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Kapitel 6
Оглавление14. Dezember
04:00 Uhr
Das zwangsversteigerte Haus
New Market, Virginia
Sie konnte seine Anwesenheit spüren, irgendwo in der Dunkelheit. Seinen Blick, mit dem er sie beobachtete. Wie spät war es?
Eine Hand berührte sie sanft an der Schulter. »Zeit, aufzubrechen.«
Harrys Stimme. Carol drehte sich auf den Rücken, streckte sich müde und sah zu ihm auf. Sie konnte sein Gesicht in der Dunkelheit kaum erkennen.
»Ein wenig geschlafen?«
Ihre einzige Antwort bestand aus einem Kopfschütteln. Sie zog den Reißverschluss ihres Schlafsacks auf und schwang ihre Beine aus dem Bett. »Und Sie?«
»Wenn, dann nur so, dass Sie nichts davon mitbekommen.« Ein freudloses Kichern untermalte seine Worte. »Über Nacht fielen fünfzehn Zentimeter Neuschnee und es schneit immer noch.«
Seine Stimme hatte sich verändert, wie sie feststellte. »Ist das ein Problem?«
»Es könnte eines werden«, antwortete er, während er ihr dabei zusah, wie sie den Schlafsack zusammenrollte. »Könnte auch ein Segen sein – wegen des Schnees werden ihre Hubschrauber nicht starten können. Deswegen werden sie ihr Suchraster für heute aber trotzdem ausweiten.«
Sie griff nach der Kahr und schob sie sich in ihre Jacke, nah an ihren Körper. »Haben Sie einen Plan?«
»So könnte man es nennen.«
04:23 Uhr
An der westlichen Grenze von Virginia
In der Nähe von Orkney
Der Morgen war kalt – kalt und dunkel, während der herabfallende Schnee sich grellweiß vor den blauen und roten Rundumleuchten abzeichnete. Der metallene Lauf der Mossberg 500 in den Händen von Deputy Sheriff Ricardo Sanchez fühlte sich sogar noch kälter an.
Mit einem leisen Fluchen legte der siebenundzwanzigjährige Sanchez die Pumpgun auf der Motorhaube des Polizeiwagens aus Shenandoah County ab und griff nach seiner Thermoskanne voll Kaffee.
Vier Stunden. Blieben noch drei. Verdammt, war das kalt. Die Umrisse seines Partners tauchten von der anderen Seite der Straßensperre aus zwei Fahrzeugen auf, die auf dieser Seite der Gebirgsbrücke errichtet worden war.
»Was gibts Neues?«, fragte Sanchez, dem das Handy seines Partners aufgefallen war.
»Nada, Rick«, antwortete Deputy Matthew Wilkes und schlang sich seine AR-15-Dienstwaffe um die Schultern. »Das war meine Frau. Wollte wissen, wann ich zurück bin. Ihr ist kalt.«
Darüber musste Sanchez lachen. Er konnte nicht anders. »Ihr seid jetzt drei Monate verheiratet, oder? Wie hat sie sich denn warm gehalten, bevor sie dir über den Weg gelaufen ist?«
»Hab ich sie noch nicht gefragt«, antwortete Wilkes mit einem trockenen Kichern. »Bin auch nicht sicher, ob ich das wissen will.«
»Kluger Mann. Wie lange noch – zehn Minuten bis zur nächsten Meldung?«
»Fünf. Sie haben die Frequenz erhöht. Dieser Nichols scheint einiges auf dem Kerbholz zu haben.«
»Hast du nicht die Elf-Uhr-Nachrichten auf FOX News gesehen?«, fragte Sanchez und warf seinem Partner einen ungläubigen Blick zu. »Afghanistan, Irak … dieser Kerl ist überall gewesen, und das ist nur der Teil, den sie uns erzählen wollen.«
»Und?«
Sanchez schüttelte den Kopf. Wilkes war schon immer jemand mit einer großen Klappe gewesen. Für gewöhnlich kam er damit klar. Aber heute Nacht? »Und das heißt, dass wir es hier mit Jason Bourne persönlich zu tun haben, und du das Ganze besser ernst nehmen solltest, compadre.«
04:31 Uhr
Das Safehouse
Culpeper, Virginia
»Tut mir wirklich leid, Jungs.« Das war bestimmt bereits das sechste Mal in den letzten fünf Stunden, dass Steve McNab diese Worte über die Lippen kamen. Die Worte eines Mannes, der nicht wusste, was er sonst hätte sagen sollen.
»Keine Ursache«, antwortete Thomas und sah über die Schulter zu dem F-16-Piloten im Ruhestand, der nun als Verwalter des Safehouses arbeitete. »Sie haben das Protokoll befolgt. Und das Protokoll besagt: Wenn Sie den Kreidestrich sehen, halten Sie sich fern. Und genau das haben Sie getan, bis wir Sie angerufen haben.«
»Manchmal beißt einen das Protokoll aber auch in den Schwanz«, war Tex‘ lapidarer Kommentar zu hören. Er kniete vor der geöffneten Tür des Waffenschranks mit einem Notizblock in der Hand.
»Geben Sie uns einen Moment, Steve«, bat Thomas den Piloten mit einer Geste, den Raum zu verlassen. Er wartete, bis McNab hinter der Tür verschwunden war, dann öffnete er seinen Laptop. »Harry fährt einen 2004er Ford Excursion, New Yorker Nummernschild, Kennzeichen Alpha Delta Neun Romeo Zwei Sieben. Das Fahrzeug ist auf einen Robert L. Stephenson zugelassen, also ist das wahrscheinlich einer seiner Decknamen.«
Tex sah von seinen Notizen auf. »Irgendwelche Kreditkarten unter diesem Namen?«
»Bestimmt … das überprüfe ich gerade.«
»Harry bevorzugte immer American Express, falls das etwas helfen sollte.«
»Typisch«, sagte Thomas, der sich rasch durch die Datenbank auf seinem Bildschirm klickte. »Gehen Sie nie ohne aus dem Haus. Hab sie … Ablaufdatum ist Februar 2018, ausgestellt auf den Namen Robert Lewis Stephenson. Na ja, zumindest hat er seinen Sinn für Humor noch nicht verloren.«
»Kannst du damit was anfangen?«
Thomas kniff die Augen zusammen, während er bis zum unteren Ende des Bildschirms scrollte. »Ich denke schon. Das Problem besteht darin, es ohne die Rückendeckung aus Langley tun zu müssen. Es gibt da eine Hintertür im Netzwerk von AmEx – Carol hat mir gezeigt, wie man da reinkommt, während der Caracas-Operation vor zwei Jahren.«
»Caracas?«, wunderte sich Tex, stand auf und kam zu ihm herübergelaufen. »Das war kurz nachdem sie überhaupt erst in Langley anfing – wie hat sie es geschafft, schon so schnell eine Freigabe für eine Hintertür wie diese zu bekommen?«
Ein amüsiertes Lächeln kroch über Thomas‘ Gesicht. »So wie ich die Geschichte verstanden habe, was es ihr Hintertürchen. Niemand stellte viele Fragen. Wenn ich da hineinkomme, finden wir ihn – sobald Harry mit der Karte etwas bezahlt.«
»Das könnte eine Weile dauern.«
Thomas sah zu Tex auf, dessen Gesicht vor seinen Augen immer wieder verschwamm. Er blinzelte und kämpfte gegen die drohende Müdigkeit und den Alkohol in seinem Blutkreislauf an. »Wieso?«
»Er hat alles an Bargeld mitgenommen.«
»Großartig«, ächzte Thomas und begrub das Gesicht in seinen Händen. Er hätte es wissen müssen.
»Wie viel?«
»Der Größe der Security-Box nach zu urteilen … und ausgehend von den gebräuchlichen Scheinen würde ich auf Zehntausend tippen. Minimum. Er wird sich einem Flughafen nicht mal auf zehn Kilometer nähern, und das ist so ziemlich der einzige Ort, an dem er mit Karte zahlen würde.«
Dann blieb nur Plan B. Die einzige Frage aber lautete: Was war Plan B?
05:02 Uhr
Der SUV
»Also, was tun wir jetzt?«
Carol, die sich eine Haarsträhne zurückstrich, sah von der Straßenkarte auf, die sie unter der Deckenbeleuchtung studiert hatte. »Wir nähern uns Orkney Springs. Noch zehn Meilen, dann sind wir in West-Virginia.« Sie sah in die Dunkelheit hinaus, die ihren Wagen umhüllte, und schaltete die Innenbeleuchtung aus. »Wann werden Sie mich in Ihren Plan einweihen?«
Wann? Er startete den Wagen und brachte ihn auf die Straße zurück.
»Ich denke, ich habe Samuel Han bereits erwähnt.«
»Das haben Sie.«
Harry räusperte sich, konzentrierte sich auf die vor ihm liegende Aufgabe. Die Nebenstraßen waren nicht geräumt worden – Virginia, so wie jedes andere Bundesland der Staaten auch, war seit Jahren knapp bei Kasse. Außerdem bedurfte es schon eines Wirbelsturms, um vor Weihnachten noch genügend Salz auf alle Highways zu bekommen.
Aber die Nebenstraßen? Keine Chance.
»Sammy war einer der besten Agenten, mit denen ich jemals zusammengearbeitet habe«, sagte er nach einer Weile. »Unerschütterlich. Er heiratete ein Mädchen namens Sherri aus Virginia Beach, bekam Zwillinge – zwei Jungen. Als sie heirateten, war er noch bei den SEALs in Little Creek, also wusste sie, wie der Hase läuft. Oder glaubte zumindest, es zu wissen.«
Er konnte ihren Blick auf sich spüren, als er für einen Moment schwieg. »Er war anders als die anderen. Also, um ehrlich zu sein, trägt niemand bei einem Einsatz seinen Ehering. Eine Menge Jungs nutzen die Gelegenheit, im Ausland so oft wie möglich einen wegzustecken. Aber nicht Sammy. Das mit ihnen war eine echte Liebesgeschichte. Der amerikanische Traum.«
»War?« Harry konnte den Schmerz in ihrer Stimme hören. Den Schmerz Hinterbliebener.
»Ja, es gibt immer ein war. Sherri war daran gewöhnt, dass er mitten in der Nacht aufbrach – aber sie konnte sich nie an die Häufigkeit der Einsätze bei der Special Activities Division gewöhnen. Sammy war mehr unterwegs als zu Hause. Viele Frauen hätten ihn deswegen verlassen, aber sie blieb.«
Die Räder des Excursion schlingerten ein wenig in dem nassen, glitschigen Schneematsch, und Harry lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf die Straße. »Wir kommen an eine Kreuzung – rechts oder links?«
»Links«, antwortete sie nach einem kurzen Blick auf die Karte in ihrer Hand.
»Sammy war im Einsatz, als es passierte«, fuhr Harry fort, nachdem er den SUV nach links um die Kurve gelenkt hatte. »Sein Sohn Lee spielte auf der Straße in der Nähe ihres Hauses in Norfolk mit dem Ball, als er von einem Wagen erfasst wurde. Wie sich herausstellte, saß ein alter Mann am Steuer, Mitte achtzig. Er war durcheinander gekommen und hatte Gaspedal und Bremse verwechselt. Wir waren in der Wüste vom Jemen, als ich den Anruf erhielt, und ich musste entscheiden, ob ich es ihm erzähle.«
»Das haben Sie, oder nicht?«, hakte sie nach, als er zögerte.
»Ein abgelenkter Operator ist ein toter Operator«, antwortete Harry ruhig. »Wir waren seit drei Wochen untergetaucht. Ich hatte zwei Möglichkeiten: Es Sammy erzählen und die Mission abblasen, oder es ihm zu verschweigen und die Mission durchzuziehen.«
»Drei«, widersprach Carol mit eisiger Stimme.
»Was?«
»Sie hatten noch eine dritte Möglichkeit – es Han zu erzählen und ihm zu vertrauen, dass er einen klaren Kopf behält.«
Harry sah aus dem Fenster des SUV. Weißer Schnee trieb vor der nächtlichen Dunkelheit der Appalachen vorbei. Kiefern, die unter der schweren Schneedecke ächzten, flackerten im Licht der Scheinwerfer auf.
»Das stand nicht zur Debatte«, sagte er schließlich. »Die Leute tun oft so, als wäre Vertrauen so etwas wie eine Tugend. Aber das ist es nicht. Es ist vielmehr eines der größten und trügerischsten Laster. Vertrauen tötet.«
05:17 Uhr
Die Grenze zu West-Virginia
Langeweile. Das war der schlimmste Teil ihres Jobs. Deputy Sanchez griff nach der Pumpgun und lief zur Vorderseite des Streifenwagens.
Vor drei Jahren hatte er sich dem Shenandoah County Sheriffs Departement angeschlossen, aus einer Laune heraus. Zu der Zeit war sein Job als Montagearbeiter auf Eis gelegt worden und die Regierung war so ziemlich der einzige Arbeitgeber gewesen, der noch Leute einstellte. Ein Job wie dieser musste einfach aufregender sein, als einen Bulldozer zu fahren.
Mit der Mossberg unter den Arm geklemmt, hauchte er in seine Hände und musste innerlich kichern. Aufregend …
Ja, schon klar. Seine Dienstwaffe, eine Glock, hatte er in den drei Jahren im Dienst erst zweimal abgefeuert. Selbst zum Schießstand ging er kaum noch.
Ein Wagen schälte sich ohne Vorwarnung aus der verschneiten Nacht. Die Lichter eines großen Ford Excursion strahlten den Deputy direkt an.
Das vierte Fahrzeug in einer weitestgehend ereignislosen Nacht. Sanchez lief in die Mitte der Straße und Wilkes ging hinter ihm in Position, während er mit einer Handbewegung den SUV zum Halten brachte.
Das Fenster auf der Fahrerseite wurde heruntergelassen, als Sanchez sich ihm näherte.
»Deputy Sanchez, Shenandoah County Sheriffs Departement. Führerschein und Zulassung bitte, Sir«, forderte der Deputy die einzige Person in dem Excursion auf, einen Mann Mitte vierzig.
Das Profil seines Gesichts … Sanchez sah auf den zerknitterten Ausdruck in seiner Hand hinunter. Das Bild von Nichols war ohnehin schon nicht sonderlich deutlich gewesen, doch nun hatte der fallende Schnee die Fotokopie zusätzlich verschwimmen lassen. Farbausdrucke waren ihnen mittlerweile untersagt, wegen der Budgetkürzungen.
»Sicher doch«, antwortete der Fahrer des SUV und griff langsam ins Handschuhfach. »Auf der Suche nach dem Spion?«
Sanchez zuckte unwillkürlich zusammen. »Wieso fragen Sie?«
Der Fahrer kicherte und reichte ihm durchs Fenster seine Papiere. »Weil Sie für eine normale Verkehrskontrolle ziemlich stark bewaffnet sind. Ich hab die ganze Geschichte gestern Abend auf CNN verfolgt, ist echt ‘ne verrückte Sache, was?«
»Das stimmt«, antwortete der Deputy und betrachtete ausgiebig das Foto auf dem Führerschein. Robert Stephenson.
»Sie sind aus New York?«
»Ja, noch«, antwortete Harry und sah dem Deputy mit der spanischen Herkunft in die Augen. »Meine Frau ist vor einem Monat wegen ihrer Arbeit hierhergezogen – und ich komme nach, sobald ich einen Job gefunden habe.«
Der Deputy gab ihm mit einem verächtlichen Schnauben die Dokumente zurück. »Kein guter Zeitpunkt dafür. Was arbeitet Ihre Frau denn?«
Das schien eine beiläufige Frage zu sein, aber Harry konnte ein leichtes Funkeln in den Augen des Deputys sehen. Nicht schlecht. »Sie ist eine private Krankenschwester. Ihrem Patienten – der wohl mal ein hohes Tier bei Apple war – hatte man empfohlen, aus der Stadt rauszuziehen, wegen des Smogs, der Luftverschmutzung und all so was. Also kam sie hierher.«
Ein Kopfnicken. »Und was führt Sie zu so später Stunde noch raus auf die Straße, Mr. Stephenson?«
»Ich hab Sie seit achtundzwanzig Tagen nicht mehr gesehen, Kumpel.« Harry hob entschuldigend die Hände. »Kein Grund, mitten in der Nacht irgendwo anzuhalten, wenn sie gleich hinter den Bergen dort auf mich wartet. Ich war einsam.«
»Und frustriert«, ergänzte der Deputy mit einem schiefen Grinsen.
Harry lachte. »Ja, das auch.«
Das Grinsen verschwand so schnell, wie es gekommen war. »Ich muss Sie bitten, aus Ihrem Wagen auszusteigen, Mr. Stephenson. Die Hände so, dass ich sie sehen kann.«
Ihm blieb keine Zeit, sich zu fragen, was ihn verraten hatte. Harry griff nach unten, löste seinen Sitzgurt und öffnete die Tür des Excursion. Es handelt sich um eine Zwei-Personen-Straßensperre, und der zweite Deputy kam bereits auf sie zugeeilt, eine AR-15 fest mit seinen in Handschuhen steckenden Händen umklammert.
Die Art, wie er das Sturmgewehr hielt, verriet Harry alles, was er wissen musste. Der Deputy hatte keine Ahnung, wie man damit umging. Das konnte ein Vorteil, aber auch ein Nachteil sein.
»Behalt ihn im Auge, Wilkes.«
Sein Blick wanderte nach Süden, wo er die Umgegend mit einem einzigen Blick erfasste, bevor ihn der erste Deputy herumdrehte, gegen die Motorhaube lehnte und abzutasten begann.
Er hatte Lichter im Süden gesehen, die Lichter eines Hauses, die durch den Schnee gedrungen waren. Wahrscheinlich keine hundert Meter hinter der Straße. Nahe genug, um zu hören, wenn Schüsse abgefeuert wurden.
Harry spürte, wie Hand des Deputys an seinem Körper hinuntertastete, unter seine Jacke, und er lächelte, dankbar dafür, dass er die 1911 Carol überlassen hatte. Jetzt musste sie sich nur noch genau an das halten, was er ihr gesagt hatte – außer Sicht bleiben.
»Er ist sauber«, hörte er den Deputy rufen, der daraufhin einen Schritt von ihm zurücktrat. »Wenn Sie uns Ihre Schlüssel geben würden, Mr. Stephenson, würde ich gern einen Blick in Ihren Kofferraum werfen.«
Selbst nach so vielen Jahren, so vielen Einsätzen konnte Harry noch spüren, wie sich sein Körper bei dieser Frage verkrampfte. Der Punkt, an dem seine Lügengeschichte zusammenbrechen würde. Die Waffen – nun, die waren sicher in dem eigens dafür eingebauten Fach unter dem falschen Boden des Excursion versteckt. Aber die Notrationen, die restliche Ausrüstung … das würde zu viele Fragen aufwerfen. Also jetzt oder nie.
»Die Schlüssel stecken im Zündschloss«, erklärte er mit einer vagen Handbewegung und nutzte die Gelegenheit für einen letzten Blick auf die Positionen der beiden Männer. Der Mann mit dem Namen Sanchez befand sich etwas über einen Meter zu seiner Linken, nahe der geöffneten Tür des SUV. Er würde derjenige sein, der die Schlüssel holen würde.
Der zweite Deputy stand auf Armlänge hinter ihm, fahrlässig nahe, die AR-15 lose in den Händen. Wenn er sich an sein Training hielt, war die Waffe sogar noch gesichert.
Männer wie er würden nie etwas anderes als Trainingssituationen kennenlernen.
Sanchez ließ die Pumpgun sinken und beugte seinen Oberkörper in den Excursion hinein. Seine Finger tasteten das Zündschloss nach den Schlüsseln ab. Das war der Moment, in dem Harry zuschlug, sich mit seinem gesamten Körpergewicht gegen die offene Tür warf.
Die Fahrertür des Excursion war gepanzert, um Einschlägen von 7.62mm Gewehrmunition standzuhalten. Das hatte das Gewicht der Tür verstärkt, die nun gegen Sanchez‘ Unterschenkel schlug und ihn einklemmte. Ein Schrei, halb vor Schmerz, halb vor Überraschung, zerriss die Nacht.
Harry wirbelte durch den Schnee, seine Hand fuhr im selben Moment nach oben, als der zweite Deputy einen Schritt zurücktrat und mit seinen Fingern an dem Sicherheitshebel der AR-15 herumnestelte.
Harrys Hand traf gegen Wilkes Kehle, mit einem brutalen Handkantenschlag, der ihn zurücktaumeln ließ.
Der Deputy brach im Schnee zusammen und krallte wild nach seinen zerquetschten Stimmbändern. Harry ließ sich neben ihm auf die Knie fallen, zog die Glock 19 aus Wilkes Holster, riss sie nach oben und zog den Schlitten zurück, um sie zu laden.
Aus dem Augenwinkel nur nahm Harry eine Bewegung wahr, also presste er den Lauf der Glock gegen die Schläfe des auf dem Boden liegenden, japsenden Deputys. Er blickte auf und erkannte Sanchez, der mit vorgehaltener Mossberg auf ihn zuhumpelte. Die Mündung der Waffe wirkte so groß wie die Öffnung eines Kanonenrohrs, ein gähnender Schlund, so schwarz wie die Nacht selbst.
»Noch ein Schritt und ich jage ihm eine Kugel in den Kopf«, erklärte Harry ruhig und ließ Sanchez nicht aus den Augen. Der Deputy blieb wie in Schockstarre stehen. Die Schrotflinte zitterte in seinen Händen. Er keuchte, große Atemwolken entwichen seinen Lippen und drifteten in die Dunkelheit. Die roten und blauen Lichter der Streifenwagen flackerten unbeirrt weiter über die Schneelandschaft und verliehen der Szenerie einen zusätzlichen surrealen Anstrich.
»Das … das würden Sie nicht tun«, sagte er schließlich mit zitternder Stimme. »Sie würden keinen Cop töten.«
Harrys Blick blieb unverändert, doch seine Lippen formten ein kaltes, böses Lächeln. »Glauben Sie das ruhig, wenn Sie wollen. Sie können das dann auch seiner Witwe erzählen. Ich habe fünfzehn Jahre meines Lebens damit verbracht, Menschen zu töten … was macht da schon eine Leiche mehr oder weniger?«
»Sie werden es niemals lebend hier rausschaffen«, erklärte Sanchez und hob die Pumpgun wieder an seine Schulter. Harry konnte sehen, wie seine Hände zitterten, konnte die Unsicherheit sehen, die ihm quer über sein Gesicht geschrieben stand. Die Verzweiflung eines Mannes, der nicht wusste, ob er es über sich bringen würde, den Abzug zu drücken.
»Das ist kein Film, Kleiner«, sagte Harry und streckte ihm seine linke Hand entgegen. »Versuch also besser nicht, den Helden zu spielen. Niemand muss hier sein Leben lassen. Leg einfach nur das Gewehr hin und wir gehen alle nach Hause.«
Es verging ein scheinbar unendlich langer Moment, in dem der Deputy in quälender Unentschlossenheit gefangen schien. Schließlich verlagerte Sanchez die Mossberg in seine linke Hand und warf sie in den Schnee. »Sie haben gewonnen.«
Harry stand auf, die Glock in seiner Hand zielte jetzt auf Sanchez‘ Herz. »Drehen Sie sich um.«
04:28 Uhr Ortszeit
Ein Appartement
Dearborn, Michigan
Tarik stand noch vor Sonnenaufgang auf, noch bevor der Ruf zum Faijr, dem Morgengebet, über die Stadt erschallte.
Sicher, es war nur eine Aufnahme, nichtsdestotrotz aber ein wunderschöner Klang, und einer, der in diesem Land immer häufiger zu hören war.
Ein stummes Lächeln huschte über das Gesicht des Pakistanis und in seinen verträumten Augen flackerte für einen kurzen Moment ein Licht auf. Das war der Wille Allahs. Er lief zum Fenster, öffnete die Jalousien und blickte über die Stadt hinweg, deren Lichter in der Dunkelheit funkelten. Dār al-Harb.
Das Haus des Krieges.
Sein Laptop auf dem kleinen Tischchen neben seinem Bett war noch aufgeklappt, und die Website, die er letzte Nacht besucht hatte, noch auf dem Bildschirm zu sehen.
Das Gesicht einer Frau starrte ihn von dem Display an, kühn, ohne jede Scham – eine Frau um die fünfzig, ihr unbedeckter Kopf von braunen Haaren umrahmt. United States Representative Laura Gilpin, Texas, lautete die Bildunterschrift.
Er erinnerte sich an das Gesicht. Er würde sich immer an dieses Gesicht erinnern, wutverzerrt hinter einer Reihe von Mikrofonen. Sie hatte die Gegner seiner Freilassung aus Guantanamo angeführt, eine selbsterklärte Kreuzritterin. So typisch für die Amerikaner, die stets Worte benutzten, ohne sich deren Bedeutung in Gänze vor Augen zu führen.
Tarik lächelte, griff nach der Maus, doppelklickte auf die VERANSTALTUNGEN-Schaltfläche ihrer Website und scrollte so weit hinunter, bis er das Ende der aufgeführten Termine erreichte. 25. Dezember – noch elf Tage. Nur elf Tage. Der Pakistani lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und versank in einen Zustand der Meditation, während die Worte der Sure seinen Geist füllten.
Sind sie denn sicher davor, dass nicht eine überwältigende Strafe von Allah über sie kommt, oder dass nicht plötzlich die Stunde über sie kommt, während sie nichtsahnend sind?
05:31 Uhr Ortszeit
Crooked Run Road
An der westlichen Grenze Virginias
Harry war gerade damit fertig geworden, die bewusstlosen und mit Kabelbindern gefesselten Körper der beiden Deputys auf der Rückbank des Streifenwagens abzulegen, als er eine Bewegung wahrnahm und hinter sich im Schnee ein Geräusch hörte.
Kurzerhand ließ er Deputy Sanchez auf den Rücksitz fallen, wirbelte mit der Glock in beiden Händen herum und zielte auf die Bedrohung.
Carol. Er ließ die Waffe sinken und nahm den Finger vom Abzug. »Ich dachte, ich hätte Ihnen gesagt, dass Sie die Straßensperre durch die Baumkette umgehen und etwas weiter die Straße hinunter auf mich warten sollen.«
Sie strich sich ein paar Schneeflocken von ihrem Arm und ließ ihn nicht aus den Augen, während sie auf ihn zuschritt. »Und Sie wollten sich mit einer Ausrede durchmogeln. Was ist schiefgelaufen?«
»Sie stellten zu viele Fragen.« Er schlug die hintere Tür des Streifenwagens zu. »Wir müssen von hier verschwinden – in der Gegend wird es von Bureau-Agenten nur so wimmeln, wenn sie keine Rückmeldung bekommen. Und dann werden sie unser Nummernschild kennen.«
Carol sah ihn an. »Nicht unbedingt.«
Harry schüttelte den Kopf und schob sich die Glock unter seine Jacke. »Sobald sie das Kennzeichen prüfen lassen, wird die Suche nach der Nummer in der Datenbank aufgezeichnet. Das ist die Standardvorgehensweise.«
Ihre Lippen öffneten sich zu dem ersten Lächeln, das er an ihr gesehen hatte, seit dieser Albtraum begonnen hatte. »Das ist Standardvorgehensweise … was aber nicht bedeutet, dass die Datenbank nicht gehackt werden kann. Wenn ich es schaffe, die Nummern auszutauschen, bevor die Suchanfrage eine Warnung ausspuckt …«
Das war verlockend – beinahe zu verlockend. »Dafür haben wir keine Zeit«, sagte er schließlich. »Tut mir leid.«
Sie trat näher heran und ihre Augen durchbohrten ihn mit geradezu respekteinflößender Intensität. »Ich schaffe das. Fünf Minuten.«
Es verging einige Zeit, bevor er als Antwort lächelnd das Gesicht verzog. Er schritt an ihr vorbei, um eine Beobachtungsposition über der Straße zu beziehen, und legte ihr im Vorbeigehen eine Hand auf den Arm. »Dann hauen Sie mal in die Tasten!«
06:42
NCS-Einsatzzentrum
Langley, Virginia
Im Einsatzzentrum herrschte bereits Hochbetrieb, als Danny Lasker zur Tür hereinkam und sich seine Schlüsselkarte in seine Hemdtasche zurücksteckte.
Nicht, dass es an diesem Ort jemals ruhig gewesen wäre – der Clandestine Service war rund um die Uhr mit einer Notmannschaft aus Kommunikationsspezialisten und Analytikern besetzt – aber dieser Morgen war anders.
»Morgen, Ron«, grüßte Lasker, als er den Bürowürfel des Analytikers passierte. Als Antwort bekam er ein Grunzen zu hören. Er hängte seinen Mantel über die Rückenlehne seines Stuhls, bevor er Carter einen zweiten Blick zuwarf.
Blaues Anzughemd, voller Schweißflecken. Schwarze Hose, die im Clinch mit Knitterfalten lag. Immer noch die gleiche Krawatte, am Hals gelockert, mit den roten und grünen Weihnachtsornamenten, die der Länge nach daran hinunterliefen.
Sein Blick wanderte über Carters Arbeitsplatz. Auf der einen Seite des LCD-Monitors stand eine große Thermoskanne Kaffee, auf der anderen ein bereits deutlich dezimierter Karton mit Bagels. »Sie sind gestern Abend nicht nach Hause gegangen, oder?«
Ein Kopfschütteln. »Sehen Sie sich das mal an.«
Lasker gab sich einen Ruck und ließ seinen Stuhl über den Boden rollen, bis zu Carter hinüber. »Was gibt’s?«
Der Analytiker öffnete ein Browserfenster und rief ein Bild von Harry Nichols auf. Eine alte Aufnahme, Überwachungskamera-Qualität. »Dieses Bild ging gestern ans Bureau und die Polizeikräfte raus. Es wurde verändert.«
»Sind Sie sicher?«
Carter stieß ein gereiztes Ächzen aus. »Ich bin Fotoanalytiker – natürlich bin ich sicher. Jemand hat absichtlich daran herumgeschraubt, bevor es rausgeschickt wurde.«
»Wer hatte Zugang dazu?«
»Genau das kann ich nicht sagen … aber ganz eindeutig wollten sie es dem Bureau damit schwerer machen.« Carters Gesicht verfinsterte sich. Wut kroch in seine rotgeäderten Augen. »Und das ist nicht das Einzige. Jemand führt uns an der Nase herum.«
Nach ein paar weiteren Klicks tauchte ein weiteres Foto auf dem Bildschirm auf. »Was halten Sie davon?«
Das Bild zeigte ganz eindeutig die Unterseite eines menschlichen Armes. Den Arm eines toten Mannes.
»Ein Freund beim Bureau hat mir die hier letzte Nacht geschickt. Aufnahmen aus dem Leichenschauhaus, von den beiden Russen, die gestern auf dem Highway getötet wurden.« Unter den aufmerksamen Blicken Laskers malte Ron mit seiner Maus einen roten Kreis um eine kleine weißliche Stelle aus Narbengewebe.
»Sieht aus, als hätte sich dort jemand ein Tattoo entfernen lassen«, stellte Danny fest und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Eine alte Freundin von mir hat sich mal eine Drachentätowierung über ihrem Hintern entfernen lassen. Das sah genauso aus.«
Zu einem anderen Zeitpunkt hätte Carter darüber einen Witz gerissen oder ihn zumindest nicht einfach mit einer Anekdote wie dieser davonkommen lassen. Aber nicht an diesem Morgen. »Wissen Sie, was dort stand? Das war kyrillisch.«
»Na und? Laut dem Bureau waren das Russkies.«
Ein verzweifelter Fluch entwich Carters Lippen. »Das ist nicht der Punkt. Das hier waren die kyrillischen Buchstaben A und B. Der andere Mann trug eine 0 auf seinem Unterarm.«
»Ihre Blutgruppen«, keuchte Lasker. Es war, als hätte jemand das Licht eingeschalten. »Speznas.«
»Exakt. Mit einiger Sicherheit Korsakovs Männer. Und das Bureau tut weiterhin so, als wären das ganz gewöhnliche Kriminelle gewesen.«
»Das ergibt keinen Sinn. Wieso sollten sie so etwas tun?«
»Keine Ahnung. Aber ich will verdammt sein, wenn ich es nicht herausfinde.« Carter sah ihn an, das verfinsterte Gesicht zu einer wehleidigen Grimasse verzogen. »Ich habe Luke in den Tod geschickt, Danny. Ich muss herausfinden, wieso.«
08:29 Uhr
Das Lagerhaus
Manassas, Virginia
Auf dem Bildschirm schwärmte eine größere Schar von Personen in blauen Jacken und mit grellgelbem FBI-Aufdruck auf dem Rücken in den Randbezirk von Virginia aus und huschte von Deckung zu Deckung. Ihr Zielobjekt, welches man durch die Helmkamera eines der Agenten verfolgen konnte, war ein weißes Terrassenhaus am Ende einer Sackgasse mit einem grauen Ford Excursion in der Einfahrt.
Während sich die Agenten noch in taktischer Formation mit schussbereiten AR-15 näherten, tauchte ein grauhaariger Mann in der Garagentür des Terrassenhauses auf. Er trug noch immer seinen Morgenmantel.
Sofort richteten sich alle Waffen auf ihn. »Auf den Boden! Nehmen Sie die Hände hoch! FBI!«
Ein schmales Lächeln huschte über Korsakovs Gesicht, als er die Videoübertragung abschaltete. »Wann fand die Razzia statt?«
»Vor zwanzig Minuten.«
»Nun, dann waren unsere Vermutungen korrekt, Viktor. Wie immer.«
Der Junge grinste. »Da. Sie waren gut«, gestand er widerwillig ein, »aber nachlässig. Sie waren schnell. Vielleicht fanden sie ein paar Codeschnipsel von unserem Eindringen in die Datenbank.«
»Genügt das, um das wirkliche Kennzeichen rekonstruieren zu können?«
Viktor dachte einen Moment darüber nach und fuhr sich mit den Fingern über seinen Dreitagebart, während er dabei auf den Bildschirm starrte. »Njet«, sagte er schließlich. »Sie haben gute Arbeit geleistet, aber das spielt keine Rolle.«
Gut.
»Wie lange noch, bis sich das Signal von Chambers Tracker einschaltet?«
»Neunzig Minuten.«
09:33 Uhr
West Virginia
»Was glauben Sie – wie viel Zeit bleibt uns noch?«
Sie befanden sich jetzt tief in den Bergen. Vor einigen Kilometern hatten sie ein paar Schneepflüge hinter sich gelassen – die einzigen Fahrzeuge, denen sie in den letzten dreißig Minuten begegnet waren. Harry tippte auf die Bremse, verlangsamte den Excursion etwas, um die kurvige Gebirgsstraße passieren zu können. Der Schnee verwischte den Übergang zu dem steilen Abhang an einer Seite der Straße, aber er war immer noch da.
»Schwer zu sagen«, antwortete er. »Ist schon eine Weile her, seit das Bureau das letzte Mal nach mir suchte.«
Ihr Gesichtsausdruck war unbezahlbar. »Eine Weile? Das ist schon mal vorgekommen?«
Harry schüttelte den Kopf. »Nicht so wirklich. Sommer ‘05, ausgedehntes Wiederholungstraining auf der Farm. Sechs von uns ließen sie in D.C. laufen, mit geheimen Befehlen und zwei Stunden Vorsprung vor den G-Men.«
»Sie haben zu viel Zeit mit Carter verbracht«, bemerkte sie. »Wie ist es Ihnen ergangen?«
»Zwei von uns hielten die achtundvierzig Stunden durch und absolvierten die Mission. Wie sich herausstellte, hatte Kranemeyer eine Wette über eintausend Dollar mit dem Leiter der Antiterroreinheit des FBI laufen. Er gewann.«
»Dann haben Sie es also geschafft. Wer war der andere glückliche Gewinner?«
Der Blick in seinen stahlgrauen Augen verfinsterte sich.
»Sammy Han.«
09:38 Uhr
Die Allegheny Mountains, in der Nähe von Bickle Knob
West Virginia
In dem Wald herrschte Totenstille. Die schwere Schneedecke des frühen Morgens bedeckte alles wie ein Leichentuch.
Schnee knirschte unter seinen Schneeschuhen, als der große Mann zwischen den Bäumen auftauchte und mit geübter Leichtigkeit über die Schneedecke glitt. Seine Hose und sein Parka waren in Winterdigitaltarnmuster gehalten, US-Armee-Uniform, schon einige Jahre alt. Aus ein paar Metern Entfernung betrachtet verschmolz er damit mit dem Hintergrund.
Er blieb eine Weile stehen und musterte das vor ihm liegende Gelände. Eine Bewegung am Fuße des Berghanges erregte seine Aufmerksamkeit und er nahm seine Rayban ab, unter der ein schmales, scharfgeschnittenes asiatisches Gesicht zum Vorschein kam. Er konnte kaum älter als einundvierzig sein, höchstens dreiundvierzig, aber seine Augen … seine Augen waren älter. Die Augen eines Mannes, der im Leben schon zu vieles mit angesehen hatten. Zu viel Tod.
Er hob das .308 FNH SCAR-Sturmgewehr in seinen Händen und zielte mit ihm hinunter ins Tal, dorthin, wo er die Bewegung ausgemacht hatte. Da – der Kopf eines Hirsches tauchte im Zielfernrohr der SCAR auf und ein Schaudern fuhr durch Samuel Hans Körper.
Er ließ das Gewehr sinken und wischte sich mit seinem Handschuh über die Stirn. Fünfzehn Grad Fahrenheit. Fünf Grad unter der Windkühle. Und er schwitzte.
Es war an der Zeit umzukehren. Jeder Mensch hatte seine Grenzen. Er durfte nicht wieder an einen Punkt wie beim letzten Mal gelangen. Zu viele Erinnerungen.
Han sicherte die SCAR und wandte sich nach Westen. Nach Hause. Ein Kompass ruhte in der Brusttasche seines Parkas, aber er machte sich nicht die Mühe, ihn zu befragen. Nach zweieinhalb Jahren, in denen er nun schon durch diese Wälder streifte, kannte er sie fast so gut, wie er einst die Wüste gekannt hatte.
So viele Erinnerungen …
09:41 Uhr
West Virginia
»Was ist passiert?«
Harry sah in den Rückspiegel. Seit ein paar Minuten war dort nur ein Wagen zu sehen, ein viertüriger Nissan. Etwas, das man im Auge behalten sollte. »Mit wem?«
»Han. Seiner Ehe.« Da war ein seltsamer Klang in ihrer Stimme, neugierig, aber auch zögerlich.
»Als Sammy aus dem Jemen zurückkehrte, lag sein Sohn bereits zwei Wochen auf der Intensivstation. Lebenserhaltung«, antwortete Harry und holte tief Luft. »Er kam durch. Sie wissen ja, was man über kleine Kinder sagt: sie erholen sich wieder, wenn man sie mit all ihren Sachen umgibt, aber es dauerte sechs Monate, bis er wieder nach Hause durfte. Doch er sollte nie wieder laufen können. Sammy traf es hart und er verbrachte immer mehr Zeit in Langley.«
Hinter ihnen bog der Nissan auf eine Seitenstraße ab. Falscher Alarm. »Es schien, als würde es ihm Schmerzen bereiten, bei seiner Familie zu sein – also stürzte er sich in die Arbeit. Der Heilungsprozess erwies sich als schlimmer als der Unfall selbst. Einmal fuhr ich bei ihnen vorbei und führte ein langes Gespräch mit Sherri. Sie wollte alles zusammenhalten, aber die Belastungen als Mutter, Krankenschwester und Frau eines ständig abwesenden Ehemannes zermürbten sie zusehends. Mit Sammy darüber zu sprechen, war so, als würde man mit einer Wand reden, und weder sie noch ich schafften es, zu ihm durchzudringen.«
»Also verließ sie ihn?«, fragte Carol leise. Er nickte.
Ein leises, freudloses Kichern drang über ihre Lippen.
»Was ist so lustig?«
»Nichts«, antwortete sie und sah ihn an. »Sie sind nur der erste Mann, den ich kenne, der nicht versucht, die Schuld für die Scheidung der Frau in die Schuhe zu schieben.«
Er zuckte mit den Schultern und konzentrierte sich wieder auf die Straße vor ihm. Schwarzes Eis hatte sich unter dem Schatten eines Nadelbaums gebildet und er dirigierte den SUV darum herum. Der gepanzerte Excursion verhielt sich anders auf der Straße als ein gewöhnliches Fahrzeug. »Wenn eine Beziehung den Bach runtergeht, gibt es meistens genug Gründe für Schuld und Vorwürfe. Aber am Ende spielt das alles keine Rolle. Nach der Scheidung bat Sammy Kranemeyer, wieder in den Einsatz geschickt zu werden. Wir nahmen uns für die Entscheidung ein paar Wochen Zeit, aber schließlich kamen wir seiner Bitte nach.«
»Und?«
»Und die nächste Mission führte uns nach Aserbaidschan«, antwortete Harry. Aus den Augenwinkeln sah er sie zusammenzucken. Die Mission ereignete sich, noch bevor sie sich der Agency angeschlossen hatte, doch der Einsatz galt in Langley als legendär. Aus den falschen Gründen.
Zehn Männer sprangen mit Fallschirmen über dem winterlichen Aserbaidschan ab. Zwei komplette Einsatzteams – Alpha und Charlie. Ihr Zielobjekt: Ein russischer Konvoi, von dem man annahm, dass er Atomwaffen in den Iran transportierte.
Achtundvierzig Stunden vor Missionsantritt fiel der Anführer des Charlie-Teams mit einer Lungenentzündung aus. Und Sammy meldete sich freiwillig dafür, seinen Platz einzunehmen.
Zu jenem Zeitpunkt schien das eine gute Idee zu sein. Trotz seiner untergeordneten Rolle im Alpha Team besaß der Asiat bereits Führungserfahrung aus seiner Zeit bei den SEALs.
Harry räusperte sich. »Aserbaidschan, genau. Zehn Männer starteten … und nur fünf kamen wieder zurück. Zwei Männer wurden von den Querwinden im Gebirge erfasst und überlebten die Landung nicht. Sammy war der einzige Überlebende des Charlie-Teams, der letzte Strohhalm.«
»Was hat er aber damit zu tun, dass wir nun in West Virginia sind?«
»Alles«, erwiderte Harry. »Zwei Tage nach unserer Rückkehr aus Aserbaidschan reichte er seine Kündigung ein. Er verkaufte sein Appartement und so gut wie alles, was er besaß, und verschwand von der Bildfläche. In diese Berge. Eine wilde Gegend, von der Außenwelt weitgehend abgeschieden. Genauso, wie Sammy es wollte.«
»Und er wird sich freuen, Sie wiederzusehen?«
Es dauerte lange, bis Harry darauf antwortete und mit sich rang, was er dazu sagen sollte … wie viel Ehrlichkeit an diesem Punkt angemessen sein würde. Aber eigentlich machte es keinen großen Unterschied, denn früher oder später würde sie es selbst herausfinden.
»Nein«, entgegnete er schließlich. »Nein, er wird alles andere als erfreut sein.«