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Kapitel 5

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13:31 Uhr Ortszeit

Fargo, North Dakota

Es bedurfte schon eines gewaltigen Schneesturmes, um die Schulen von Fargo zu schließen, aber genau das war eingetreten. Einundsiebzig Zentimeter Schnee bedeckten die Northern Plains.

Was bedeutete, dass es für sie heute nichts zu unterrichten gab. Es hatte Tage gegeben, da hätte sie eine Pause willkommen geheißen, aber nicht heute. Nicht nach dem Tod ihrer Schwester vor nicht einmal einem Monat.

Mary – groß gewachsen und hübsch, mit langen kastanienbraunen Locken. Ihre süße kleine Schwester, vier Jahre jünger als sie. Ihre Familie hatte immer wieder Witze darüber gemacht, dass die beiden Mädchen nicht unterschiedlicher hätten sein können – Mary war lebhaft gewesen, stets gutgelaunt und unbekümmert. Sie hingegen reserviert, ernst. Analytisch. Eigenschaften, die sie schließlich Lehrerin für Mathematik an einer der vielen Highschools von Fargo werden ließen.

Sie war unverheiratet und zog die Männer nie auf dieselbe Weise wie ihre jüngere Schwester an. Nicht, dass sie unattraktiv gewesen wäre, aber ihre Persönlichkeit wirkte auf viele Männer eher einschüchternd. Sie war nicht der Typ, der gern freitagnachts in Singlekneipen abhing.

Alicia Workman sah auf das Bild ihrer Schwester auf ihrem Computertisch hinunter und spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Marys Hang zur Romantik, ihre Fähigkeit, auf Männer anziehend zu wirken und sich Hals über Kopf zu verlieben, waren ihr zum Verhängnis geworden.

Man fand Mary tot in ihrem Appartement in D.C., gestorben an einer Überdosis verschreibungspflichtiger Schmerzmittel. Der Abschiedsbrief war wirr und zusammenhanglos gewesen. Nichts darin hatte Sinn ergeben – es sei denn, man kannte alle Teile des Puzzles.

Ihre Hand glitt von dem Foto zu dem Brief hinab, der darunter lag. Ein Ausdruck der letzten E-Mail ihrer Schwester, fünf Tage vor ihrem Selbstmord. All ihre Hoffnungen und Träume, schwarz auf weiß in 12 Punkt großer Times New Roman.

Ihre Liebe zu einem Mann.

Einem verheirateten Mann.

Alicia warf einen Blick aus ihrem Appartementfenster auf den immer noch wirbelnden Schnee hinaus. Die Einzelteile einer auseinandergenommenen Bersa Firestorm lagen neben Marys Brief, zum Reinigen zerlegt.

Es war eine kleine Pistole, eine halbautomatische Kleinwaffe, geladen mit 0.380 ACP Munition. Alicia, die auf der Farm ihres Großvaters mit Waffen aufgewachsen war, kannte die Möglichkeiten und Grenzen dieser Pistole zu gut.

Ihr Blick huschte zu den Zeitungsausschnitten und Ausdrucken, die eine Wand ihres Zimmers dekorierten. Das lächelnde Gesicht eines Mannes, der von so vielen Menschen geliebt wurde.

Es stellte sich nur eine Frage: Würde das genügen?

08:35 Uhr Ortszeit

Bonn, Deutschland

»Mr. President, eine Stellungnahme, bitte!«

»Wie lautet Ihr Kommentar zum möglichen Zerfall der EU, Mr. President?«

»Ein Kommentar?«

»Mr. President! Wird es eine Überein…«

Die Wagentür der Limousine schloss sich mit einem befriedigenden Klick und der Lärm von draußen verebbte zu einem dumpfen Dröhnen.

»Was für ein Morgen.«

Präsident Roger Hancock blickte seinem Chief of Staff in die Augen. »Das dürfte die Untertreibung des Jahres sein, Ian.«

Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten, welche die Europäische Union seit der Finanzkrise Griechenlands erschütterten, hatten sich nun zugespitzt. Spanien und Portugal waren Griechenland rasch in die Zahlungsunfähigkeit gefolgt, was Schockwellen durch den gesamten Kontinent schickte.

Nun, nachdem ein Land nach dem anderen den Bach runterging, waren Deutschland und Frankreich – die vielleicht stärksten Wirtschaftsmächte in Europa – zu dem Entschluss gekommen, dass ein Verbleib in der EU nicht mehr länger in ihrem Interesse wäre.

Und deshalb war er hier. Um sein politisches Kapital dafür zu nutzen, sie umzustimmen.

Mit dreiundfünfzig war er als Präsident der Vereinigten Staaten noch ein junger Mann, aber vier Jahre im Amt hatten ihren Tribut an seinem jugendhaft guten Aussehen gefordert. Sein braunes Haar war nun stark von silbernen Strähnen durchzogen, etwas, das ihm nach Aussage seiner Berater mehr Würde verlieh.

Zum Teufel mit der Würde.

»Gibt es Neuigkeiten aus D.C.?«

Ian Cahill schüttelte den Kopf. Der Ire war seit zehn Jahren an Hancocks Seite, seit der aus Wisconsin stammende Mann das erste Mal für den US-Senat kandidiert hatte. Zuerst als Wahlmanager, dann als Chief of Staff. Geboren und aufgewachsen in Chicago, hatte sich der zweiundsechzigjährige Cahill seine Reputation als Straßenkämpfer in dem als hinterhältig geltenden Politzirkus Illinois erworben.

Ein Ruf, der ihm in der Hancock-Administration gute Dienste leistete.

»Das Bureau hat Virginia total abriegeln lassen, überall schwirren Agenten herum«, antwortete Cahill und sah auf das Display seines Handys hinunter. »Bislang … gibt es noch keine Erkenntnisse. Sowohl was den flüchtigen Agenten als auch den DCIA selbst angeht.«

Hancock fluchte leise in sich hinein und starrte aus den getönten Fenstern auf die Schilder der Demonstranten hinaus, welche die lange Straße säumten. Dann beschleunigte der Autokorso und ließ die Rufe und Schreie der Demonstranten in der Ferne verhallen.

Wenn sich doch nur alle Probleme so leicht lösen ließen.

16:11 Uhr Ortszeit

NCS-Einsatzzentrale

Langley, Virginia

Thomas sah von seinem Monitor auf, als Tex Richards den kleinen, fensterlosen Bürowürfel betrat.

»Hab deine Nachricht erhalten«, sagte Tex einfach nur. »Konntest du schon Zugang zu den Satellitenübertragungen erhalten?«

»Negativ«, antwortete Thomas kopfschüttelnd. »Die sind seit heute Morgen alle blockiert und gesichert – ich habe keinen Zugang, zumindest nicht von hier aus. Nein, ich bin über die Hintertür rein und habe angefangen, Versorgungsdienstleister zu checken.«

Tex durchquerte den Raum, um die sich kontinuierlich erneuernden Graphen und farbigen Zickzacklinien auf dem Bildschirm anzusehen. »Und?«

»Genau hier … um 11 Uhr gab es eine Spitze im Wasser- und Stromverbrauch in unserem Safehouse. Keine große Sache, aber wenn McNab im Dienst ist …«

»Ist er?«, erkundigte sich Richards bei der Erwähnung des Air-Force-Piloten im Ruhestand, der als Hausmeister des Safehouses fungierte, mit ungewöhnlicher Schärfe in der Stimme.

Thomas nickte. »Ist er. Ich habe mich bei seinem Arbeitgeber erkundigt – er ist seit heute Morgen im Dienst. Kurz nach Mittag sank der Verbrauch wieder auf das übliche Level ab.«

Damit blieb nur eine Erklärung und beide Männer wussten das.

»Er ist gekommen und wieder gegangen«, flüsterte Tex und starrte auf den Bildschirm. »Was hast du nur vor, Harry?«

17:02 Uhr Ortszeit

New Market, Virginia

Es gab keinerlei Anzeichen, dass sie verfolgt wurden. An einem guten Tag dauerte die Fahrt von Graves Mill bis in die Vorkriegsstadt New Market etwa anderthalb Stunden.

Aber das war kein guter Tag, und der Umstand, dass er eine als SDR bezeichnete nicht überwachte Route nehmen musste, bedeutete, dass Harry die meisten der direkten Straßen meiden musste.

»Darf ich fragen, wohin wir fahren?«, erkundigte sich Carol auf dem Beifahrersitz neben ihm nach einem Räuspern. Sie nahm kein Blatt vor den Mund, eine erfrischende Abwechslung im Gegensatz zu den meisten anderen Frauen, die er kannte. Und wahrscheinlich war es an der Zeit, sie einzuweihen.

Harry nahm seine Augen lange genug von der Straße vor ihm, um ihr einen kurzen Blick zuzuwerfen. »Sagt Ihnen der Name Samuel Han etwas?«

Ein langer Moment des Schweigens folgte, dann antwortete sie: »Er war einer Ihrer Männer, nicht wahr?«

Allein, dass sie seinen Namen kannte, überraschte Harry. Er hätte nicht erwartet, dass sie …

»Ja, das war er«, antwortete Harry und starrte durch die Windschutzscheibe auf die Wälder der Appalachen hinaus, unbelaubt und mit einer Schicht frischen Schnees bedeckt. Weiße Flecken fielen um den dahinrasenden Excursion vom Himmel, während langsam die Dunkelheit hereinbrach.

Was sollte er ihr sagen? Wie sollte man das gesamte Leben eines Mannes in ein oder zwei Sätzen zusammenfassen können?

Harry konnte schon immer gut mit Worten umgehen. Er war gut darin, andere zu überzeugen, zu manipulieren.

Zu täuschen … doch jetzt, als zusammen mit den Erinnerungen eine Flut aus Emotionen über ihn hereinbrach, fehlten ihm die Worte.

Han war einer der besten Agenten der Agency gewesen, den er je erlebt hatte. Der Sohn eines vietnamesischen Söldners, der an der Seite der Vereinigten Staaten in Vietnam kämpfte – Samuel, oder Sammy, wie ihn die Männer des Alpha Teams genannt hatten – war direkt aus Little Creek, der Heimat des SEAL Teams Two, zur CIA Special Activities Division gestoßen.

Sammy, ein großer Mann und damit das genaue Gegenteil des stereotypischen Asiaten, war ein sanfter Riese gewesen, und wahrscheinlich der netteste Kerl, dem Harry während seiner fünfzehn Jahre im Geheimdienst über den Weg gelaufen war.

Tödlich auf dem Schlachtfeld, zuhause ein liebender Ehemann und Vater von zwei kleinen Jungen. Zumindest bis zu dem Tag, an dem alles zusammenbrechen sollte.

»Ja«, wiederholte Harry eher zu sich selbst. »Sammy war ein Freund.«

17:12 Uhr

CIA-Hauptquartier

Langley, Virginia

An jedem anderen Tag hätte sich Michael Shapiro Punkt siebzehn Uhr bereits auf den Heimweg begeben. Ganz besonders in diesem Monat, wo die Weihnachtseinkäufe anstanden.

Seine Zwillinge hatten an diesem Morgen ihre Wunschzettel im Cornflakes-Glas deponiert, der vergebliche Versuch, harmonisch in einen Tag zu starten, an dem sehr schnell alles danebenging.

Nichts an diesem Tag war nach Plan verlaufen. Aber so, wie sich die Dinge entwickelt hatten, hatte der Morgen nur den besten Beweis dafür geliefert, dass sich sofort ein neues Problem auftat, wenn man ein anderes beseitigen konnte. Selbst dann, wenn man sein Bestes gab.

»Eines noch«, sagte er und hob den Finger. Bernard Kranemeyer stand im Türrahmen von Shapiros Büro und wollte gerade gehen.

»Ja?«

Shapiro atmete tief ein. In Gegenwart des DCS hatte er sich noch nie wohlgefühlt. Der ehemalige Sergeant der Delta Force passte einfach nicht in den Zirkus hier. Und bei jemandem, der nicht hineinpassen wollte, konnte man nicht darauf vertrauen, dass er erwartungsgemäß reagierte – oder einfach die Klappe hielt und tat, was getan werden musste, wenn die Situation es erforderte.

»Sie müssen für mich das Alpha Team kaltstellen.«

Kranemeyer hob die Augenbrauen. »Wieso?«

Shapiro fluchte innerlich. Die Delta Force, von Insidern auch nur die Unit genannt, bestand nahezu ausschließlich aus Unteroffizieren. Keine Ränge darunter. Und angesichts dieser Realität waren es die D-Boys nicht gewohnt, Befehle unkritisch einfach nur hinzunehmen. Einsatzbesprechungen der Unit waren dafür bekannt, darin zu enden, dass sich alle gegenseitig anbrüllten.

»Sie stehen der gegenwärtigen Lage zu nahe.«

»Blödsinn«, antwortete Kranemeyer, in dessen Augen es aufblitzte. »Das Bureau kümmert sich um die Lage. Ich brauche jeden Mann in Bereitschaft, den ich kriegen kann – für die Extraktions-Einsätze, die wir initiiert haben. Jeden Mann. Und Richards und Parker sind zwei meiner besten.«

Der DD(I) atmete erneut durch. Er war Konfrontationen wie diese einfach nicht gewohnt. »Im Oktober stellte sich heraus, dass der stellvertretende Kommandeur des Alpha Teams, Hamid Zakiri, ein Schläferagent war, der für die Ayatollahs arbeitete. Und an diesem Morgen hat der Teamführer in diesem Gebäude eine Geisel genommen und ist gegenwärtig das Ziel einer Großfahndung. Das ist ein Befehl, Kranemeyer. Schicken Sie sie in Urlaub, schaffen Sie sie aus dem innersten Kreis, bevor es zu spät ist.«

»Schon erledigt«, erklärte der DCS kopfnickend. »Sonst noch etwas?«

»Nein, nein, das wäre alles«, antwortete Shapiro, von Kranemeyers unverhoffter Kapitulation gleichzeitig erleichtert wie überrumpelt. Das war nicht seine Art.

Und dann war Kranemeyer verschwunden, das vage Gefühl des Unbehagens aber blieb. Shapiro starrte auf seinen Computerbildschirm und die Telefonnummer, die dort zu sehen war. Irgendetwas stimmte hier nicht …

17:34 Uhr

Cypress Manor

Cypress, Virginia

Die Dunkelheit war hereingebrochen, aber die Lampen, die von dem guten Dutzend an FBI-Agenten aufgestellt worden waren, die durch die alte Vorkriegsvilla schwärmten, erhellten den Vorgarten und die Zufahrtsstraße und warfen monströse Schatten in der Form der Buchsbaumhecken, die entlang des Weges wuchsen, über das gesamte Areal.

Bei seinem letzten Besuch in Nichols Haus war es dunkel gewesen, völlig dunkel. Ein Besuch so zwecklos wie dieser.

Vic schaute von dem Buffetschrank auf, den er gerade inspizierte, und sah Marika Altmann die Mahagonitreppe herunterkommen. Ihre Hände waren in den Taschen ihrer Windjacke vergraben und der Blick in ihrem Gesicht wirkte alles andere als aufmunternd.

»Gibt‘s gute Neuigkeiten? Konnten Sie Nichols Safe knacken?«

Der wütende Blick, den sie ihm zuwarf, verriet alles. »Ja. Und nein. Der Mechanismus war mit einem Selbstzerstörungscode präpariert.«

»Und?«

Sie fluchte leise in sich hinein. »Alle Dokumente in dem Safe sind zu Asche verbrannt, Vic.«

Caruso schloss mit einer seiner Hände, die in Gummihandschuhen steckten, die Schublade des Schranks und nickte. »Hier ist auch nichts zu finden. Nicht der kleinste verdammte Hinweis.«

»Ich hatte schon früher mit einigen paranoiden Verdächtigen zu tun, aber …« Die ältere Frau sah ihn an. »Das hier schlägt alles.«

17:41 Uhr

Staples

New Market, Virginia

Der Schnee fiel dichter, als Harry die Tür des SUV schloss und die Frau beobachtete, die gerade Papiertüten mit Einkäufen in den Kofferraum ihres Kombi lud.

Der Parkplatz vor dem Einkaufszentrum war voller Fahrzeuge – zweifellos wegen des Schneefalls. Es erstaunte ihn immer wieder, aber es war stets dasselbe Schauspiel – niemand schien jemals vorauszuplanen.

Aber er war nicht hier, um einzukaufen. Er sah geradeaus, musterte sein Zielobjekt – das Staples-Einkaufszentrum – und dann über den Parkplatz zurück zu den zwei Streifenwagen der Virginia State Police, die vor einem Dunkin‘ Donuts parkten.

Mit etwas Glück waren sie halb erfroren, hungrig und es leid, einem Phantom nachzujagen. Aber es war gefährlich, sich auf sein Glück zu verlassen.

Er sah auf die Uhr. Fünf Minuten.

Eine Schneeflocke biss in seine Wange und er zog sich den Kragen der Jacke über sein Gesicht und schritt zügig auf die Wärme im Laden zu.

Harry war kaum zur Tür herein, als auch schon einer der Angestellten auf ihn zusprang und fragte, ob er ihm helfen könne.

»Heute nicht«, hörte er sich sagen. Verdammter Kundenservice. Vier Minuten.

Die Laptops waren fein säuberlich an einer Seite des Geschäfts aufgereiht worden, zusammen mit kleinen Schildchen, auf denen sich ihre Rechengeschwindigkeit, die Festplattengröße und so weiter ablesen ließ. Er wusste, dass hier sein Alter aus ihm sprach, aber er konnte sich noch gut daran erinnern, als man Festplattenspeicher noch in Megabytes maß.

Das Gute an den Laptops im Staples war, dass sie mit dem Internet verbunden waren. Nachdem er für einen kurzen Moment so getan hatte, als würde er die verschiedenen Modelle vergleichen, klickte Harry auf einem der Geräte auf das Symbol des Internet Explorers und ging ins Netz.

Er brauchte nicht lange, um zu finden, wonach er suchte – und es befand sich gar nicht weit außerhalb der Stadt.

Er zog einen Kuli aus der Innentasche seiner Jacke und kritzelte die Adresse auf seinen Handrücken.

Drei Minuten. Er lud die MapQuest-Seite und tippte sowohl seine gegenwärtige Position als auch seinen Zielort in die beiden Suchfelder ein.

Gefunden.

18:03 Uhr

CIA-Hauptquartier

Langley, Virginia

Der beißende Geruch von Zigarettenrauch stieg Thomas in die Nase, als er die Tür zu Kranemeyers Büro aufstieß. In Regierungsgebäuden war das Rauchen offiziell untersagt, aber der DCS war nie dafür bekannt gewesen, sich an die Regeln zu halten.

Er schloss hinter sich die Tür, schritt in den Raum hinein und bemerkte erst dann Richards, der bereits vor Kranemeyers Schreibtisch saß.

»Setzen Sie sich, Thomas«, sagte Kranemeyer und deutete mit einer knappen Handbewegung vor sich. Die unerlaubte Zigarette glomm wenige Zentimeter von ihm entfernt in einem Aschenbecher.

»Was ist los?«, fragte Thomas noch im Stehen. Irgendetwas war im Gange. Nachdem ihn Kranemeyer mit einer Geste ein zweites Mal dazu aufgefordert hatte, setzte er sich.

»Ich habe so lange gewartet, bis Sie da sind.« Kranemeyer sah auf seinen Tisch hinunter und dann zurück zu den beiden Männern. »Die Befehle stammen von ganz oben. Sie beide sollen kaltgestellt werden, bis Nichols verhaftet wurde und die Ermittlungen vorüber sind.«

Thomas wollte etwas entgegnen, aber der DCS schnitt ihm das Wort ab. »Ich habe die Entscheidung bereits angefochten, aber der Befehl bleibt solange gültig wie Shapiro der amtierende Direktor ist.«

»Dann stehen wir unter Arrest?« Die Frage kam von Tex, dessen kohlrabenschwarze Augen so ausdruckslos wie immer funkelten. Nur seine zusammengebissenen Kiefer verrieten seine innere Anspannung.

»Nicht unbedingt«, erwiderte Kranemeyer seufzend. »Shapiro will Sie nur so weit wie möglich aus der Schusslinie haben. Wir haben noch Jagdsaison. An Ihrer Stelle würde ich das Beste daraus machen.«

Thomas blinzelte, als hätte er sich gerade verhört. Der DCIA galt als vermisst und war entweder bereits tot oder entführt worden, ihre Kollegen hatten eine Bombe in den Eingeweiden ihres Hauptquartiers hochgehen lassen und ihr Teamführer war Ziel einer groß angelegten Fahndung – und sie sollten Urlaub nehmen?

Dann nahm Kranemeyer den Laptop von seinem Tisch und drehte dessen Display zu den beiden Paramilitärs herum.

Auf dem Bildschirm stand eine einfache Nachricht: TREFFEN SIE MICH IM BLACK ROOSTER. 21.00 UHR.

Der ehemalige Sergeant der Delta Force lächelte kurz und drückte auf die Löschtaste. Einen Augenblick später war die Nachricht verschwunden.

»Noch Fragen?«, erkundigte sich Kranemeyer, was ganz offensichtlich nicht auf seine Botschaft bezogen war.

Die beiden Männer schüttelten die Köpfe.

18:21 Uhr

Ein Lagerhaus

Manassas, Virginia

Das Lagerhaus war ein dürftiger Sammelpunkt, aber es würde genügen. Sergei Korsakov hatte schon Schlimmeres gesehen.

Die russische Armee war schon immer knapp bei Kasse gewesen, selbst nach dem Fall der Sowjetunion und sogar innerhalb der elitären Speznas-Einheiten.

Deshalb musste man lernen, zu improvisieren – das Beste aus dem zu machen, was man zur Verfügung hatte. Ihm kam das abgedroschene Klischee von der Not, die erfinderisch machte, wieder in den Sinn.

»Schon was neues, Viktor?«, erkundigte sich Korsakov und rieb die Handflächen aneinander, um sie aufzuwärmen.

Der hagere junge Mann sah von seinem Toshiba-Laptop auf, den er auf einem 200-Liter-Ölfass abgestellt hatte. »Njet.«

Mit seinen einundzwanzig Jahren war der in Bulgarien geborene Viktor das jüngste Mitglied im Team und der Einzige, der noch über keine militärische Erfahrung verfügte. Ein zotteliger Bart bedeckte die untere Hälfte seines leichenblassen Gesichts und die Glock 19 wirkte in ihrem Holster an seiner schmalen Hüfte auf groteske Weise fehl am Platz. Aber was dem Mann an Physis fehlte, machte er mit seinem technischen Wissen wieder wett.

Sie waren seit sechs Jahren ein Team, seit Korsakov ihn aus einem Bordell am Schwarzen Meer rettete, in das man ihn verschleppt hatte.

Sechs Jahre, und doch zuckte der Junge noch immer zusammen, wenn sich ihm ein Fremder näherte. Sein Körper trug noch immer die Narben aus jenen Tagen.

Ein Großteil seiner Schnelligkeit im Umgang mit Computern verdankte er dem Umstand, dass man ihn gezwungen hatte, Videos aus dem Bordell auf die Server einer pornografischen Website aufzuspielen.

Dass der größte Teil seiner Narben daher stammte, weil er beinahe zu Tode geprügelt wurde, nachdem er die Videodateien mit einem selbstgeschriebenen Computervirus infiziert hatte, war für Korsakov nur der Beweis dafür, dass in dem Jungen ein unbändiger Wille schlummerte.

»Bist du sicher, dass die Amerikaner nicht ihre Spielchen mit uns treiben, Viktor?«, fragte Korsakov sanft und legte seinem Protegé eine Hand auf die Schulter. Er spürte, wie der Junge unter seiner Berührung erschauderte, und schalt sich insgeheim dafür. Die Besitzer des Bordells waren tot, durch seine Hand gestorben, aber es gab nichts, was die Schäden ungeschehen machen konnte, die sie angerichtet hatten.

Der Junge dachte einen Augenblick nach. »Es ist schwer zu sagen, ob man meinen Zugang beschränkt hat, wenn ich gar nicht weiß, was ich eigentlich vorfinden müsste. Aber ich bin auf den FBI-Servern, soviel ist sicher. Hier, ich kann dir ihr Suchgitter zeigen.«

Seine Finger tanzten über die Tasten und riefen eine Karte der Tri-State-Region auf. »Die roten Punkte sind FBI und DHS. Aus den Memos, die ich gesehen habe, geht hervor, dass das Department of Homeland Security versucht, die Suche zu übernehmen.«

Nach ein paar weiteren Tastenanschlägen erschienen weitere gelbe Punkte auf der Rasterkarte. »Polizeikräfte von Virginia.«

Blaue Punkte. »Die örtlichen Truppen, Hilfssheriffs und so weiter.«

Korsakov fluchte leise. Sie waren überall. Wäre seine Mission nicht von so entscheidender Bedeutung gewesen, wäre es ehrfurchtgebietend gewesen – die gesamte Macht der amerikanischen Regierung, wegen eines Mannes in Bewegung gesetzt. Aber so …

»Bleib wachsam, Viktor. Wenn Sie Nichols und Chambers finden, müssen wir bereit sein, sie abzufangen.«

»Da, Towarischtsch.«

Der Attentäter hatte sich von ihm abgewandt, als ihm noch etwas einfiel. »Viktor?«

»Da?«

»Wie lange noch, bis der zweite Tracker aktiviert wird?«

Der Junge sah auf seinen Computerbildschirm, dann blickte er auf die Uhr, als müsse er die Zeit vergleichen. Als er Korsakov ansah, schienen seine Augen mit einem Tadel zu rechnen. »Noch sechzehn Stunden.«

18:29 Uhr

Außerhalb von New Market

Virginia

Es schneite immer noch, als Harry zurück auf den Fahrersitz des SUV kletterte. »Sieht aus, als wäre die Luft rein.«

In dem kurzen Augenblick, bis das Innenlicht von allein ausging und sie beide in Dunkelheit hüllte, warf er ihr einen Blick zu. Sie sah erschöpft aus und in ihrem Gesicht ließ sich der Kummer dieses Tages ablesen. Die Kahr .45 lag noch immer in ihrem Schoß, fest von ihren beiden Händen umklammert, so wie sie die Waffe bereits hielt, seit er sie allein gelassen hatte.

Harry nahm die zerknüllte Verpackung einer Feldration von der Mittelkonsole, legte einen Gang ein und fuhr langsam die Straße entlang, vorbei an einem der Maklerschilder, wie man sie seit der Finanzkrise 2008 öfter sah: Zwangsversteigerung.

Das verlassene Terrassenhaus lag abseits der Hauptstraße, versteckt in einer Senke, wie sein Großvater es genannt hätte. Für ihre Zwecke wie geschaffen.

Harrys Sperrpistole brauchte nicht einmal eine Minute für das Vorhängeschloss und das Türschloss an der Vordertür. Schlösser hielten nur die Ehrlichen fern, daran hatte sich nichts geändert.

Mit seiner taktischen Taschenlampe zwischen den Zähnen und seiner 1911 in beiden Händen lief Harry voraus und sicherte Zimmer für Zimmer des verlassenen Hauses.

Die ehemaligen Besitzer hatten ein Bett und einen mottenzerfressenen Lehnstuhl in einem Schlafzimmer im Erdgeschoss zurückgelassen, einem Raum mit dem Bild eines Einhorns an einer der Wände. Das Kinderzimmer eines kleinen Mädchens.

Früher mochte es einmal hübsch ausgesehen haben, doch nun ragte das verblassende Gemälde bedrohlich im Schein von Harrys Taschenlampe auf. Ein Relikt aus glücklicheren Tagen.

Er versetzte dem Lehnstuhl einen misstrauischen Tritt mit seinem Fuß, so als würde er befürchten, dass der Stuhl in sich zusammenfallen könnte.

Aber das tat er nicht. Sein Licht glitt noch einmal durch den Raum, ein letzter Kontrollblick, bevor er sich zu ihr umdrehte. »Sie können das Bett haben.«

Er konnte ihr Gesicht nicht sehen, konnte ihr Zögern aber in ihrer Stimme hören. »Danke, schätze ich. Werden Sie in dem Lehnstuhl schlafen können?«

Harry schlug seine Jacke zurück und ließ die große Colt in das Lederholster gleiten. »Ich werde nicht viel schlafen.«

20:53 Uhr

Der Black Rooster Pub

Washington, D.C.

Thomas war noch nie zuvor im Black Rooster gewesen, hatte noch nicht einmal von dem Laden gehört, bevor er die Worte von Kranemeyers Bildschirm in die Google-Suche eingegeben hatte.

Als er an dem Pub eintraf, war ihm auch klar, wieso. Die Bar nahm die Ecke eines Bürogebäudes auf der L Street ein, seine Ziegelfassade das Einzige, was es von den anderen Gebäuden hier unterschied.

Warme Luft und Siebzigerjahre-Musik wehten ihm entgegen, als er eintrat. Er strich sich ein paar schmelzende Schneeflocken von seinen Jackenärmeln und sah sich um.

Tex war bereits da, die langen Beine um einen Barhocker vor einer massiven Holztheke gewickelt. Selbst vom anderen Ende der Bar aus konnte Thomas die Augen des großen Mannes sehen, mit denen er die Spiegel hinter der Theke im Blick behielt. Ein beinahe perfektes Setup.

»Was darf’s sein, Kumpel?«, fragte ihn der Barkeeper mit müden Augen, als Thomas sich auf den Barhocker neben Tex setzte.

»Kommt ganz drauf an – was hatte denn mein Freund hier?«, fragte er und musterte die klare Flüssigkeit in Tex‘ Glas.

Das Lächeln wich einem schiefen Grinsen. »Wasser.«

Natürlich. Thomas schüttelte den Kopf. Was für ein Tag … aber natürlich wusste er, dass Tex nicht trank. Er besuchte dieselbe Kirche wie Harry – natürlich trank er nicht. Wie konnte er das vergessen?

»Was können Sie denn empfehlen?«

»Vielleicht einen Dark&Stormy?«, schlug der Barkeeper vor und sah von dem Schnapsglas auf, das er gerade putzte. »Jamaikanischer Rum und Ingwerbier.«

»Klingt nach einem Plan.«

»Er ist hier«, raunte ihm Tex zu, nachdem ihnen der Barkeeper den Rücken zukehrte, um sich um die Bestellung zu kümmern. Thomas hob den Kopf und erkannte den Umriss des DCS, der sich wie ein Schatten in der Tür abzeichnete.

21.00 Uhr, auf die Minute. Pünktlich wie immer.

Kranemeyer durchquerte die Bar und legte Thomas die Hand auf die Schulter. »Schön, dass ihr es einrichten konntet, Jungs.«

Und dann lief zu einem leeren Ecktisch im hinteren Ende des Pubs. Thomas streckte die Hand nach seinem Glas aus und kippte es mit einer schnellen, ruckartigen Bewegung nach hinten. Der Rum rann ihm die Kehle hinab und half gegen die Kälte in seinem Inneren.

Aber das würde nicht genügen. Er leerte sein Glas, stellte es auf die Bar zurück und folgte Kranemeyer.

Die Party war vorbei.

21:05 Uhr

Das zwangsversteigerte Haus

New Market, Virginia

Sie schlief nicht. Harry bemerkte es sofort, als er den Raum betrat, schloss die Tür aber genauso behutsam hinter sich, als würde sie tief und fest schlummern.

Er nahm die AK-47 von der linken in seine rechte Hand und ließ sich leise in den Lehnstuhl sinken. Unter den Waffen im Wagen war seine Wahl nach kurzem Überlegen auf diese gefallen. Die Motorradfahrer hatten Körperpanzerung getragen.

Er konnte Carols Umrisse in der Dunkelheit kaum ausmachen, wie sie auf dem Bett lag, eingewickelt in den Schlafsack, den sie aus dem Safehouse mitgebracht hatten.

Sie war wach, lag nur da. Das konnte er an ihrer Atmung hören. Er hatte lebenslange Erfahrung damit, anderen Menschen beim Schlafen zuzuhören. Nicht alle von ihnen waren danach wieder aufgewacht.

Harry lehnte sich in dem Lehnstuhl zurück und legte sich das Sturmgewehr in den Schoß. In dem Haus war es kalt, bitterkalt, aber dagegen ließ sich nichts tun. Die Wasser- und Stromzufuhr waren gekappt worden. Das doppelstöckige Gebäude war wie so viele andere Mitte der Neunzigerjahre gebaute Häuser ohne eine alternative Heizquelle konzipiert worden. Erst gegen Ende der Obama-Administration, als die Energiepreise durch die Decke gingen, hatten die Leute begonnen, dies zu überdenken.

In der Kälte, auf sich allein gestellt, das war er. Er hatte es von jenem Moment an gewusst, als er sein Bild groß auf Rhoda Stevens Fernsehschirm prangen sah, zusammen mit dem Fahndungsaufruf des Bureaus. Eine schlechte Aufnahme, verschwommen … aber sein Leben war damit vorbei gewesen. Und seine Tage auf der Flucht hatten gerade erst begonnen.

Harry sprang auf die Beine und ein leicht sardonisches Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Er strich mit seiner behandschuhten Hand über den Empfänger der Kalaschnikow, spürte das kalte Metall durch das Neopren. Tief in sich drin hatte er die ganze Zeit gespürt, dass es einmal so kommen würde.

21:15 Uhr

Das Black Rooster

Washington, D.C.

Eine Sache, die unweigerlich in einer gewissen sozialen Unbeholfenheit unter Spionen mündete, war der universelle Drang, mit dem Gesicht zur Tür zu sitzen. Bernard Kranemeyer wertete es daher als ein Zeichen des Respekts, dass Thomas und Tex ihm diesen Platz überlassen hatten.

Des Respekts, und in dem Maße, wie es ihnen möglich war, auch des Vertrauens. Er war lange genug durch die Hölle gegangen, um sich dieses zu verdienen.

Thomas war bereits bei seinem zweiten Dark&Stormy angelangt, als der DCS endlich zum eigentlichen Punkt ihres Treffens kam. Er zog ein kleines HP-Notebook aus der Umhängetasche an seiner Seite, stellte es auf den Tisch und schaltete es ein.

Als der Computer lief, kramte er einen USB-Stick aus seiner Manteltasche und steckte ihn an der Seite in den kleinen Rechner. Kurz darauf erschien eine Datei auf dem Bildschirm.

»Ist es das, was ich glaube, das es ist?«, fragte Tex, der seine dunklen Augen zu obsidianfarbenen Dolchen zusammenkniff und Kranemeyer über den Tisch hinweg musterte.

Der Direktor verzog seinen Mund zu einem knappen Lächeln.

»Ich habe kurz darüber nachgedacht, mir die Dokumente einfach vorn in die Unterhose zu stopfen, aber …« Er zuckte mit den Achseln. »Datenklau hat sich seit den Tagen von Sandy Berger ziemlich gewandelt.«

»Wieso fangen wir nicht einfach damit an, was für eine Datei das ist und was sie außerhalb der Agency zu suchen hat?«, unterbrach ihn Thomas, der sich den letzten Rest Rum von den Lippen leckte. Plötzlich war er überhaupt nicht mehr durstig.

Kranemeyer seufzte. »Sie haben wahrscheinlich schon gehört, dass ich einen Anruf von Nichols erhielt, kurz nachdem er heute Morgen auf eigene Faust handelte und verschwand.«

Die beiden Männer nickten. »Während des Anrufs benutzte Nichols den Notfallcode Freefall

Thomas und Tex tauschten einen kurzen Blick miteinander aus. »Nie davon gehört.«

»Das sagte Lasker auch«, nickte der DCS. »War lange vor Ihrer Zeit.« Er räusperte sich. »Es war Ende November des Jahres 2000, und die Lage im Westjordanland spitzte sich gerade zu.« Dann schnaubte er. »Okay, streichen wir das – wann war die Lage in diesem gottverlassenen Landstrich jemals entspannt?«

Vom anderen Ende der Bar, wo eine Gruppe von Leuten Dart spielte, brandete Gelächter auf, und Kranemeyers Augen suchten instinktiv den Raum ab. Keine sichtbaren Gefahren. »David Lay war damals das dritte Jahr Station Chief in Tel Aviv, was bedeutete, dass die Operation RUMBLEWAY seiner Leitung unterstand. Ich war noch beim Militär, landete für die Dauer der Mission aber in Langleys Operations Directorate.«

Er deutete auf den Bildschirm. »Das sind die Missionsunterlagen für RUMBLEWAY. Nichols empfing mich am Ben-Gurion-Flughafen und weihte mich auf dem Weg in die Botschaft in alles ein. Er kam mir wie ein Kind vor … aber wie sich herausstellte, hatte er da schon beinahe ein ganzes Jahr Black-Ops-Erfahrung hinter sich. Er kannte die Sprachen, die Kultur und die wichtigsten Akteure in der Region. Hinter vorgehaltener Hand nannte man ihn schon den wiedergeborenen Lawrence von Arabien. In den Tagen vor 9/11 gab es niemanden, der die Region besser kannte als Nichols, und niemanden, der größeren Respekt vor den Menschen und ihrer Religion hegte. Es gab Zeiten, da fragte ich mich, ob er vielleicht selbst ein Moslem war. Aber wie sich herausstellte, war das falsch.«

»Worum ging es bei RUMBLEWAY?«, warf Tex leise ein.

»Es war kurz nach dem Bombenanschlag auf die USS Cole im Jemen. Die NSA hatte Zahlungen der PLO an die Familien der Selbstmordattentäter zurückverfolgen können. An sich nicht ungewöhnlich, aber sie gruben tiefer und fanden heraus, dass ein Mitglied der PLO die Operation unterstützte und mit Bin Laden zusammenarbeitete. Eine recht ungewöhnliche Verbindung, aber so läuft das eben im Terrorismus.«

Ein ironisches Kichern drang über seine Lippen, als sich der DCS in seinem Stuhl zurücklehnte. »Er war für beinahe zwanzig Jahre auf dem Radar des Mossad gewesen. ‘93 hatten sie versucht, ihn auszuschalten, aber die Regierung unter Clinton bekam davon Wind und bedrängte Rabin, den Todesbefehl aufzuheben. Dieser Drecksack – den ich Yusuf nennen werde – war Arafats Cousin.«

20:29 Uhr Ortszeit

Ein Appartement

Dearborn, Michigan

Das Rattern von Gewehrfeuer aus dem laut aufgedrehten Fernseher übertönte beinahe das Geräusch eines Schlüssels, mit dem die Vordertür aufgesperrt wurde. Beinahe, aber nicht ganz.

Nasir Khalidi sah gerade noch rechtzeitig von seinem Videospiel-Controller auf, um seinen Bruder durch die Tür kommen zu sehen. Als er sich wieder dem Fernsehschirm zuwandte, lag seine Spielfigur tot am Boden, von der Kugel eines Scharfschützen niedergestreckt.

Jamals Gesicht spiegelte sein nur allzu bekanntes Missfallen wider. »Diese Zeit, die du mit diesem Ding verschwendest …«

Ein Kichern entwich Nasirs Lippen, während er die RELOAD-Taste betätigte. »Ist eine nette Art, sich zu entspannen, nachdem man für acht Stunden hinten an einem Müllwagen hing.«

Fünf Sekunden, dachte er bei sich. Gleich geht es los.

Dieses Mal waren es eher zehn Sekunden, dann drang Jamals Stimme aus der Küchenecke, die das immergleiche Mantra wiederholte. »Eine nette Art zu entspannen? Ein Werkzeug der Imperialisten, wolltest du eigentlich sagen.« Wie ein Hase aus seinem Bau war sein Bruder urplötzlich wieder aus der Küche aufgetaucht und starrte ihn mit verschränkten Armen an. »Du weißt schon, dass die amerikanische Regierung diese … diese Spiele dazu benutzt, ihre Kreuzritter auszubilden und sie darauf zu konditionieren, unsere Brüder im Haus des Islam umzubringen.«

Nasir zuckte mit den Schultern und trank einen weiteren Schluck aus seinem Mountain Dew. »Wenn du es so sehen willst …«

»Wenn ich es so sehen will?«

»Entspann dich«, antwortete Nasir, der mit einem Tastendruck den Fernseher und die Spielkonsole ausschaltete. Offenbar würde es wieder eine von diesen Nächten werden. »Du hast deinen Sinn für Humor verloren, Bruder. Was ist nur aus dir geworden?«

Er sah, wie sein Bruder sich auf die Zunge biss, als würde er eine passende Antwort parat haben, die er jedoch nicht sagen wollte.

Nach einer Weile kehrte Jamal zu der Couch zurück und blieb zögernd hinter Nasir stehen. »Vergib mir, Bruder … eine Familie sollte sich nicht auf diese Weise streiten. Was aus mir geworden ist? Ich habe zu einem Glauben zurückgefunden, von dem ich dachte, ich hätte ihn für immer verloren«, flüsterte er ehrfürchtig, und für einen Moment schien er wieder der Bruder zu sein, den Nasir von früher kannte. »Und das hat meinem Leben wieder einen Sinn gegeben. Dasselbe wünsche ich mir auch für dich.«

Er drückte Nasirs Schultern. »Das ist alles, was sich unser Vater für uns gewünscht hätte.«

Und dann war er verschwunden und ließ Nasir allein in dem beengten, nunmehr dunklen Wohnzimmer ihres kleinen Appartements zurück.

Familie. Sie bedeutete ihnen alles. Sie war die einzige Verbindung zurück in eine Welt, die sie einmal gekannt hatten. Dieses Band durfte er nicht verraten, egal, wie groß ihre Differenzen auch sein mochten. Aus diesem Grund tauchte Jamals Name auch nie in den Berichten auf, die er in wöchentlichen Abständen im Austausch für ihre Freiheit ablieferte.

Und doch wusste er es – ganz egal, wie sehr er versucht hatte, es zu verleugnen, sich selbst etwas vorzumachen.

Es hat meinem Leben wieder einen Sinn gegeben.

Sein Bruder gehörte zu ihnen.

21:32 Uhr Ortszeit

Das Black Rooster

Washington, D.C.

»… wir wussten, dass wir ohne die Unterstützung Israels nicht gegen Yusuf vorgehen konnten, und das Letzte, was Clinton wollte, war, Arafat während seiner halbseidenen Präsidentschaft zu verärgern.« Kranemeyer schnaubte verächtlich. »Nach allem, was ich gehört habe, hätte er den Mistkerl sogar begnadigt, wenn ihn nicht jemand davon überzeugt hätte, dass wir ihn schnappen könnten. Ihn im Westjordanland einfangen, eine Tüte über den Kopf ziehen und nach Ägypten ausfliegen. Dort hätten sich Mubaraks Jungs um ihn kümmern können.«

»Als außerordentliche Auslieferung«, bemerkte Tex. Es schien seltsam, sich in diesen Tagen noch auf Mubarak zu beziehen, viele Jahre, nachdem er die Macht verloren hatte, aber zu jener Zeit war er das Gesicht Ägyptens gewesen.

Der DCS nickte. »Ganz genau, aber die Dinge liefen leider nicht wie geplant.«

»Wann tun sie das je?«, fragte Thomas bitter. Er starrte auf das Glas mit Brandy in seiner Hand hinunter, sein dritter Drink an diesem Abend. Der Alkohol begann seine Wirkung zu zeigen, das wusste er … aber zur Hölle, schließlich war es ein beschissener Tag gewesen!

»An dem Tag, an dem die Operation starten sollte, traf Nichols noch vor dem Morgengrauen in Ramallah ein, mit einer Kalaschnikow bewaffnet und als palästinensischer Fellache verkleidet. Über Stunden hinweg hörten wir nichts von ihm. Zusammen mit Avi ben Shoham und einem Überfallkommando der Sayeret Matkal bereitete ich mich ebenfalls auf einen Einsatz vor. Wir hätten auf der Ladefläche eines Pick-ups nach Ramallah hineinfahren sollen, mit schwarzen Balaklavas über den Köpfen und der grünen Flagge der Hamas. Mit etwas Glück hätten die PLO und die Hamas sich gegenseitig beschuldigt, und nicht uns.«

Der DCS unterbrach sich kurz, um an seinem Drink zu nippen. »Zwanzig Minuten vor unserem Start stellte Nichols den Kontakt her. Freefall. Dieser spezielle Notfallcode war als Signal bestimmt worden, eine Mission sofort abzubrechen. Wie sich herausstellte, wären wir direkt in eine Falle getappt. Zuerst glaubten wir, dass unser Informant uns verraten hatte, aber fünf Tage später fand man seine Leiche vor den Toren der Botschaft in Tel Aviv. Man hatte ihm die Genitalien abgetrennt und in den Mund gestopft.«

Willkommen im Mittleren Osten, dachte Thomas und ließ seinen Blick durch die Bar schweifen, in der Hoffnung, eine Kellnerin zu erspähen, die ihm nachschenken konnte. Man hatte sie hereingelegt. »Was geschah mit Yusuf?«

»Sechs Wochen nach Abbruch der Operation RUMBLEWAY stieg Yusuf in seinen Wagen und flog in die Luft. Die Explosion tötete ihn, seinen Leibwächter und seinen vierzehnjährigen Sohn. Unsere glaubwürdigste Information lässt darauf schließen, dass der Anschlag auf den Mossad zurückgeht.« Der DCS schüttelte den Kopf. »Und die Moral von der Geschichte? Leg dich niemals mit den Juden an.«

Tex räusperte sich. »Was hat das Ganze mit den Ereignissen von heute zu tun?«

Thomas lächelte in sich hinein und drehte das Glas zwischen seinen Fingern. Direkt auf den Punkt, so wie immer. Kein großes Herumgerede. So war Tex.

»Um ganz ehrlich zu Ihnen zu sein: Ich weiß es nicht«, antwortete Kranemeyer. »Aber das war die einzige Operation, in die Lay, Nichols und ich involviert waren, bevor ich zum DCS ernannt wurde.«

»Ein Signal?«, überlegte Thomas.

Der ältere Mann nickte. »Zehn Minuten nach dem Anschlag auf Lays SUV wurde ein Anruf von einem verschlüsselten Satellitentelefon ganz in der Nähe abgesetzt. Aus dem, was sie in Fort Meade entschlüsseln konnten, geht hervor, dass der Anrufer das Wort Eaglefire benutzte. Das war ebenfalls ein RUMBELWAY-Codewort.« Er beugte sich über den Tisch. Die Musik in der Bar hatte gewechselt, härtere Riffs lösten die bislang ruhigeren Klänge der Happy Hour ab. Bruce Springsteens Stimme, die »Born in the U.S.A.« schmetterte, half dabei, Kranemeyer Worte weiter untergehen zu lassen.

»Ich werde keinen von Ihnen fragen, ob Sie wissen, wohin Nichols gegangen sein könnte«, begann der DCS. Die beiden blickten sich nicht an. »Aber ich weiß, wie diese Dinge ablaufen. Jeder in diesem Geschäft verfügt über einen Notfallplan. Das galt schon zu meinen Delta-Force-Zeiten und ich halte mich immer noch daran. Wenn das FBI Harry zu fassen bekommt, stecken sie ihn in eine Zelle und werfen die Schlüssel weg. Und wenn meine Vermutungen zutreffen sollten und er auf direkten Befehl von David Lay handelt, müssen wir zuerst mit ihm reden.«

»Und Sie wollen, dass wir ihn für Sie finden?«, fragte Tex und starrte ihn mit seinen dunklen, unergründlichen Augen über den Tisch hinweg an.

»Offiziell nein«, erwiderte Kranemeyer, klappte das Notebook zu und steckte es in die Umhängetasche zurück. »Jeder weiß, dass die CIA nicht auf dem Boden der Vereinigten Staaten operieren darf.«

Dann verfinsterte sich sein Blick, und seine Gesichtszüge nahmen einen entschlossenen Ausdruck an. »Inoffiziell hingegen … kommen Sie bloß nicht ohne ihn wieder.« Kranemeyer erhob sich und zog seinen Mantel über. »Und falls sich herausstellen sollte, dass er tatsächlich ein Teil des Problems ist, dann wissen Sie, was zu tun ist. Waidmanns Heil, Jungs.«

Und damit war er verschwunden.

TAG DER ABRECHNUNG (Shadow Warriors 2)

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