den Wagen bei der erstbesten Gelegenheit loswerden. Das ist Standardvorgehensweise.«
In diesem Moment begann das Telefon in Kranemeyers Tasche zu klingeln. Laskers Gehirn konnte den Klingelton noch als »Wanted Dead or Alive« von Jon Bon Jovi erkennen, bevor der DCS auf eigentümliche Art rot anlief.
»Das ist er«, zischte Kranemeyer kaum hörbar und deutete mit seinem langen und dicken Zeigefinger in Carters Richtung. »Hängen Sie sich dran.«
Es läutete viermal, dann nahm er den Anruf entgegen. »Kranemeyer hier.«
»Freefall«, meldete sich eine bekannte Stimme, gefolgt von einem lauten Knacken. Dann starrte der DCS auf sein Telefon hinunter. Die Leitung war tot.
»Haben wir was?«, fragte er mit einem scharfen Blick hinüber zu Carter.
»Nein«, lautete die Antwort des Analysten. »Dafür dauerte es nicht lange genug. Was bedeutet Freefall?«
»Das ist ein Notfall-Codewort der Agency«, erwiderte Kranemeyer, der nun seltsam blass wirkte.
Danny Lasker tippte etwas in seine Konsole, dann sah er zu seinem Boss auf. »Wieso habe ich noch nie davon gehört?«, fragte er sichtlich verwirrt.
»Das war vor Ihrer Zeit«, erwiderte Kranemeyer, der sich ein grimmiges Lächeln abrang. »Es stammt aus Tagen des alten Directorate of Operations. Ich war damals noch bei der Delta, auf einer Geheimmission der Agency im Westjordanland. David Lay leitete die Operation als Station Chief von Tel Aviv und Nichols war die Agency-Ausgabe der Bodentruppen vor Ort. Er war damals fast noch ein Kind, sein zweites Jahr im Einsatz.«
»Was will er uns dann damit sagen?«, warf ein völlig ratloser Ron Carter ein.
Der DCS schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Ahnung.«
08:57 Uhr
Der Highway
»Was sollte das bedeuten?«, erkundigte sich Carol, als Harry ihr das TACSAT zurückgab.
»Nehmen Sie das Gehäuse an der Rückseite ab und entfernen Sie die SIM-Karte«, wies er sie an und ignorierte die Frage. »Wir müssen die Karte und den Wagen loswerden.«
»Wie?«
Er deutete zu einer WAWA-Tankstelle und betätigte den Blinker. »Halten Sie sich bereit.«
Berufsverkehr. An der Tankstelle herrschte in den frühen Morgenstunden reges Treiben. Harry steuerte den Cutlass in eine der wenigen leeren Parklücken. »Verstecken Sie die Pistole unter Ihrer Jacke«, wies er Carol an. »Und bleiben Sie nah bei mir.«
Die eisige Morgenluft raubte Harry beinahe den Atem, als er seine Beine aus dem Auto schwang. Er gab Carol mit einer Geste zu verstehen, ihm zu folgen, dann schritt er über den Parkplatz zu den Fahrzeugen, die direkt vor der WAWA parkten.
Während er sich dem Gebäude näherte, suchte er den Rand der Dachverkleidung nach Sicherheitskameras ab. Auf den ersten Blick schien die Tankstelle keine zu besitzen. Wahrscheinlich gab es nur eine in der Tankstelle, um mögliche Raubüberfälle aufzuzeichnen.
Das machte die Sache leichter. Drei Wagen neben dem Eingang erspähte er einen älteren Chevy Impala, der im Leerlauf vor sich hintuckerte und Abgase aus dem Auspuff spuckte.
Ein grimmiges Lächeln huschte über Harrys Gesicht. Er hatte noch nie verstehen können, wieso Leute ihr Auto laufen ließen, während sie in den Laden gingen, um sich einen Kaffee zu holen. »Wir nehmen den hier«, erklärte er und zog die Tür auf.
»Sie wollen ein Auto stehlen?« Fassungslos starrte Carol ihn an. Der Blick eines Menschen, der noch nie im Einsatz gewesen war.
»Ja«, antwortete er, nahm ihren Arm und schob sie durch die geöffnete Tür des Impala. »Natürlich.«
08:18 Uhr Ortszeit
Die Gulfstream IV
Über Louisiana
»Ein Anruf für Sie, Mr. Richards.« Der Texaner sah von seinem Sudoku auf und erblickte die männliche CIA-Ausgabe einer Stewardess vor sich: um die vierzig, übergewichtig, mit beginnender Glatze. Wortlos nahm ihm Tex das Telefon ab. »Richards.«
»Hier spricht Thomas. Hör zu, wir haben ein Problem.« So viel verriet bereits seine Stimme, dachte Tex. Das war nicht der gute alte Parker, nicht seine ruhige, gelassene Ausgeglichenheit, die ihn zu einem der besten Scharfschützen des Geheimdienstes gemacht hatte. Dieser Thomas Parker hörte sich verwirrt und nervös an. Aufgewühlt.
»Ich höre.«
»EAGLE SIX ist abtrünnig geworden.«
»Was weißt du darüber?«, erkundigte sich Tex mit einem Blick auf die geschlossene Cockpittür. »Aber denke daran, das ist keine abhörsichere Verbindung.«
»Ich weiß, ich weiß. Er hat Carol Chambers aus der Vernehmung entführt und es von dem Gelände heruntergeschafft, bevor der Alarm ausgelöst wurde.«
»Das ergibt keinen Sinn«, erwiderte Tex, der in Gedanken bereits die Möglichkeiten durchspielte. »Wo befindet er sich jetzt?«
»Das wissen wir nicht. Die Polizei hat seinen Wagen an einer Tankstelle gefunden, etwa sechzehn Kilometer westlich von Langley – zusammen mit einer sehr verzweifelten alleinerziehenden Mutter, die einen Wagendiebstahl melden wollte.«
»Standardvorgehensweise, Thomas«, folgerte Tex. Die Frage aber lautete: Wieso? »Sechzehn Kilometer westlich, sagtest du?«
»Ja«, antwortete Thomas. »Denkst du dasselbe wie ich?«
»Wahrscheinlich. Unternimm nichts, bevor ich angekommen bin. Versuche Kranemeyer dazu zu bringen, mich von dir in Dulles abholen zu lassen. Auf die Weise können wir die Passagierlisten umgehen.«
»Verstanden. Bis dann.«
Von seinem Wortschwall sichtlich erschöpft tippte Tex auf die Taste, um das Gespräch zu beenden, und legte das Telefon neben sich auf den Sitz. Draußen vor dem Fenster trieben die Wolken an dem schnellen Businessflugzeug vorüber, luftig und weiß. Friedlich. Was ist in dich gefahren, Harry?
09:22 Uhr Ortszeit
Ein Wal-Mart
Manassas, Virginia
Für einen Mann, der in den Achtzigerjahren in Russland aufgewachsen war, stellte ein Wal-Mart noch immer ein Bild beinahe unermesslichen Reichtums dar.
Und doch schien es niemand zu würdigen. So waren sie, diese Amerikaner. Pavel Nevaschkin seufzte schwer, als er nach dem Motorradhelm griff, der vom Lenker der Honda baumelte. Der Dezemberwind war kalt, selbst durch die dicke Wollfütterung seiner Lederjacke hindurch. Aber längst nicht so kalt wie in Tschetschenien. Nichts konnte je so kalt sein.
Damals, als das neue Millennium vor der Tür stand und nichts als weitere gewaltsame Tode verhieß, diente er in der Alfa Group. Das waren üble Zeiten gewesen. Selbst als Speznas verdiente man nicht genug, um solche Risiken einzugehen.
Pavel überprüfte ein letztes Mal seine Satteltaschen und stellte sicher, dass die Glock 21 einsatzbereit war. Eine Kugel steckte bereits in der Kammer, zwei weitere volle Magazine in der Tasche daneben.
Alles war bereit. Er warf seinem Partner, einem Moskauer Schützen, den er nur als Grigori kannte, einen flüchtigen Blick zu. »Du kennst den Plan?«
Der Mann lächelte und offenbarte dabei eine Reihe abgebrochener, rissiger Zähne, die beispielgebend für die Qualität osteuropäischer Zahnmedizin waren. »Natürlich – den Mann umbringen und das Mädchen schnappen. Sollte nicht so schwer sein, da?«
Pavel zuckte mit den Schultern. »Da. Halte dich einfach an den Plan. Sergei meinte, dass sie etwa sechzehn Kilometer vor uns sind, also sollten wir sie rechtzeitig einholen.«
Dann brüllte der Motor seines Motorrades auf und übertönte jede weitere Unterhaltung. Pavel schwang sein Bein über den vibrierenden Sattel und winkte Grigori zu, sich hinter ihn zu setzen. Dieser Job sollte in weniger als einer Stunde über die Bühne gegangen sein.
08:31 Uhr Ortszeit
Dearborn, Michigan
Das Haus war das dreizehnte auf Nasir Khalidis Route. Ganz sicher seine Unglückszahl. Als der Müllwagen bremste, sprang er herunter und eilte über den festgefahrenen Schnee auf die Mülltonnen zu.
Es war die dritte Tonne. Immer war es die Dritte. Er blies sich auf seine kalten Hände und sah zu, wie der mechanische Arm den Inhalt der Tonne in die Presse am hinteren Ende des Müllfahrzeugs kippte. So schlimm die Kälte auch war – im Sommer war der Job noch unerträglicher. Denn dann begann der Müll zu stinken.
Als die Tonne wieder herabgesenkt wurde, zog Nasir den Reißverschluss seiner Jacke auf. Er zitterte, denn ein kalter Windhauch kam die Straße zwischen den mehrgeschossigen Gebäuden auf beiden Seiten hinuntergeweht, die eine Art Windtunnel bildeten.
Hier war alles so anders als im Libanon, aus dem er stammte. Nachdem er sich mit einem Blick in beide Richtungen davon überzeugt hatte, dass ihn niemand beobachtete, griff Nasir in die Innentasche seiner Jacke und zog einen DIN-A5-großen Briefumschlag hervor. Nach einem weiteren verstohlenen Blick auf die umstehenden Gebäude ließ er ihn in die Tonne fallen und schob sie an den Bürgersteig zurück.
Ja, es gab wirklich üblere Jobs als Müllfahrer. Er musste es wissen, denn er hatte einen davon.
In einem Zimmer in einem der heruntergekommenen Mietshäuser nahm ein Mann seinen Blick von der Reihe von Monitoren, die an der Wand befestigt waren und auf denen er Nasir Khalidi mit einer unauffällig drapierten Kamera beobachtet hatte. Er spulte die Aufnahme zurück, ließ sie noch einmal in Zeitlupe ablaufen und sah zu, wie der gelbe Umschlag in die Untiefen der grauen Mülltonne fiel. Ein Lächeln breitete sich langsam auf seinem Gesicht aus und er griff nach dem Telefon auf dem Tisch vor ihm, direkt neben seiner Beretta. »Status bestätigt«, meldete er, nachdem sein Gespräch angenommen worden war. »Die Übergabe ist erfolgt.«
09:47 Uhr Ortszeit
Der Impala
Virginia
Schweigen. Harry warf Carol einen verstohlenen Blick zu, während der Wagen nach Süden preschte. Sie hatte kein Wort gesprochen, seit sie das Fahrzeug an der Tankstelle gewechselt hatten. Saß einfach nur da und starrte neben ihm aus dem Fenster. Eine kalte blonde Statue.
Er seufzte und beobachtete die Nadel der Tankanzeige dabei, wie sie bei jeder Bodenwelle zitterte. Sie hatten noch etwa einen Vierteltank, und das sollte bis zu ihrem Ziel reichen.
»Ihnen gefallen meine Methoden nicht, stimmt’s?«, fragte er schließlich, um das Schweigen zu brechen.
Sie ließ sich Zeit, aber dann sah sie ihn an. Er konnte noch immer das Gefühl des Verlustes in ihren Augen sehen, aber auch eine unerwartete Feindseligkeit. »Diebstahl, meinen Sie? Nein.«
»Was dachten Sie denn, womit ich mir meinen Lebensunterhalt verdiene?«, fragte Harry. »Ich breche das Gesetz. Darauf hat man mich trainiert.«
»Aber nicht die Gesetze unseres Landes«, antwortete sie mit einer gewissen Schärfe. »Wir wissen beide, dass dort die Grenze gezogen wird. Das ist das Erste, was sie einem auf der Farm beibringen.«
»Und wie so vieles, was sie einem dort beibringen, wird es sofort irrelevant, sobald man die dortigen vier Wände verlässt.« Harry kniff die Augen zusammen und spähte in den Rückspiegel. Die Trainingseinrichtung der CIA im Camp Peary – oder die Farm, wie sie genannt wurde – war gut, aber es gab so viele Dinge, die man einfach nicht theoretisch lehren konnte.
Da war ein Motorrad hinter zwei Fahrzeugen, während sie durch die Kleinstadt fuhren. »Sobald Sie aber das erste Mal zum Personenschutz eingeteilt werden, stellen Sie fest, dass das Leben sehr viel simpler ist und es nur eine Regel gibt, die wirklich eine Rolle spielt: Schützen Sie diese Person und tun Sie alles, was nötig ist, damit sie überlebt.«
Carol sah ihn von der Seite an. »Es hat uns doch noch nicht einmal etwas genützt. Wir haben einfach nur ein gestohlenes Auto gegen ein anderes eingetauscht.«
»Nicht ganz«, entgegnete Harry, ohne den Blick vom Rückspiegel abzuwenden. »Ich habe uns etwas Zeit verschafft und außerdem einen Wagen, bei dem wir sicher sein können, dass er nicht verwanzt ist. Dafür konnte ich bei meinem nicht mehr garantieren. Zumindest nicht in der kurzen Zeit.«
»Wie lange folgt uns dieses Motorrad schon?«, fragte sie und wechselte abrupt das Thema.
Sehr gut. Sie hatte also noch nicht alles aus ihrem Agententraining auf der Farm vergessen, dachte Harry und beschleunigte, um einen langsam dahinrollenden Lastwagen zu überholen. Schreibtischhengste taten das nicht selten. »Schon zu lange.«
Auf dem Motorrad saßen zwei Personen. Unwillkürlich musste er an einen Einsatz damals in Italien zurückdenken, nur ein paar Jahre her. Anderes Klima, andere Zeit, aber der gleiche Anblick. Nach Jahren politischer Attentate hatte die italienische Regierung schließlich Motorräder mit mehr als einer Person verboten.
Nicht, dass sich die tunesischen Attentäter von diesem Gesetz hätten abhalten lassen, als sie die Wagenkolonne des amerikanischen Botschafters überfielen – und James Holbrook, der Chief of Station der CIA, dabei ebenfalls ins Kreuzfeuer geriet. Aber das spielte jetzt keine Rolle. Denn das hier war nicht Italien.
Der Abstand zwischen ihnen hatte sich inzwischen verringert. »Die Polizei?«, fragte Carol, deren Stimme wie von weit her zu ihm drang.
Er schüttelte den Kopf und konzentrierte sich auf die aktuelle Bedrohung. »Nein, das sind keine Cops. Und für Verfolger fahren sie viel zu aggressiv.«
»Wieso folgen Sie uns dann?« Ihr Tonfall verriet ihm, dass sie die Antwort auf die Frage bereits ahnte.
»Hat man schon mal auf Sie geschossen?«, fragte er und drängelte sich an einem Sattelschlepper vorbei. Der Drang, einfach das Gaspedal durchzutreten, nagte an ihm, aber er kämpfte gegen den Impuls an. Noch nicht.
»Nein.«
Harry sah, wie sie in ihrer Handtasche nach der Kahr griff. Sie war blass geworden, aber er erkannte auch einen Funken Entschlossenheit in ihren Augen, als sich ihre Hand um die Halbautomatik schloss. Die Tochter ihres Vaters eben.
Der kalte Wind zerrte an Pavel Nevaschkins Körper, als dieser sich tief über sein Motorrad beugte und die Maschine immer mehr beschleunigte. Ihr Ziel war nun auf der Flucht. Man hatte sie bemerkt. Jetzt ging es nur noch darum, zuzuschlagen.
Er hörte das Kreischen der Luftdruckbremsen, als er vor dem Sattelschlepper einscherte und seine Beute verfolgte. Auf so viele Arten war ihre Aufgabe durch den Fakt erleichtert worden, dass ihr Ziel nun einen gestohlenen Wagen fuhr. Sein eigenes Fahrzeug hätte möglicherweise über eine Panzerung verfügt. Doch das ließ sich jetzt ausschließen.
Pavel nahm eine Hand vom Lenker, streckte sie hinter sich und tippte seinem Partner auf dessen Knie. Halt dich bereit.
Harry warf einen weiteren verstohlenen Blick in den Rückspiegel. Das Motorrad kam nun schnell näher, da bestand kein Zweifel mehr. Das waren keine Cops. Und sie waren auch nicht losgeschickt worden, um Carol nur zu beschatten. Das war ein Killerkommando. »Stecken Sie die weg«, wies er Carol an und deutete auf die Kahr in ihrer Hand.
Anders, als in vielen Filmen gezeigt, war der Versuch, auf einen kampferfahrenen Motorradfahrer zu schießen, eher eine Frage von Glück als von Talent.
Und sie hatten keine Zeit, nur auf ihr Glück zu hoffen. Nicht jetzt.
Nun tauchte das Motorrad im Seitenspiegel auf der Fahrerseite auf, brachte sich auf einen geeigneten Winkel heran, um von der Seite auf sie zu schießen. Auf ihn.
War er das Ziel? Er grübelte einen Moment lang darüber nach, aber dann verwarf er die Frage. Es spielte keine Rolle. Nicht jetzt.
Noch hatten die Attentäter das Feuer nicht eröffnet. Und das bereitete ihm weitaus größere Sorgen. Denn es bedeutete, dass diese Kerle Profis waren.
Er zog den Wagen auf den Mittelstreifen und schoss im Handumdrehen über zwei Fahrspuren hinweg. Harry zuckte kurz zusammen, als hinter ihm ein Auto auf die Bremsen stieg und beinahe im selben Augenblick ein SUV von hinten auf ihn auffuhr.
Nichts spielt eine Rolle. Nichts, außer dem Überleben der zu schützenden Person.
Das Motorrad kam näher, nun noch schneller, bahnte sich seinen Weg durch das Chaos hinter ihnen, doch er fuhr jetzt dicht am Mittelstreifen entlang und seine linke Flanke war somit gesichert. Die Suzuki war auf Geschwindigkeit ausgelegt, aber nicht fürs Gelände.
»Gehen Sie in Deckung«, befahl er, ohne seine Augen von der Straße zu nehmen, »und machen Sie sich bereit.«
Jetzt, da der Impala am Rand des Mittelstreifens immer mehr an Tempo gewann, konnte sich das Tötungskommando ihnen nur noch von Carols Seite aus nähern. Hohlmantelgeschosse würden die Plastikkarosse des Wagens zwar mühelos durchdringen können, aber wenn sie blindlings auf sie hätten schießen wollen, hätten sie das bereits getan.
Manchmal ließ sich selbst die Professionalität eines Gegners gegen ihn verwenden.
»Sie werden jetzt an Ihrer Seite auftauchen«, erklärte er langsam und ruhig. Keine Situation war so ernst, als das man sie mit mangelhafter Kommunikation nicht noch hätte schlimmer machen können. »Und sie werden auf uns schießen.«
Carol, die im Fußraum kauerte, nickte. Ihre Lippen waren zu einem dünnen, blutleeren Strich zusammengepresst. »Auf mein Signal hin müssen Sie Ihre Tür aufstoßen, so stark und schnell Sie nur können. Schaffen Sie das?«
Wieder ein Nicken. Man musste ihr hoch anrechnen, dass sie ihn nicht nach einer Erklärung fragte. Dafür blieb keine Zeit.
Ein Fluch brach durch Pavels Lippen, als der Wagen vor ihm dicht an den Mittelstreifen heranfuhr und ihn damit zwang, abzubremsen, um nicht mit ihm zusammenzustoßen. Auch wollte er es nicht riskieren, Zeit zu verlieren, wenn er mit der Suzuki auf den Grasstreifen wechselte.
Also blieb ihnen nur noch eine Möglichkeit; die Beifahrerseite. Zweimal tippte er auf Grigoris Knie. Es geht los.
Er konnte nicht hören, wie die Glock hinter ihm aus der Satteltasche gezogen wurde, aber er wusste, dass sie da war, in der Hand seines Partners.
Da. Der Mann, den sie umbringen sollten, saß hinter dem Steuer, immer noch relativ aufrecht in seinem Sitz. Die Frau war nirgendwo zu sehen, war aber zweifellos in Deckung gegangen.
Pavel drehte die Maschine auf und brachte sich auf eine Höhe mit dem Impala. Der Moment war gekommen, es zu Ende zu bringen.
Das Brüllen der Glock dröhnte Harry fast zeitgleich wie das Geräusch zersplitternden Glases in den Ohren. Er hörte, wie die Kugel an seinem Ohr vorbeisauste und neben seinem Kopf durch das Seitenfenster wieder austrat.
Die Zeit schien stehenzubleiben, als er einen letzten, prüfenden Blick nach rechts warf. Alles, was er sah, war die kalte, schwarze Mündung einer Glock, die ihn anstarrte.
»Jetzt!«
Pavel versuchte die Maschine ruhig zu halten, und fuhr noch näher an den Impala heran, damit sein Partner besser zielen konnte, als plötzlich die Tür der Limousine aufflog und gegen sein linkes Knie krachte.
Der Lenker der Maschine wurde herumgerissen und das Motorrad kam vom Kurs ab, drohte das Gleichgewicht zu verlieren. Beinahe blind vor Schmerzen versuchte der Ex-Speznas-Söldner wieder die Kontrolle über das Motorrad zu gewinnen, während dieses über zwei Fahrspuren hinweg schlingerte. Er sah den SUV gerade noch rechtzeitig, um zu schreien …
»Alles okay?«, fragte Harry und sah zu Carol hinunter, die noch immer den Türgriff umklammert hielt. Am Rand des Mittelstreifens brachte er den Impala zum Stehen.
Sie nickte und schien von dem, was sich eben ereignet hatte, noch ganz benommen zu sein. Er schnallte sich ab und streckte ihr die Hand entgegen. »Kommen Sie, kommen Sie, wir müssen weiter.«
Der Chevy Tahoe, der das Motorrad der Attentäter gerammt hatte, war am Straßenrand stehengeblieben. Der Verkehr begann sich zurückzustauen. Mit einem Blick zurück, um sicherzugehen, dass Carol ihm folgte, schritt Harry zielgerichtet über den Highway, auf mögliche weitere Gefahren gefasst. Die Colt befand sich in seiner rechten Hand, schussbereit.
Die Fahrerin des Tahoe, eine dickliche Frau mittleren Alters, war bereits aus dem Wagen gestiegen und schluchzte hysterisch in ihr Telefon.
»… die kamen einfach aus dem Nichts. Ich hatte überhaupt keine Zeit, um zu … du lieber Gott, vielleicht sind sie tot.«
»Ma’am«, begann Harry, der um die Vorderseite des Tahoe lief. »Ich muss Sie bitten, aufzulegen.«
Beim Anblick der Pistole, die er fest umklammert hielt, bekam sie große Augen und begann mit der Dame der Notrufleitstelle am anderen Ende zu sprechen. Mit einer geschmeidigen Bewegung riss Harry ihr das Handy aus der Hand und warf es über die Straße.
»Was tun Sie da?«, hörte er Carol fragen, aber er ignorierte sie und konzentrierte sich auf die verängstigte Frau vor ihm. Sie war allein, wie ihm klar wurde, als er die Sitze in dem SUV absuchte.
»Ma’am, ich bin FBI-Agent« fuhr Harry fort und klappte seine Brieftasche auf. Der CIA-Ausweis war weitaus weniger protzig als eine FBI-Plakette, doch das fiel den wenigsten Leuten auf. »Ich brauche Ihren Wagen.«
»Was geht hier vor?«, fragte sie, eine Hand auf ihren Mund gepresst. Sie wich vor ihm zurück und ihre Angst stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben. »Wer sind diese Leute?«
»Vertrauen Sie mir einfach, wenn ich Ihnen sage, dass Sie das nicht wissen wollen. Die Schlüssel?«
Sie ließ einen ängstlichen Blick zwischen seinem und Carols Gesicht hin und her huschen. »Sie stecken im Zündschloss.«
»Gut. Sie können mit den Rettungsdiensten mitfahren, wenn diese hier eintreffen. Bis dahin treten Sie bitte zurück.« Er deutete auf Carol. »Und Sie steigen ein.«
»Wo fahren wir hin?«, hörte er sie fragen. Harry zog einen dünnen Metallzylinder aus seiner Jackentasche und schraubte ihn auf das Mündungsgewinde seiner Colt. »Wir haben noch etwas zu erledigen.«
09:02 Uhr Ortszeit
Dan Ryan Expressway
Chicago, Illinois
Zu den Dingen, an die man sich in Amerika am schwersten gewöhnen konnte, gehörte, dass die Polizei hier tatsächlich einen ausreichenden Grund benötigte, um jemanden anzuhalten.
Tarik Abdul Muhammad faltete seine Hände und starrte von dem Rücksitz des SUV aus angestrengt auf den vorbeiziehenden dichten Verkehr hinaus. Um ihnen einen solchen Grund nicht zu geben, hatte er einen örtlichen Fahrer angefordert.
Selbst ein Schwarzer war für diese Aufgabe besser geeignet als die Männer, die er über die amerikanisch-mexikanische Grenze gebracht hatte. Obwohl es sich bei ihnen um erbitterte Kämpfer handelte, die bereit waren, für Allah ihr Leben zu lassen, sahen seine Pakistanis das Fahren von Autos als ultimativen Test ihrer Männlichkeit an. Ein Wettstreit, bei dem alle Mittel erlaubt waren.
In Peschawar mochte dies zu ihrem Vorteil gewesen sein, in einer eher zivilisierten Umgebung wie den Vereinigten Staaten hingegen hätten sie jedoch keine fünf Minuten überlebt.
Amerika. Er lehnte sich in seinem Sitz zurück und die Erinnerungen strömten auf ihn ein. Dem Land am nächsten gekommen war er bislang in Kuba. Die imperialistische Militärbasis mit Blick auf die Bucht von Guantanamo. Der Blick durch den Maschendrahtzaun.
Er beugte sich nach vorn und tippte dem Schwarzen auf die Schulter. »Wie lange noch, bis wir Dearborn erreichen?«
Sein Englisch hatte er auf diesem trostlosen Felsen in Kuba gelernt. Es war gut, wenn auch nicht fließend.
»Hey Mann, das hängt ganz allein vom Verkehr ab«, antwortete der schwarze Mann. »Sie wollen heute Nachmittag in der Moschee sein, nicht wahr?«
Tarik nickte. »Das wäre ideal.«
»Dann bringe ich Sie dahin, Bruder.«
Bruder? Tarik konzentrierte sich wieder auf den Verkehr draußen vor dem Fenster. Vielleicht …
10:03 Uhr
Der Highway
Virginia
Der Schütze war tot, sein Genick bei der Wucht des Aufpralls gebrochen. Wahrscheinlich hatte er davon nicht einmal etwas gespürt.
Harry erhob sich von der Stelle, wo der Attentäter wie eine kaputte Puppe auf dem Asphalt lag, und wendete sich dessen Partner zu.
Der Fahrer war von der Suzuki katapultiert worden und lag beinahe vier Meter entfernt. Er stöhnte, sein Helm war zur Hälfte abgerissen worden und ließ ein eindeutig slawisches Gesicht darunter erkennen. Sein rechtes Bein war unterhalb des Knies verdreht und stand in einem rechten Winkel von seinem Körper ab.
»Wer hat dich geschickt?«, fragte Harry auf Russisch und ließ sich neben dem Fahrer auf eines seiner Knie sinken.
Der Husten des Mannes war die einzige Antwort. Blut spritzte auf die Straße. Trotz funkelte in seinen Augen. Harry seufzte und sah sich um. Der Verkehr kam zum Erliegen. In wenigen Minuten würde die Polizei eintreffen.
Und auch er war jetzt ein gesuchter Mann. Nach einem kurzen Moment griff er nach unten, übte Druck auf das verletzte Bein des Russen aus und drehte es zur Seite.
»Ich will einen Namen«, flüsterte Harry, seine Lippen nur wenige Zentimeter von dem Ohr des mit dem Gesicht nach unten liegenden Mannes entfernt. »Nur ein Name und der Schmerz wird aufhören.«
Schweiß rann dem Russen übers Gesicht, kleine Tropfen, die in der kalten Winterluft gefroren. Sein Gesicht war schmerzverzerrt, aber er gab keinen Laut von sich, biss die Zähne zusammen.
»Ein Name, das ist alles. Wer hat dich geschickt, mich umzubringen?«
Immer noch Schweigen. Nicht einmal ein Stöhnen drang über die Lippen des Fahrers. Ein weiterer Moment verging, dann ließ Harry das Bein los und stand auf.
»Wie du willst«, erklärte er und überprüfte noch einmal die Kammer seiner 1911, als wolle er sich überzeugen, ob sie geladen sei. »Du kannst Sergei Ivanovich eine Nachricht von mir überbringen.«
Und dann sah er es, genau in jenem letzten Moment, bevor er den Schalldämpfer seiner Colt zwischen die Augen des Russen presste und den Abzug drückte. Die Erkenntnis. Die Einsicht, dass er umsonst gestorben war.
Korsakov stand hinter diesem Anschlag.
10:06 Uhr
CIA-Hauptquartier
Langley, Virginia
»Wir bringen Einsatztrupps in Stellung – alles, was wir dafür noch brauchen, ist Ihre Unterschrift für die Autorisierung«, erklärte Kranemeyer und legte einen Aktenordner auf Shapiros Schreibtisch.
Der DD(I) setzte seine Brille auf, öffnete das Dossier und überprüfte die Akten. »Dafür braucht es nicht nur meine Unterschrift, Barney. Eine Operation dieser Größenordnung bedarf der grenzüberschreitenden Ermächtigung des Präsidenten.«
»Ich kenne die Standardvorgehensweise, Direktor«, antwortete Kranemeyer und beugte sich soweit nach vorn, bis seine Handflächen auf der glatten Glasfläche von Shapiros Schreibtisch ruhten. »Es bleibt jedoch der Umstand, dass der Präsident gerade zu einem G-8-Treffen in Paris weilt. Sein Augenmerk gilt derzeitig der unsicheren finanziellen Lage der EU und der jüngsten Debatte im Hinblick auf seine Wahlkampagne vor dem Supreme Court.«
»Worauf wollen Sie hinaus, Barney?«
Kranemeyer stieß ein langes Seufzen aus. »Mein Punkt ist, dass uns nur wenige Stunden zum Handeln bleiben, sollte der DCIA kompromittiert worden sein. Der Präsident wird nicht schnell genug eine Entscheidung fällen, nicht bei all dem, was noch auf seinem Tisch liegt.«
Shapiro schien über das Argument für einen Moment nachzudenken, dann schloss er das Dossier. »Ich überlege es mir, Barney. In fünf Minuten habe ich eine Telefonkonferenz mit Direktor Haskel und dem Bureau. Wollen Sie mich begleiten?«
10:07 Uhr
Der Highway
Virginia
»Sie haben ihn umgebracht.« Das war eher eine Feststellung als eine Frage, aber in ihrer Stimme lag auch Zweifel.
Harry sah zu ihr hinüber und ihre Blicke trafen sich. Carols Gesicht war aschfahl und ihre Augen betrachteten ihn, als würden sie ihn zum ersten Mal ansehen.
»Sie hätten nicht zusehen sollen«, antwortete er und widmete seine Aufmerksamkeit wieder der Straße, während der Tahoe weiter in Richtung Culpeper dahinjagte. »Das ist nie besonders nett.«
»Nett?«, fragte sie ungläubig mit zitternder Stimme. »Wie konnten Sie so kaltherzig werden? Mein Gott, Harry … Sie haben ihm das Hirn rausgepustet!«
»Das ist im Moment nicht wichtig«, erwiderte er knapp. Er durfte sich nicht erlaufen, darüber nachzudenken. Zu viele Variablen waren noch im Spiel.
»Was zählt, ist, dass sie uns gefunden haben«, fuhr er fort, ohne ihr genügend Zeit zu geben, darüber nachzudenken. »Die waren viel zu schnell an uns dran. Besitzen Sie irgendetwas, dass Sie regelmäßig bei sich tragen?«
Seine Frage schien Carol aus ihren Gedanken zu reißen. »Was?«
»Schuhe, eine Handtasche – irgendetwas, dass Sie bei sich tragen, worüber man uns orten konnte.«
Erst jetzt verstand sie, worauf er hinauswollte. »Ich … ich bin nicht sicher.«
»Denken Sie nach«, drängte Harry. »Zehn zu Eins, dass Sie einen Tracker bei sich haben.«
Er sah zu ihr hinüber und musterte sie von oben bis unten. »Diese Ohrringe kommen mir bekannt vor.«
»Sie gehörten meiner Mutter«, antwortete sie abwehrend.
»Und Sie tragen sie sicher beinahe jeden Tag, oder?«
10:12 Uhr
CIA-Hauptquartier
Langley, Virginia
In dem Telefonkonferenzzimmer war es nicht übermäßig warm, wurde Kranemeyer bewusst, als er an einer Seite des Tisches Platz nahm. Präsident Hancock hatte noch nicht in der guten alten Tradition von Jimmy Carter auf die wirtschaftliche Lage reagiert, indem er einen Pullover trug, von den restlichen Regierungsangestellten schien man es aber zu erwarten.
»Director Haskel«, begann Michael Shapiro und eröffnete damit die Konferenz. »Ich befinde mich hier im Beisein des Direktors des Clandestine Service, Bernard Kranemeyer, sowie dessen leitendem Analysten, Ron Carter. Fahren Sie doch fort.«
»Danke, Mike«, antwortete Eric Haskel über die Videoverbindung. »Ich bin sicher, die Herren sind alle schwer beschäftigt, also will ich Sie nicht lange aufhalten. Kurz gesagt haben wir den Fahrer des Wagens identifizieren können, der heute Morgen gegen Director Lays SUV krachte, und unsere Untersuchungsergebnisse schließen eine Verbindung mit der russischen Mafia aus, wie sie von unseren Leuten zuerst vermutet wurde.«
Ein Archivfoto erschien auf dem Bildschirm, während der FBI-Direktor weiter ausführte: »Michael Fedorenko, eingebürgerter US-Staatsangehöriger, vormals Mikhail Fedorenko aus der UdSSR. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion kam er im Alter von vierzig Jahren in dieses Land. Als ehemaliger Sprengstoffexperte der Roten Armee verdiente sich Fedorenko Ende der Neunziger ein ansehnliches Vermögen im Baugewerbe, hauptsächlich mit privaten Bauvorhaben im nördlichen Virginia.«
Auf dem Bildschirm erschienen weitere Daten, hauptsächlich Finanzberichte. »Dann schlug 2008 die Finanzkrise zu und seine Baufirma ging den Bach runter. Ohne Arbeit und knapp bei Kasse schien Fedorenko zunehmend desillusioniert zu werden, was dieses Land angeht. Im Frühjahr 2009 schloss er sich einer TEA-Party-Gruppierung in Alexandria an und startete den erfolglosen Versuch, Bezirksleiter zu werden.«
Shapiro nickte. »Und wie brachte es dieser Mann vom TEA-Party-Kandidaten zum Bombenattentäter?«
»Wir untersuchen noch die Verbindungen«, antwortete Haskel mit fester Stimme. »Zudem überprüfen wir mögliche Verbindungen zwischen Fedorenko und Ihrem flüchtigen Agenten. Im Moment wissen wir folgendes.« Weitere Bilder erschienen auf dem Bildschirm. Dieses Mal zeigten sie ein SWAT-Team während eines Einsatzes. »Vor dreißig Minuten autorisierte ich ein SWAT-Team, Fedorenkos Farm außerhalb von Manassas durchsuchen zu lassen. Die Farm war verlassen, aber in der Scheune entdeckten sie Sprengkapseln, Dynamit und dreihundert Pfund Ammoniumnitrat.«
Shapiro blinzelte und rückte seine Brille zurecht, während er wieder auf den Bildschirm sah. »Irgendwelche elektronischen Aufzeichnungen?«
In diesem Moment brachte eine eintreffende Textnachricht Ron Carters Handy mit einem nervigen Geklimper zum Klingeln.
Kranemeyer warf ihm einen mürrischen und missbilligenden Blick zu.
»Negativ«, antwortete Haskel, der die Störung nicht bemerkt zu haben schien. »Ausgehend von seiner Verbindung zu TEA-Party schien Fedorenko von der Idee besessen gewesen zu sein, von der Bildfläche verschwinden zu können. Offenbar besaß er nicht einmal ein Handy.«
»Außer jenem, das verwendet wurde, um die Bombe zu zünden«, warf Kranemeyer dazwischen.
»Das ist korrekt, wahrscheinlich hat er es nur für diesen Zweck erworben. Es scheint sich bei der ganzen Sache um eine kleinere Operation zu handeln, und ich bin optimistisch, dass wir, vorausgesetzt, er ist noch am Leben, sowohl Lay als auch seine Tochter sehr schnell wiederfinden werden.«
Carter sah von seinem Telefon auf. »Ich weiß nicht, ob ich Ihren Optimismus teilen kann, Direktor. Ich wurde soeben von einer Quelle darüber informiert, dass vor zehn Minuten die State Trooper in Virginia zu einem Doppelmord auf der Route 211 in der Nähe von Warrenton gerufen wurden. Bei beiden Opfern scheint es sich um Russen zu handeln. Vielleicht sollten wir die Verbindungen zur Mafiya noch nicht ganz ausschließen.«
10:31 Uhr
Culpeper, Virginia
Harry mochte Farmen schon immer. Ländliche, abgelegene Orte. Ein Minimum an Menschen, dafür ein Maximum an Fernsicht. Weniger Menschen, die dumme Fragen stellen konnten, und weniger Kollateralschäden, falls etwas schieflief.
Der einzige Nachteil war, dass sich hier jeder kannte.
Aus diesem Grund befand sich das Safehouse auch weit abseits der Straße, am Ende einer langen Auffahrt, die von achtzigjährigen Kiefern abgeschirmt wurde.
Harry stieß die Tür auf und stieg aus dem im Leerlauf befindlichen Tahoe. Seine Augen suchten das umliegende Gelände ab, während er zu dem Briefkasten lief, der neben dem Eingang der Auffahrt stand.
Der Briefkasten war leer. Was zu erwarten war – sie hatten nie eine Zeitung abonniert. Er strich mit seiner Hand über die Seite des Briefkastens, dann stieg er in den SUV zurück.
»Was sollte das mit der Kreide?«, hörte er Carol fragen. Er setzte ein grimmiges Lächeln auf und sah noch einmal zu der dünnen gelben Kreidelinie zurück, die quer über die Seite des Briefkastens verlief. Sie mochte noch nie im Außeneinsatz gewesen sein, aber ihr entging nur sehr wenig.
»Das ist für den Verwalter«, erklärte er und legte einen Gang ein. »Damit er weiß, dass er nicht nach dem Rechten sehen muss.«
Die Perlenohrringe lagen auf dem Armaturenbrett, von dem Griff an Harrys Colt in tausend Stücke zertrümmert. Der GPS-Tracker, der sich im linken Ohrring befunden hatte, war weiter gen Süden unterwegs, in der Satteltasche einer Harley-Davidson, in der Harry ihn bei einem Zwischenstopp an einer Tankstelle entsorgt hatte.
Der Biker hatte so ausgesehen, als könne er ganz gut auf sich selbst aufpassen.
»Tut mir leid, dass ich sie zerstören musste«, sagte Harry sanft, als der SUV der Auffahrt folgte.
Sie sah ihn nicht an. »Das muss es nicht«, antwortete sie erzwungen ruhig. »Es gab keinen anderen Weg. Manchmal müssen eben selbst Erinnerungen dran glauben …«
10:39 Uhr
CIA-Hauptquartier
Langley, Virginia
Freefall. Der DCS schloss die Tür zu seinem Büro und sann noch einmal über Nichols‘ letzte Worte nach.
Sie enthielten eine Botschaft, da war er sicher. Entgegen seiner Aussage gegenüber Carter und Lasker handelte es sich bei Freefall um mehr als nur einen Notfallcode. Dieser Code war benutzt worden.
Ein Phantomschmerz schoss durch Kranemeyers nicht mehr vorhandenes rechtes Bein, als er zu seinem Tisch humpelte.
Ein Foto stand auf seinem Tisch, das ihn beim 5.000-km-Lauf in Chesapeake zeigte. Ein Wohltätigkeitsrennen, keine neun Monate zuvor. Ja, vor neun Monaten. Bevor seine Welt von einem abtrünnigen Agenten auf den Kopf gestellt worden war.
Der DCS biss vor Schmerz die Zähne zusammen und ließ sich in seinen Bürostuhl sinken. Heute hätte er keine fünf Kilometer mehr rennen können, um sein Leben zu retten.
Das wahrscheinlich Schlimmste daran, einen Verräter wie Hamid Zakiri in den eigenen Reihen aufzuspüren, war, dass man irgendwann anfing, an jeder Ecke Verräter zu wittern. Paranoia gehörte zum Rüstzeug für jeden anständigen Spion –- der Trick dabei war jedoch, es damit nicht zu übertreiben. Was höllisch schwer war.
Kranemeyer begrub das Gesicht in seinen Händen und versuchte sich zu erinnern. Da war etwas, eine flüchtige Erinnerung aus seiner Vergangenheit. Aber Nichols war kein Verräter.
Er zog das Handy aus seiner Tasche und sah für einen Moment nachdenklich darauf hinab, bevor er eine Nummer wählte.
»Marcia«, begann er, als sein Anruf entgegengenommen wurde, »besorgen Sie mir doch bitte ein Dossier aus dem Archiv. Ich brauche alles, was wir über eine geheime CIA-Operation im Westjordanland von 2000 haben. Operation RUMBLEWAY, um genau zu sein. Ja, Marcia, die Unterlagen sind streng geheim. Deshalb frage ich Sie …«
10:41 Uhr
Das Safehouse
Culpeper, Virginia
»Sehen Sie es dem Innenarchitekten nach.« Harry, der in der Eingangshalle des Safehouses stand, deutete auf die ausgeblichenen Tapeten und die Farbe, die sich von den Wänden löste. »Wir haben nicht viele Gäste.«
Carol schüttelte den Kopf. Das Safehouse war ein kleines Farmhaus, gebaut in einem Stil, der auf die Fünfzigerjahre zurückging. Was wahrscheinlich auch das letzte Mal gewesen war, dass man es renoviert hatte.
»Wem gehört das hier?«, fragte sie und sah sich um. »Langley?«
Harry räusperte sich. »Nicht wirklich. Tatsächlich gehört es uns.«
»Ihrem Einsatzteam?«
»Ja«, antwortete er und öffnete auf dem Weg in den angrenzenden Raum den Reißverschluss seiner Jacke. Die Colt ließ er im Holster, nur wenige Zentimeter von seinen Fingern entfernt. »Wir sind gerade erst eingezogen, um genau zu sein … wir mussten das Safehouse wechseln, nachdem … nun, nach der Sache mit Zakiri.«
Selbst jetzt fühlte er noch, wie sich seine Brust schmerzhaft bei der bloßen Erwähnung des Namens zusammenzog und Hass und Wut bei dem Gedanken an seinen Verrat tief in ihm zu brodeln begannen.
Bei dem Gedanken an einen toten Mann.
»Wozu brauchen Sie ein Safehouse?«
»Wegen Tagen wie diesen«, erwiderte er, dankbar für die Frage, die Ablenkung. »Haben Sie einen Plan für jede Eventualität – bringt man Ihnen das nicht im Training bei?«
Ein Nicken.
»Das war unser Notfallplan für den Fall, dass unsere Regierung nicht mehr in der Lage ist, uns zu beschützen – oder selbst hinter uns her ist«, fuhr Harry fort und sah auf seine Uhr. »Wir werden uns zwei Stunden hier aufhalten, nicht länger.«
Sie drehte sich zu ihm. Überraschung stand ihr ins Gesicht geschrieben. »Wir bleiben nicht hier?«
»Nein. Der Ort war nie als dauerhafte Zuflucht gedacht, nur als Möglichkeit, Vorräte zu lagern. Ich bin in der Scheune und tanke unser neues Fahrzeug auf«, sagte er mit der Hand auf dem Türknauf. »Sie sollten duschen.«
»Wieso?«
»Könnte für eine Weile das letzte Mal sein. Außerdem muss ich Ihre Kleidung nach weiteren Peilsendern absuchen. Ich könnte mir denken, dass es für Sie angenehmer ist, wenn Sie sie dabei nicht anhaben.«
10:52 Uhr
U.S. Route 211
Virginia
Die Leichen hatte man fortgebracht, doch die Polizei war noch vor Ort. Flackernde Lichter füllten den Highway, so weit das Auge reichte, und das Heulen der Sirenen schrillte durch die kühle Morgenluft. Umrisse aus Kreide markierten die Positionen der Leichen auf dem gefrorenen Asphalt, über die sich FBI-Agenten in Mänteln beugten, in dem vergeblichen Versuch, sich warmzuhalten.
Sergei Korsakov hielt sich abseits, mischte sich unter die Schaulustigen, die sich trotz der Versuche der Virginia State Police, sie abzuhalten, zusammengedrängt hatten. Einen Doppelmord sah man in diesem Teil von Virginia schließlich nicht alle Tage.
Der CIA-Agent war nicht Teil ihres Plans gewesen. Ihr Geheimdienst hatte versagt, auf verhängnisvolle Weise. Alles hatte darauf hingedeutet, dass der Mann, der Carol Chambers begleitete, nur ein Freund sei. Ein weiterer Analytiker. Ein Schreibtischhengst.
Korsakov blickte auf das Dossier der CIA in seinem PDA hinab und scrollte durch die Seiten. Harry Nichols.
Ein Schreibtischhengst? Wohl kaum.
Der ehemalige Speznas-Sergeant rieb sich mit einer Hand über seinen Zwei-Tage-Bart. Kenne deinen Feind.
Wenn er das gewusst hätte, hätte er niemals nur ein Zweimann-Team auf Chambers angesetzt, selbst dann nicht, wenn ein Mann wie Pavel Nevaschkin es leitete.
Korsakov drehte sich um und seufzte schwer, während er sich zu seinem SUV begab. Es war Anfang Winter im Jahre 1997 gewesen, in einer dunklen Nacht in Dagestan, als er und Pavel sich kennenlernten. Beide waren Teil eines Speznas-Teams gewesen, das einen Panzerstützpunkt in Buinaksk bewachen sollte.
Angeführt von ausländischen Mudschaheddin hatten die Tschetschenen ohne Vorwarnung zugeschlagen, waren mit kleinkalibrigen Waffen und Raketenwerfern durch den Zaun gebrochen.
Er hatte in dieser Nacht Freunde verloren – und wäre beinahe selbst gestorben, wenn ihm Pavel nicht zu Hilfe gekommen wäre, als seine AK-47 sich verklemmt hatte.
Er schloss für einen kurzen Moment seine Augen und spürte wieder die eiskalte Angst, die er in diesen Stunden durchlebt hatte. Und nun war Pavel tot.
Korsakov streckte die Hand aus und zog die Tür des gemieteten SUV auf. Der Anschlag auf David Lay war zuerst rein geschäftlich gewesen, aber die Nachricht, die Nichols ihm in dem Loch zwischen Pavels Augen hinterlassen hatte, war eindeutig gewesen.
Nun nahm er die Sache persönlich. Das bedeutete Krieg. Und dieser konnte nur mit dem Tod enden.
11:03 Uhr
CIA-Hauptquartier
Langley, Virginia
»Das Bureau hat uns die Bilder der zwei toten Männer geschickt, die man auf der Route 211 fand«, verkündete Daniel Lasker, als Ron Carter an seinem Tisch vorbeilief.
»Pünktlich zum Mittagessen«, lautete Carters sarkastische Antwort. »Jagen Sie sie durch die Datenbank und schicken Sie mir die Ergebnisse. Ah, Ames, nach Ihnen habe ich gesucht.«
Ein junger Mann an der Espressomaschine sah auf. Mit zweiundzwanzig Jahren war Luke Ames einer der jüngsten Analytiker im Stab des NCS, und außerdem einer der bestaussehendsten – zumindest unter den Männern. Er war erst neu dabei, nur wenige Tage vor der Iran-Krise im September zu ihnen versetzt worden.
»Fangen Sie«, warnte ihn Ron und warf einen Schlüsselbund quer durch die Einsatzzentrale.
Luke lächelte, hielt mit der einen Hand seinen Espresso und fing mit der anderen mühelos die Schlüssel im Flug.
»Einfacher Job, Ames«, fuhr Carter fort, der sich zu einem leicht scherzhaften Ton zwang. Alles, was ihn an diesem Morgen ein wenig ablenkte, war willkommen. »Sie müssen für mich runter in die Tiefgarage fahren und Chambers Wagen öffnen, damit die Jungs vom Security Directorate anfangen können zu zaubern. Sollte für einen Schlagmann wie Sie zu machen sein.«
»Verstanden.« Ames war zumindest schon lange genug beim NCS, um zu wissen, dass man als Frischling erst einmal der Laufbursche war. Während er auf dem Weg aus dem Einsatzzentrum seine Ausweiskarte zückte, warf er noch einen Blick über seine Schulter. »Aber für die Akten, Ron – ich war Outfielder, kein Schlagmann. Sie werden den Unterschied aber nicht kennen.«
Lasker sah ihm nach. »Ich muss sagen, der Junge scheint Potenzial zu haben.«
Ron warf seinem Comm Chief einen Blick zu und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Das von dem engelsgesichtigen Lasker zu hören, war eine ziemliche Ansage. »Ja, wahrscheinlich. Wo waren wir stehengeblieben?«
»Bei den toten Russen.«
»Ich wusste, dass es etwas Unschönes war.«
11:16 Uhr
Das Safehouse
Culpeper, Virginia
Das Badezimmer war bestimmt so alt wie das Haus selbst, in einem avocadogrünen Farbton, der entfernt an Erbrochenes erinnerte. Harry hatte nicht übertrieben, was die Inneneinrichtung anbetraf.
Aber zumindest war das Wasser heiß. Carol lehnte sich gegen die Fliesen und schloss die Augen, ließ das Wasser über ihren Körper rinnen, während der Wasserdampf aus der Duschkabine das Badezimmer füllte.
Vier Stunden.
Es schien unglaublich, dass sich das Leben in derart kurzer Zeit so drastisch ändern konnte. Und doch war genau das geschehen.
Sie drehte das Wasser ab, stieg aus der Dusche und strich sich ein paar nasse Strähnen ihrer goldblonden Haare aus dem Gesicht. Ein Bademantel für einen Mann hing von einem Haken an der Tür, doch Carol schlüpfte hinein und registrierte am Rande, dass er ihr bis zu den Knöcheln reichte.
Ein Bademantel. Für einen großen Mann. So wie ihr Vater. Sie blickte in den angelaufenen Spiegel und die verschwommenen Umrisse darin waren kaum als die ihren auszumachen.
Vier Stunden.
Sie erinnerte sich noch an den Klang seiner Stimme, als er sie letzte Nacht anrief. Er wollte nur hören, wie es ihr geht, hatte er gesagt. Das tat er in letzter Zeit öfter, seit dem Einsatz in Jerusalem.
Er hatte es geahnt. Diese Erkenntnis schwappte mit der Wucht einer Flutwelle über sie hinweg. Er hatte es bereits geahnt.
Und jetzt war er tot. Oder, was vielleicht noch schlimmer war, als Geisel genommen worden. Sie arbeitete bereits lange genug in Langley, um zu verstehen, welche Folgen das haben würde.
Verschwunden, so oder so. Erschrocken ertappte sie sich bei dem Gedanken, dass sie nicht weinen würde, dass die Trauer der ersten wenigen Stunden von einer zwar fragilen, aber nicht minder erschreckenden Ruhe abgelöst worden war.
Carol holte tief Luft, drehte den Türknauf und entließ sich zusammen mit einem Schwall aus heißer, feuchter Luft in den angrenzenden Raum.
Eigentlich hatte sie erwartet, allein zu sein … doch Nichols stand neben dem Bett und war damit beschäftigt, die Magazine der Gewehre zu laden, die verstreut auf den Bettlaken lagen. Ihre Kleidungsstücke lagen sauber gefaltet schräg vor ihm, ihr Oberteil und ihr Rock auf einem Stapel, ihre Unterwäsche auf einem zweiten.
Sie spürte, wie ihr die Röte übers Gesicht kroch und zog reflexartig den Bademantel enger um ihren Körper zusammen. Hätte er sich dafür nicht einen anderen Ort suchen können?
»Ich bin hier gleich fertig«, erklärte er, als könne er ihre Gedanken lesen. »Sie sind sauber.«
»Oh«, antwortete Carol, nachdem ihr klar wurde, dass er sich dabei auf den GPS-Tracker bezog. Natürlich.
Er sah auf. »An Ihrer Stelle würde ich mit dem Anziehen noch warten. Zumindest solange, bis ich Ihnen die Haare geschnitten habe.«
»Geben Sie mir einen Moment«, antwortete sie unsicher. All das fühlte sich so seltsam an.
»Natürlich.« Harry legte die AK-47 in ihren Polymer-Koffer zurück, zusammen mit fünf geladenen Magazinen. Einhundertfünfzig Schuss 7.62mm-Vollmantelgeschosse – genug, um einen kleinen Krieg anzuzetteln.
Oder ihn zu beenden.
Er klappte den Koffer zu, warf ihn sich auf den Rücken und schloss die Tür hinter sich. Dann machte er sich auf den Weg zu dem wartenden SUV. Keiner von beiden konnte wissen, wie viel Zeit ihnen tatsächlich noch blieb.
11:18 Uhr
CIA-Hauptquartier
Langley, Virginia
Als Luke Ames die Tiefgarage erreichte, umringten dort bereits fünf Officer des Security Directorate den Wagen, begleitet von einem Deutschen Schäferhund, den ihre K-9-Einheit bereitgestellt hatte.
Chambers Wagen war ein viertüriger hellblauer Toyota Camry. Der leitende Agent des Sicherheitsdienstes warf einen Blick auf Ames‘ Ausweis, als dieser auf das Auto zuschritt. »Alles soweit in Ordnung, Sir. Unsere erste Untersuchung hat keinerlei Hinweise auf Sprengstoffe erbracht.«
Der junge Analytiker nickte. Er war in Gedanken woanders. Das Carol verschwunden sein sollte … schien unvorstellbar. Sie war es gewesen, die ihn an seinem ersten Tag im Hauptquartier herumgeführt hatte und zwischen ihnen war in den letzten Monaten eine enge Freundschaft gewachsen. Er war noch nicht an dem Punkt angekommen, sie zum Essen einzuladen, aber …
Und nun war der DCIA tot. Und sie entführt. Von einem der ihren.
Ames drückte auf seinem Weg zum Wagen auf den Entriegelungsknopf der Fernbedienung. Nichts.
Na ja, die Batterien waren ständig leer. Ohne nachzudenken, schob er seinen Schlüssel ins Türschloss und drehte ihn herum.
Der Schlüssel aktivierte den Zündmechanismus, mit dem Alex Hall an diesem Morgen die Wagentür präpariert hatte.
Eine Sekunde später erreichte der elektrische Impuls die beiden Pakete Semtex, die sich in der Türverkleidung versteckten. Von dem, was als Nächstes geschah, sollte Luke Ames nichts mehr spüren.
So wie er nie wieder etwas spüren sollte …
11:31 Uhr
Das Safehouse
Culpeper, Virginia
Wie er Carol bereits erklärt hatte, waren CIA-Agenten darauf trainiert, sich auf jede Eventualität vorzubereiten. Was jedoch nicht bedeutete, dass sie wirklich damit rechneten, dass dieser Fall auch eintrat.
Harry hob den dritten langen Waffenkoffer in den falschen Boden im Kofferraum des massigen Ford Excursion, welcher seine Heckler&Koch UMP-45 Maschinenpistole enthielt. Es war ein Duplikat der Waffe, die er in Jerusalem bei sich getragen hatte, das Gewehr, mit er Hamid Zakiri tödlich verwundete.
Sie war zudem für den Privatbesitz untersagt, aber davon hatte er sich bislang nicht aufhalten lassen. Dasselbe galt für die acht Blendgranaten, die in einem Netz neben dem Koffer mit seiner Mossberg 500 lagen.
Er hielt für einen Moment inne und ging in Gedanken noch einmal die Liste durch, eine Liste, die er sich schon vor langer Zeit eingeprägt hatte. Der Tag war gekommen.
Zufrieden legte Harry den falschen Kofferraumboden zurück und lief wieder ins Haus. Die Schlafzimmertür war geschlossen. Er wollte sich schon abwenden, als er gedämpfte Stimmen hörte.
»Carol?«, rief er. Sein Herz war von einer plötzlichen Unruhe erfüllt. Nichts.
Mit einer Hand an der Tür und der anderen an seiner Colt drehte er vorsichtig den Türknauf. Unverschlossen.
»Carol?« Immer noch nichts. Nur die Stimmen. Die Colt glitt aus dem polierten Leder seins Holsters und er drehte den Türknauf herum, stieß die Tür auf und trat mit vorgehaltener Waffe in den Raum.
Carol saß auf dem Bett, die Knie bis ans Kinn herangezogen, und starrte auf den Fernsehbildschirm am anderen Ende des Raumes. »… befinden wir uns mit unserem Korrespondenten Roger Ginsburg vor dem CIA-Gelände in Langley, wo Berichten zufolge vor zehn Minuten eine Bombe explodierte. Einsatzfahrzeuge sind bereits eingetroffen und es gibt Hinweise auf Todesopfer, allerdings konnten wir von der Agency bislang noch keine offizielle Stellungnahme …«
Harry steckte seine Waffe zurück ins Holster und trat neben Carol. Sanft strich er ihr mit einer Hand über die Schulter. In ihren Augen schimmerten Tränen.
»Es wird alles wieder gut«, sagte er, knetete behutsam ihre Schultern und ließ sich neben ihr auf dem Bett nieder. »Es wird alles wieder gut.«
Sie sah ihn an und dann zu dem Fernseher zurück, und er spürte, dass sie kurz davor war, zusammenzubrechen. »Wieso geschieht das alles? Mein Gott, sie sagen, es hat Tote in Langley gegeben.«
»Wir werden es erfahren«, flüsterte Harry, zog sie zu sich heran, als ihr Körper von heftigem Schluchzen geschüttelt wurde und hielt sie fest an seine Brust gedrückt, als sie in Tränen ausbrach. »Wir werden es noch früh genug erfahren.«
08:31 Uhr Ortszeit
Kanzlei Snell & Kilmer
Las Vegas, Nevada
Die Arbeit bei Snell & Kilmer riss nie ab, dachte der junge Mann bei sich, besonders dann nicht, wenn man noch immer versuchte, sich als Anwalt einen Namen zu machen. Und das war alles andere als einfach, wenn der aktuelle Fokus auf Steuerrecht lag. Nicht gerade sein Traum, als er vor fünf langen Jahren aus Pakistan kam … aber nun war er hier.
Und doch war die Stimmung an diesem Morgen anders, als er seine Etage im Hughes Center betrat, wo die Kollegen einen kleinen Fernseher umringten. »Was ist los?«, fragte er und stellte seinen Milchkaffee auf dem Schreibtisch ab, direkt neben dem kleinen Messingschild mit der Aufschrift Samir Khan, Rechtsanwalt.
Es schien ihn niemand gehört zu haben, außer seiner Freundin Cathy, die am Rand der Gruppe stand und deren Daumen unruhig über die Tasten ihres Telefons huschten. »Sie sagen, dass es in Virginia eine Reihe von Bombenanschlägen gegeben hatte. Und Dave geht nicht ans Telefon.«
Sein Blick wanderte von den Augen der dunkelhäutigen Frau zu dem Fernsehschirm, und er spürte, wie sich sein Atem beschleunigte, während er den Worten des Moderators lauschte. Konnte … konnte das der Anfang sein? »Ya Allah«, keuchte er, ohne wirklich zu bemerken, dass er laut vor sich hingesprochen hatte. Das Arabisch kam ihm zu leicht über die Lippen. Oh Gott.
»Was hast du gesagt?«, fragte Carol, die den Blick von ihrem Handy gehoben hatte.
Er rang sich ein Lächeln ab und lief zu seinem Tisch zurück. »Nichts, Cathy … ich war nur geschockt. Ich bete dafür, dass du deinen Mann erreichen wirst.«
Er fuhr seinen Computer hoch, lehnte sich in seinem Bürostuhl zurück und starrte auf seine Fingernägel. Es war nun schon so lange her … so lange, dass er beinahe den Glauben daran verloren hätte. Ich bitte Allah um Vergebung …
Aber als er den Entwurfsordner seines E-Mail-Programmes öffnete, fand sich nichts darin, egal, wie oft er seinen Account erneut lud. Ganz so, als wäre ihre Zeit noch nicht gekommen.
Und während er seine Kollegen musterte und sein Blick zu dem Fernsehschirm zurückwanderte, ertappte er sich bei der Frage, ob er bereit sein würde, wenn die Zeit reif war. Inschallah.
11:42 Uhr
CIA-Hauptquartier
Langley, Virginia
Der Teil der Tiefgarage, an dem Chambers Wagen parkte, hatte das Aussehen einer Leichenhalle angenommen.
Fünf Tote. Ames und vier Angehörige des Sicherheitsteams. Vier weitere Männer, darunter der Hundeführer, waren mit Krankenwagen abtransportiert worden. Einer von ihnen schwebte in Lebensgefahr.
Flackernde Lichter warfen gespenstische Schatten auf den blutigen Betonboden, während Rettungsmannschaften damit beschäftigt waren, einen der Stützpfeiler der Garage zu reparieren.
Kein Anblick, den er nicht zuvor schon einmal gesehen hatte. Viel zu oft. Eine zunehmende Wut wuchs in Kranemeyers Brust heran, während er den Schauplatz in sich aufnahm, und er kämpfte dagegen an, wohl wissend, dass er die Kontrolle zurückgewinnen musste.
Einige Meter entfernt stand Michael Shapiro, ein Taschentuch vor den Mund gepresst, das Gesicht aschfahl. »Wie konnte das passieren?«, fragte er und warf dem DCS einen verängstigten Blick zu.
»Offenbar haben wir unseren Gegner unterschätzt«, bemerkte Kranemeyer und versuchte eisige Ruhe zu bewahren. Er musste bei klarem Verstand sein. Im selben Moment tauchte Ron Carter neben ihm auf.
»Wir haben noch jemanden auf dem Weg ins Krankenhaus verloren«, berichtete er. »Er verblutete, bevor sie ihn stabilisieren konnten. Und das ist nicht alles.«
»Was?«
Carter zögerte. »Unsere Überwachungskameras zeigen Nichols hier in der Garage, keine zwanzig Minuten, bevor er Chambers entführte.«
Kranemeyer fluchte leise vor sich hin. »Wo ist Parker?«
»In Dulles, denke ich. Er sollte Richards von dort abholen.«
»Rufen Sie ihn an und sagen Sie ihm, dass ich ihn hier brauche. Sofort.«
11:57 Uhr
Dulles International Airport
Virginia
Warten. Die Arbeit beim Geheimdienst wurde oft als lange Phasen unendlicher Langeweile beschrieben, unterbrochen von kurzen Momenten reinen Terrors.
Für Thomas, der im Terminal in Dulles wartete, war es eine Kombination aus beidem. Jetzt war er nüchtern, stocknüchtern.
Harry, der spurlos vom Radar der CIA verschwunden war, hatte dafür gesorgt. Und nun hatte es allein sechs Tote in Langley gegeben.
Der Tag hatte schlecht begonnen und war von Minute zu Minute schlimmer geworden. Er bemerkte, dass seine Hände zitterten, und schob sie sich tief in seine Manteltaschen. Das Letzte, was er jetzt gebrauchen konnte, war, von der Flughafensicherheit hinausgeführt zu werden.
Warten. Thomas sehnte sich nach etwas zu rauchen. Er war Zigarrenraucher gewesen. Damals, in seinen Tagen an der Wall Street. Hatte es aber aufgegeben. Ihm war auch kaum eine andere Wahl geblieben, nachdem er im ersten Anlauf auf der Farm durch die Untersuchungen gefallen war.
Hin und wieder brach das Verlangen aber noch durch. Er atmete tief ein, zwang sich, sich umzudrehen. Als er das tat, erblickte er eine hochgewachsene Gestalt, die durch das Terminal auf ihn zuhielt. »Alles bereit?«
»Dachte schon, du würdest gar nicht mehr kommen«, sagte Thomas verärgert.
Der Gesichtsausdruck des Texaners blieb unverändert. »Die Berichte über die Attacke haben den Flugverkehr durcheinandergebracht. Wir haben eine Dreiviertelstunde darauf gewartet, eine Landeerlaubnis zu bekommen.«
»Ich dachte, dass Regierungsflüge Priorität hätten.«
»Haben sie auch«, antwortete Tex, der seinem alten Teamkameraden einen scharfen Blick zuwarf. »Aber im Himmel wimmelt es gerade von Feds.«
»Tja, am Boden ist es nicht anders.«
»Dachte ich mir. Lass uns gehen«, drängte der große Mann. »Je eher wir das Safehouse erreichen, umso besser.«
»Keine Chance. Wir wurden nach Langley zurückbeordert, auf dem schnellsten Weg.«
»Wieso?«, fragte Tex und sah Thomas in die Augen.
»Vor vierzig Minuten ging in der Tiefgarage in Langley ein Sprengsatz hoch. Sechs Tote. Kranemeyer will dich vor Ort haben.«
Der Texaner packte ihn am Arm. »Harry wird komplett und unauffindbar von der Bildfläche verschwinden, das weißt du so gut wie ich. Ihn in unserem Safehouse abzufangen ist unsere beste, unsere vielleicht einzige Chance.«
»Ich weiß.«
12:04 Uhr
Das Safehouse
Culpeper, Virginia
In der mittleren Schublade der Kommode im Schlafzimmer befand sich ein Adressbuch. Die dritte Seite darin enthielt eine Reihe von Nummern. Keine Namen, nur Nummern. Aber das spielte keine Rolle – er hatte sich die dazugehörigen Namen schon vor langer Zeit eingeprägt.
Harry nahm ein Prepaid-Handy zur Hand und begann die vierte Nummer von unten einzugeben. Das Telefon hatte er erst vor fünf Minuten aktiviert, trotzdem würde es das Beste sein, den Anruf kurzzuhalten.
Er drückte auf die Anruftaste und hörte, wie es klingelte. Einmal, zweimal. Er warf einen Blick auf die geschlossene Badezimmertür hinter sich. Carol zog sich gerade an.
Sie mussten verschwinden. Beim vierten Klingeln wurde der Anruf angenommen, von einer Frau mit einem deutlichen jamaikanischen Akzent. »Hallo?«
Harry gestattete sich ein schmales Lächeln. »Du bist so vorsichtig wie eh und je, Rhoda. Hast nichts vergessen, oder?«
»Weshalb rufst du an?«, erkundigte sich die Frau, die ihre Worte mit einem französischen Akzent betonte. »Dein Name steht auf der Fahndungsliste der Polizei – und sie sind bereits dabei, ein Suchraster über den Norden Virginias auszubreiten.«
»Wenn du das weißt, dann weißt du auch, wieso ich anrufe.«
Eine lange Pause. »Ich bin gut in dem, was ich tue. Aber ich kann nicht zaubern, Harry. Wirklich nicht. Alles Voodoo dieser Welt könnte dir jetzt nicht mehr den Arsch retten. Was hast du angestellt, um diese Reaktion auszulösen?«
»Nicht übers Telefon. Das weißt du«, antwortete Harry und räusperte sich. »Hast du die Sache in Kingston vergessen?«
Wieder eine Pause, dann seufzte die Frau. Ein langes, schweres Seufzen der Resignation. »Nein. Habe ich nicht. Um welche Zeit ist mit dir zu rechnen?«
»Wir werden in einer Stunde bei dir auf der Matte stehen«, antwortete Harry, dann klappte er das Telefon zu. Der alte Hollywood-Mythos vom einsamen Agenten war genau das – ein Mythos. Niemand überlebte da draußen ohne ein entsprechendes Netzwerk. Vielmehr ging es darum, alles Nötige zu unternehmen, um es zu aktivieren. Manchmal bedeutete das, ein paar Gefallen einzufordern oder ein paar Leuten auf die Füße zu treten.
11:32 Uhr Ortszeit
Dearborn, Michigan
Es gehörte zu einer der vielleicht größten Ironien der Stadt Dearborn, dass sich in dieser Stadt, die früher einmal die Heimat so vieler Angestellter der Automobilbranche Amerikas gewesen war, die meisten der nun hier lebenden Bewohner auf öffentliche Verkehrsmittel verließen, die von der Bundesregierung subventioniert wurden.
Aber es half, die Stauproblematik in den Griff zu bekommen. Der schwarze Mann schnaubte verächtlich, als er einen Blick in den Rückspiegel warf und nach der Polizei Ausschau hielt. Wie sind die Helden doch gefallen!
Mittlerweile subventionierte die Staats- und Landesregierung beinahe den gesamten Polizeiapparat von Dearborn. Ihnen blieb auch kaum eine andere Wahl – denn man konnte darauf wetten, dass die eine Hälfte der Stadtbewohner noch nicht einmal genug verdiente, um Steuern zahlen zu müssen, und die andere Hälfte kein Interesse an Polizeikräften hatte.
Abdul Aziz Omar gehörte fraglos der zweiten Kategorie an, besonders an einem Tag wie diesem.
Er sah noch einmal in seinen Rückspiegel, um einen kurzen Blick auf seine Mitfahrer zu erhaschen? Ihre Namen kannte er nicht – aber den Mann in der Mitte, diesen jungen Mann mit dem verträumten, beinahe jenseitigen Blick kannte er als den Scheich.
Was er hier in Dearborn tat, war ebenfalls ein Mysterium.
Aber das würde sich alles schon zur rechten Zeit aufklären, dachte der schwarze Mann und griff nach seiner Thermoskanne mit Tee in der Mittelkonsole. Inschallah.
12:34 Uhr Ortszeit
U.S. Route 211
Virginia
Er hatte dieses Gefühl schon einmal verspürt – damals, als er einen Serienkiller durch fünf Bundesstaaten jagte, und bevor er sich der Anti-Terror-Division des Bureaus angeschlossen hatte. Das unerträgliche Gefühl, immer einen Schritt hinterherzuhinken, immer zu spät zu sein.
Vic Caruso umrundete das hintere Ende des SUV und sah dort Marika Altmann stehen, die eine durchsichtige Plastiktüte gegen die Sonne hielt.
»Schon Glück bei der Suche nach den Hülsen gehabt?«, fragte er und zog den Reißverschluss seines Mantels gegen den kühlen Wind zu.
Altmann antwortete mit einem Kopfschütteln und legte die Tüte mit der verformten Kugel Kaliber .45 in die Kiste für die Beweismittel im Fußraum des Wagens zurück. »Wenn er bei der Agency ist, hat er wahrscheinlich seine Hülsen aufgesammelt. Der Typ ist gut.«
»Das ist er«, antwortete Caruso leise. Seine Partnerin warf ihm einen scharfen, durchdringenden Blick zu.
»Kennen Sie ihn?«
»Gewissermaßen«, antwortete er und erwiderte ihren Blick. »Mitte September wurde ich damit beauftragt, die Ermittlungen in einem CIA-Informationsleck zu leiten. Er war eine der Zielpersonen.«
»Und?«, hakte sie neugierig nach.
»Und das ist eine lange Geschichte.« Das war es in der Tat, dachte Caruso und ließ seinen Blick über den Highway schweifen, wo kurz vorher noch die Leichen gelegen hatten. Er hatte in die Mündung jener 1911 Colt Kaliber .45 geblickt.
Die Untersuchung war aufgeflogen, nachdem Nichols zurückgekehrt war und Caruso in seinem Haus dabei ertappt hatte, wie dieser seinen Computer durchsuchte. Er hatte den Tod in Nichols Augen gesehen und doch überlebt. Die beiden hier draußen auf dem Highway hatten nicht so viel Glück gehabt.
»Was halten Sie von diesem russischen Einwanderer, dem Kerl, der laut unserer Einsatzbesprechung als der Bombenattentäter identifiziert wurde?«
Die Frau antwortete zuerst nicht, ihr Gesicht auf seltsame Weise undurchdringlich, während sie auf die verschneite Landschaft starrte. Eine silbrig-goldene Haarsträhne entkam ihrer Baseballkappe und sie klemmte sie sich wieder hinters Ohr.
»Ich denke, man lässt uns absichtlich im Dunklen tappen«, sagte sie schließlich mit einer Stimme so kalt wie der Wind, der um den SUV fegte. »Sie verschweigen uns etwas und füttern uns stattdessen mit dieser Hundescheiße.«