Читать книгу Hoher Einsatz - Sue Grafton - Страница 4
2
ОглавлениеGegen eins war ich wieder zu Hause und sehr zufrieden mit meinem Leben. Ich hatte einen neuen Auftrag, eine Wohnung, von der ich begeistert war ...
Das Telefon begann zu klingeln, als ich die Tür aufsperrte. Ich schnappte mir den Hörer, bevor der Automat sich einschaltete.
»Ms. Millhone?« Eine mir unbekannte weibliche Stimme. Die zischenden Geräusche in der Leitung verrieten, dass es ein Ferngespräch war.
»Ich verbinde mit Mr. Galishoff.«
»Ich warte.« Meine Neugier war sofort geweckt. Lee Galishoff war Anwalt im Büro des Pflichtverteidigers von Carson City, Nevada. Vor etwa vier Jahren hatte ich einmal mit ihm zusammengearbeitet. Damals versuchte er einen Typen namens Tyrone Patty aufzuspüren, der sich in unserer Gegend aufhalten sollte. Man hatte einen gewissen Quincey Jackson verhaftet, weil er in Verdacht stand, an einem bewaffneten Raubüberfall beteiligt gewesen zu sein. Die Anklage lautete auf versuchten Mord an dem Verkäufer eines Schnapsladens. Jackson behauptete, Tyrone Patty habe geschossen, und Galishoff war sehr daran interessiert, sich mit Patty zu unterhalten. Angeblich war Patty nach Santa Teresa geflohen, und als es der hiesigen Polizei nicht gelang, ihn ausfindig zu machen, hatte Galishoff mit dem Ermittler vom Büro des Pflichtverteidigers von Santa Teresa Kontakt aufgenommen, der ihn an mich verwies. Galishoff schilderte mir die Situation und schickte mir dann die nötigen Informationen über Patty, zusammen mit einem Foto, das bei einer früheren Verhaftung gemacht worden war.
Ich befasste mich drei Tage mit der Sache – eine reine Wühlarbeit; ich durchforschte das Telefonbuch der Stadt, die Heiratslizenzen, Scheidungsurteile, Totenscheine; die Gerichtsprotokolle der ersten und zweiten Instanz und landete schließlich beim Verkehrsgericht. Auf die Spur kam ich ihm, als ich einen Strafzettel entdeckte, der eine Woche vorher ausgestellt worden war – wegen verkehrswidrigen Verhaltens als Fußgänger. Auf dem Strafzettel war eine Adresse in Santa Teresa angegeben – die eines Freundes, wie sich erwies –, und Patty öffnete mir selbst. Ich gab mich als Kosmetikberaterin aus und hatte Glück, nicht auf die Frau des Hauses zu stoßen. Jede Frau, die ihrer fünf Sinne mächtig war, hätte auf den ersten Blick gewusst, dass ich von Kosmetik keine Ahnung hatte. Patty, der sich von anderen Instinkten leiten ließ, hatte mir die Tür vor der Nase zugeknallt. Ich meldete Galishoff, wo er sich aufhielt. Galishoff hatte inzwischen auch einen Zeugen gefunden, der Jacksons Aussage bestätigte. Die Staatsanwaltschaft von Carson City stellte einen Haftbefehl aus. Patty wurde zwei Tage später verhaftet und ausgeliefert. Als ich das letzte Mal von ihm hörte, saß er in Carson City im Staatsgefängnis von Nevada.
Galishoff meldete sich. »Hallo, Kinsey? Lee Galishoff hier. Hoffentlich störe ich Sie nicht.« Er hatte eine dröhnende Stimme, die mich zwang, den Hörer zwanzig Zentimeter vom Ohr wegzuhalten. Telefonstimmen können täuschen. Ich hatte ihn mir immer als etwa Sechzigjährigen mit Glatze und Übergewicht vorgestellt. Doch nachdem ich in einer Zeitung aus Las Vegas ein Foto von ihm entdeckt hatte, wusste ich, dass er ein schlanker, gut aussehender Mann in den Vierzigern mit einem dichten blonden Schopf war.
»Aber nein, überhaupt nicht«, sagte ich. »Wie geht’s?«
»Bis jetzt gut. Tyrone Patty sitzt wieder und wartet auf seinen Prozess. Die Anklage lautet auf dreifachen Mord.«
»Wie ist es denn dazu gekommen?«
»Er hat gemeinsam mit einem Freund einen Schnapsladen hier in der Gegend überfallen. Dabei wurden der Verkäufer und zwei Kunden erschossen.«
»Ach! Davon habe ich noch gar nichts gehört.«
»Warum sollten Sie auch? Es geht um etwas anderes. Er ist stinksauer auf uns und behauptet, sein Leben sei an dem Tag zerstört worden, an dem er eingesperrt wurde. Sie wissen, wie das geht. Die Frau hat sich scheiden lassen, die Kinder sind ihr zugesprochen worden, er wird entlassen und findet keinen Job. Da ist er natürlich rückfällig geworden und hat alles niedergeknallt, was sich ihm in den Weg stellte. Alles unsere Schuld, wie könnte es auch anders sein?«
»Na klar. Warum nicht?«
»Tja, aber jetzt kommt’s. Allem Anschein nach hat er vor ein paar Wochen versucht, einen Mithäftling als Killer anzuwerben; dabei ging es um uns beide, den Bezirksstaatsanwalt und den Richter, der ihn verurteilt hat.«
Ich ertappte mich dabei, dass ich verblüfft auf den Hörer schielte und mir an die Brust tippte. »Haben Sie gesagt, es ging um uns beide? Wie – um Sie und mich?« Meine Stimme klang plötzlich so, als sei ich im Stimmbruch.
»Sie haben’s erfasst. Glücklicherweise war der Mithäftling ein Polizeiinformant, der sofort zu uns gekommen ist. Der Staatsanwalt hat ein paar Polizisten eingeschleust, die sich als Berufskiller ausgeben. Ich habe mir eben eine Bandaufnahme angehört, bei der Ihnen das Blut in den Adern gefroren wäre.«
»Ist das Ihr Ernst?«
»Es kommt noch schlimmer«, sagte er. »Aus dem Band geht nicht hervor, mit wem er außerdem gesprochen haben könnte. Wir sind besorgt, dass er Kontakte mit Leuten hatte, von denen wir nichts wissen. Wir haben die Presse informiert und hoffen, dass die Sache dadurch für mögliche Interessenten zu heiß wird. Richter Jarvison und ich bekommen rund um die Uhr Polizeischutz, aber man war der Meinung, ich solle auch Ihnen Bescheid sagen. Informieren Sie die Polizei in Santa Teresa, damit man Sie ebenfalls schützt.«
»Gott, Lee, ich kann mir nicht denken, dass man meinetwegen einen solchen Aufwand treibt, vor allem nicht, wenn die Drohung aus einem anderen Bundesstaat kommt. Dazu haben sie hier nicht genug Leute und auch nicht das nötige Kleingeld.« Ich hatte diesen Mann noch nie beim Vornamen genannt, doch nach dem, was ich eben gehört hatte, war mir diese Anrede einfach so herausgerutscht. Wenn Patty der Anstifter war, waren Galishoff und ich gemeinsam zu Opfern ausersehen.
»Eigentlich stehen wir hier vor der gleichen Situation«, sagte er. »Lange kann uns die Polizei nicht überwachen – vier oder fünf Tage. Allerhöchstens. Danach müssen wir sehen, wie wir allein zurechtkommen. Vielleicht wollen Sie sich inzwischen privat jemanden anheuern? Zumindest vorübergehend.«
»Einen Leibwächter?«
»Nun ja, jemanden, der mit Sicherheitsmaßnahmen vertraut ist.«
Ich zögerte. »Das muss ich mir überlegen«, sagte ich. »Ich möchte nicht kleinlich erscheinen, aber es würde mich ein Vermögen kosten. Glauben Sie wirklich, dass es notwendig wäre?«
»Sagen wir so – an Ihrer Stelle würde ich es nicht darauf ankommen lassen.«
»Oh!«
»Oh, in der Tat. Was er für uns bezahlt, ist noch dazu eine glatte Beleidigung. Fünftausend für uns vier. Das sind nicht einmal fünfzehnhundert pro Kopf.« Er lachte, aber ich denke nicht, dass ihm besonders fröhlich zu Mute war.
»Ich kann’s einfach nicht glauben«, sagte ich, noch immer bemüht zu fassen, was ich gehört hatte. Wenn man mit einer schlechten Nachricht konfrontiert wird, gibt es immer eine Zeitverzögerung, ehe das Gehirn im Stande ist, die Information zu begreifen.
»Ich wüsste jemanden, falls Sie sich dazu entschließen«, sagte Galishoff. »Ein hiesiger Privatdetektiv mit Erfahrung im Personenschutz. Im Moment ist er ziemlich ausgelaugt, aber er ist ein hervorragender Mann.«
»Genau das, was ich brauche – jemanden, dem seine Arbeit zum Hals heraushängt.«
Galishoff lachte wieder. »Lassen Sie sich dadurch nicht beirren. Der Typ ist gut. Er hat vor Jahren in Kalifornien gelebt und liebt es. Vielleicht hat er Lust auf einen Tapetenwechsel.«
»Ich nehme an, er ist verfügbar.«
»So viel ich weiß – ja. Ich habe erst vor ein paar Tagen mit ihm gesprochen. Er heißt Robert Dietz.«
Ich zuckte leicht zusammen. »Dietz? Den kenn ich. Hab vor etwa einem Jahr wegen einem meiner Fälle mit ihm telefoniert.«
»Haben Sie seine Telefonnummer?«
»Die muss hier irgendwo sein, aber Sie können sie mir trotzdem geben.«
Er nannte sie mir, und ich schrieb sie auf. Damals hatte ich mit dem Mann nur telefonisch zu tun gehabt, aber er war gründlich und tüchtig gewesen und hatte keinen Cent von mir verlangt. Ich schuldete ihm wirklich was. Bei Galishoff klingelte das Telefon.
»Warten Sie einen Moment«, sagte er. Er schaltete auf eine andere Leitung um, blieb eine Weile weg und schaltete sich wieder ein. »Tut mir Leid, aber ich muss jetzt Schluss machen, da ist ein Gespräch für mich. Teilen Sie mir mit, wie Sie sich entscheiden, ja?«
»Mach ich«, sagte ich. »Und: danke. Passen Sie auf sich auf.« »Sie auch.« Und weg war er.
Ich legte auf, starrte den Apparat aber immer noch an. Ein Mordauftrag? Wie oft hatte im vergangenen Jahr jemand versucht, mich umzubringen? Nun, so oft auch nicht, dachte ich voller Abwehr, aber das ist etwas Neues ... Soviel ich wusste, hatte noch nie jemand einen bezahlten Killer auf mich angesetzt. Ich versuchte mir Tyrone Patty vorzustellen, wie er in Carson City die Sache mit einem Profikiller besprach. Irgendwie kam es mir merkwürdig vor. Erstens konnte ich mir einen Menschen, der auf diese Art sein täglich Brot verdiente, nur schwer vorstellen. War es Saisonarbeit? Gab es Sonderprämien? War der Preis herabgesetzt, weil gleich vier auf einen Streich abzuservieren waren? Ich musste Galishoff recht geben – fünfzehnhundert Dollar pro Kopf waren ein Klacks. Im Kino bekommen gedungene Mörder fünfzig- bis hunderttausend; wahrscheinlich will man dem Publikum vorgaukeln, das menschliche Leben sei so viel wert. Ich nehme an, ich hätte mich geschmeichelt fühlen sollen, weil ich mit von der Partie war. Ein Offizialverteidiger, ein Bezirksstaatsanwalt und ein Richter? Eine vornehme Gesellschaft für eine Privatschnüfflerin aus der Kleinstadt wie mich. Ich betrachtete Robert Dietz’ Telefonnummer, brachte es aber nicht fertig, ihn anzurufen. Vielleicht war die Krise vorbei, ehe ich etwas zu meinem Schutz unternehmen musste. Die entscheidende Frage war, sollte ich mit Henry Pitts über die Sache sprechen? Nein. Er würde sich nur aufregen – wozu also?
Als es klopfte, zuckte ich zusammen, als hätte mich ein Schuss getroffen. Zwar drückte ich mich nicht flach an die Wand, aber ein bisschen vorsichtiger als sonst war ich schon, als ich hinausspähte, um zu sehen, wer da war. Es war Rosie, der eine Kneipe in der Nachbarschaft gehört. Sie ist Ungarin und hat einen Familiennamen, den ich nicht aussprechen könnte und aus dem Stegreif auch nicht buchstabieren kann. Ich glaube, sie ist eine Art Mutterersatz, jedoch nur für jemanden, der sich gern von einer Geschlechtsgenossin schurigeln lässt. Sie steckte in einem ihrer Muumuus – einem losen Kleid, wie es in Hawaii getragen wird; dieses war olivgrün, bedruckt mit Inseln, Palmen und Papageien in schrillem Pink und Chartreuse. In der Hand hatte sie einen mit einer Papierserviette zugedeckten Teller.
Als ich die Tür öffnete, schob sie mir den Teller wortlos unter die Nase; das war nun mal ihr Stil. Es gibt Leute, die ihn ungehobelt nennen.
»Hab dir zum Geburtstag ein Stück Strudel gebracht«, sagte sie. »Nicht Apfel. Nuss. Der beste, den ich je gemacht habe. Schmeckt nach mehr.«
»Das ist aber nett, Rosie!« Ich hob ein Eckchen der Papierserviette an. Der Strudel war angeknabbert, aber sie hatte nicht sehr viel genascht. »Der sieht ja wunderbar aus«, sagte ich.
»Es war Klotildes Idee«, antwortete sie in einem Anfall von Aufrichtigkeit. Rosie ist in den Sechzigern, klein, mit mächtiger Oberweite und orange getöntem Haar von der Farbe frisch gebrannter Ziegel. Ich habe keine Ahnung, welches Produkt sie benutzt, um diese Wirkung zu erzielen (wahrscheinlich etwas, das sie von ihren alljährlichen Reisen ins heimische Budapest mitbringt und ins Land schmuggelt), aber gewöhnlich erstrahlt auch ihre Kopfhaut am Scheitel in einem feurigen Pink. Heute hatte sie das Haar seitlich straff zurückgekämmt und mit Spangen befestigt – eine Frisur, wie sie von Fünfjährigen begeistert getragen wird.
Die beiden letzten Wochen hatte ich damit verbracht, eine Unterkunft für ihre Schwester Klotilde zu suchen, die vor kurzem aus Pittsburgh, wo die Winter für sie zu streng wurden, nach Santa Teresa gezogen ist. Rosie kann nicht Auto fahren, und da ich in derselben Straße wohne, in der ihr kleines Lokal liegt, hatte ich ihr angeboten, bei der Suche nach einer Bleibe für Klotilde zu helfen. Klotilde war klein und untersetzt wie Rosie und nach dem gleichen Tönungsmittel süchtig, das Rosies Kopfhaut pink färbte und ihren Strähnen diesen merkwürdigen Rotton gab. Klotilde saß im Rollstuhl. Sie litt an einer Degenerationskrankheit, die sie reizbar und unduldsam machte; Rosie schwor allerdings, so sei sie schon immer gewesen. Sie hackten ständig aufeinander herum, und nach einem Nachmittag in ihrer Gesellschaft wurde auch ich reizbar und unduldsam. Nachdem wir fünfzehn oder sechzehn Adressen abgeklappert hatten, fanden wir endlich etwas Passendes. Klotilde wurde in einem Zimmer im Parterre eines ehemaligen Zweifamilienhauses an der Ostseite der Stadt untergebracht, und ich war meiner Pflicht ledig.
»Willst du reinkommen?« Ich hielt die Tür offen, während Rosie überlegte, ob sie die Einladung annehmen sollte.
Sie stand da wie angewurzelt, auf Ballen und Fersen wippend. Manchmal tut sie kokett, meist wenn sie plötzlich unsicher ist. Im eigenen Stall ist sie so aggressiv wie eine kanadische Wildgans. »Vielleicht ist dir meine Gesellschaft nicht angenehm«, sagte sie und blickte bescheiden zu Boden.
»Ach, komm schon«, sagte ich. »Mir ist deine Gesellschaft sehr angenehm. Du musst dir die Wohnung ansehen. Henry hat großartige Arbeit geleistet.«
Sie wackelte einmal mit den Hüften, schob sich seitlich ins Wohnzimmer und begutachtete es aus den Augenwinkeln. »Oh! Sehr hübsch.«
»Ich bin hingerissen. Warte, bis du erst das Obergeschoss gesehen hast!« Ich stellte den Strudel auf die Küchentheke und setzte schnell Teewasser auf. Dann führte ich sie durch das ganze Apartment, die Wendeltreppe hinauf und hinunter, zeigte ihr das Rollbett, die Nischen, die Kleiderhaken. Sie bewunderte alles gebührend und schalt mich nur milde wegen meiner spärlichen Garderobe. Sie behauptet immer, dass sich nie ein Mann für mich interessieren wird, solange ich nicht mehr als ein einziges Kleid besitze.
Nach der Besichtigung tranken wir Tee und aßen den mürben Strudel, jeder Bissen war ein Genuss. Mit der angefeuchteten Fingerspitze räumte ich noch die letzten Krümel vom Teller. Rosies Unbehagen schien zu schwinden, während das meine sich steigerte, je länger ihr Besuch dauerte. Ich kannte die Frau seit zwei Jahren, doch mit Ausnahme der letzten Wochen hatte sich unsere Beziehung ausschließlich auf meine Besuche in ihrem Lokal beschränkt, über das sie wie eine Tyrannin herrscht. Wir hatten nicht besonders viel miteinander zu reden, und ich ertappte mich dabei, dass ich mich in Klatsch und Tratsch rettete, um Verlegenheitspausen im Gespräch zu überbrücken. Als wir mit dem Tee fertig waren, warf ich verstohlene Blicke auf die Uhr.
Rosie nagelte mich mit einem Blick fest. »Was ist los? Hast du eine Verabredung?«
»Nein, das nicht. Aber einen Auftrag. Morgen fahre ich in die Wüste und muss heute noch zur Bank, bevor sie schließt.«
Sie streckte einen Finger aus und tippte mir auf den Arm. »Heute Abend kommst du zu mir ins Lokal. Ich gebe einen Schnaps aus.«
Wir gingen gleichzeitig. Ich bot ihr an, sie mitzunehmen und abzusetzen, aber ihr Lokal ist nur einen halben Block entfernt, und sie sagte, sie gehe lieber zu Fuß. Das Letzte, was ich von ihr sah, war ihr Muumuu, das sich in der sanften Frühlingsbrise blähte wie ein Heißluftballon kurz vor dem Start.
Ich fuhr in die Stadt und machte einen kleinen Umweg über den automatischen Kassenschalter meiner Bank, wo ich Mrs. Gershs Vorschuss deponierte und hundert Dollar in bar abhob. Ich fuhr um den Block herum und parkte meinen Wagen auf dem öffentlichen Parkplatz hinter meinem Büro. Ich muss gestehen, die Nachricht über den Profikiller hatte mir bewusst gemacht, dass ich auch einen Rücken hatte, und ich unterdrückte den Drang, im Zickzack die Außentreppe hinaufzulaufen.
Im Büro packte ich meine Reiseschreibmaschine, ein paar Akten und meine Pistole ein und schaute dann bei der California Fidelity Insurance nebenan rein. Ich schwatzte ein bisschen mit Darcy Pascoe, die zugleich Sekretärin und Empfangsdame ist. Sie hatte mir bei einigen Fällen geholfen und dachte daran, umzusatteln. Ich war der Ansicht, sie würde eine gute Ermittlerin abgeben, und ermutigte sie. Privatdetektivin zu sein ist wesentlich interessanter, als im Vorzimmer eines anderen auf dem Hintern zu hocken.
Ich beendete meine Runde in Vera Liptons Bürozelle. Vera gehört zu den Frauen, nach denen die Männer verrückt sind. Ich schwöre, dass sie nichts Besonderes dazu tut. Wahrscheinlich ist es die Aura absoluter Selbstsicherheit, die sie umgibt. Sie mag Männer, und das wissen sie, auch wenn sie ihnen mal eine schnippische Abfuhr erteilt. Sie ist siebenunddreißig, Single und süchtig nach Zigaretten und Coca-Cola, die sie den lieben langen Tag konsumiert. Doch bei ihr regen sich nicht einmal die Gesundheitsfanatiker darüber auf. Sie ist groß, wiegt ungefähr hundertdreißig Pfund, hat rotes Haar und trägt eine Brille mit großen, runden, grau getönten Gläsern. Ich weiß, das klingt ganz und gar nicht nach einer Traumfrau, doch sie hat etwas an sich, dem man anscheinend nur schwer widerstehen kann. Sie ist nicht promiskuitiv, aber wenn sie in den Supermarkt geht, wird garantiert irgendein Typ ein Gespräch mit ihr anfangen und sich dann monatelang mit ihr treffen. Ist die Beziehung zu Ende, bleiben sie meistens so gute Freunde, dass sie ihn mit einer Freundin oder Bekannten verkuppelt.
Sie saß nicht an ihrem Schreibtisch. Gewöhnlich spüre ich sie auf, wenn ich ihrem Zigarettenrauch nachgehe, aber heute hatte ich Schwierigkeiten. Ich räumte einen Stuhl ab, setzte mich und blätterte ein paar Minuten in einem Handbuch für Versicherungsbetrug. Wo Geld ist, findet immer jemand eine Möglichkeit zum Betrug.
»Hallo, Kinsey. Was gibt’s?«
Vera kam herein und warf eine Akte auf den Schreibtisch. Sie hatte einen Overall mit Schulterpolstern und weißem Ledergürtel an, setzte sich in ihren Drehsessel und griff automatisch in die unterste Schreibtischschublade, wo sie eine Kühltasche mit Cola aufbewahrte. Sie nahm eine Flasche heraus und hielt sie mir hin.
Ich schüttelte den Kopf.
Sie sagte: »Merkst du was?«
»Ich fürchte nein.«
»Schau dich um, und sag mir, was du siehst.«
Ich liebe solche Quizfragen. Sie erinnern mich an das Spiel, mit dem wir uns auf Kindergeburtstagen in der Grundschule vergnügten: Irgendeine Mom präsentierte uns ein Tablett mit allem möglichen Kram, den wir eine Minute ansehen durften, um hinterher aus dem Gedächtnis aufzuzählen, wie viele Gegenstände wir uns gemerkt hatten. Es ist das einzige Partyspiel, das ich je gewonnen habe. Ich musterte Veras Schreibtisch. Das gleiche alte Durcheinander, soviel ich sehen konnte. Überall Akten, Versicherungshandbücher, Stapel von Korrespondenz. Zwei leere Colaflaschen ... »Keine Zigarettenstummel«, sagte ich. »Wo ist der Aschenbecher?«
»Ich habe aufgehört zu rauchen.«
»Das glaub ich nicht. Wann?«
»Gestern. Ich bin aufgewacht und hab mich elend gefühlt, hab mir fast die Lunge aus dem Leib gehustet. Ich hatte keine Zigaretten mehr, also kriech ich auf allen vieren durch die Wohnung und durchsuche den Abfall nach einem Stummel, der groß genug ist, dass ich ihn anzünden kann. Natürlich finde ich keinen. Ich weiß, dass ich mir ein paar Klamotten überwerfen, die Wagenschlüssel schnappen und an die Ecke spritzen muss, bevor ich auch nur meine erste Cola intus habe. Und da denk ich mir, zum Teufel damit. Ich hab’s satt. Das tu ich mir nicht mehr an. Also hab ich aufgehört. Das ist jetzt einunddreißig Stunden her.«
»Großartig, Vera. Ich bin richtig stolz auf dich.«
»Danke. Ich fühle mich wohl. Ich wünschte nur, ich könnte zur Feier des Tages eine rauchen. Bleib hier, du kannst mich alle sieben Minuten hechelnd nach Luft schnappen sehen, wenn die Gier mich überfällt. Was hast du vor?«
»Ich bin auf dem Weg nach Hause und nur vorbeigekommen, um tschüss zu sagen. Morgen bin ich nicht da, und wir wollten doch zusammen lunchen.«
»Schade. Ich habe mich darauf gefreut. Wollte dich mit jemandem zusammenbringen.«
»Mit jemandem zusammenbringen? Ein Rendezvous mit einem Unbekannten?« Die Aussicht war für mich ungefähr so verlockend wie ein Besuch beim Zahnarzt.
»Warum dieser Ton, Kindchen? Der Typ ist einfach perfekt für dich.«
»Ich mag gar nicht fragen, was das heißen soll«, sagte ich.
»Es soll heißen, dass er nicht verheiratet ist wie jemand, dessen Namen ich dir nennen könnte.« Sie bezog sich auf Jonah Robb, der so etwas wie eine Rin-in-die-Kartoffeln-und-raus-aus-die-Kartoffeln-Ehe führte, was natürlich Konflikte mit sich brachte. Seit vergangenem Herbst war ich mit Unterbrechungen mit ihm liiert, aber das Hochgefühl war längst abgeflaut.
»Die Beziehung ist ganz in Ordnung«, sagte ich.
»Ist sie nicht«, fauchte sie. »Er ist nie da, wenn du ihn brauchst. Dauernd sitzt er mit dieser Wie-sie-auch-immer-heißt in irgendeiner Eheberatung.«
»Ja, das stimmt leider.« Jonah und Camilla zogen von einem Therapeuten zum anderen und wechselten ihn, wenn sich eine Lösung abzeichnete. Konfliktabhängig nennt man das, glaube ich. Sie waren seit der siebten Klasse zusammen und anscheinend süchtig nach der dunklen Seite der Liebe.
»Er wird sie nie verlassen«, sagte Vera.
»Damit hast du wahrscheinlich Recht, aber wen kümmert’s?«
»Dich – und das ist dir auch völlig klar.«
»Gar nicht wahr«, erwiderte ich. »Und ich will dir mal was sagen. In meinem Leben ist wirklich kein Platz für viel mehr Partnerschaft. Ich will keine große, hitzige Liebesaffäre. Jonah ist ein guter Freund, und für meine Begriffe kümmert er sich oft genug um mich ...«
»O Mann, du bist aber weit weg vom Fenster.«
»Ich will deine abgelegten Liebhaber nicht, Vera, nur darum geht’s.«
»Er ist kein abgelegter Liebhaber. Eher eine Empfehlung.«
»Willst du mit mir ein Verkaufsgespräch führen? Ich sehe dir doch an, dass du genau das willst. Los, informier mich. Ich kann es kaum erwarten.«
»Er ist perfekt.«
»›Perfekt‹. Gut«, sagte ich und tat so, als machte ich mir Notizen. »Sehr schön. Was noch.«
»Er hat nur einen Fehler.«
»Ah!«
»Ich bin ganz aufrichtig«, erklärte sie, von Rechtschaffenheit durchdrungen. »Wäre er absolut perfekt, würde ich ihn für mich behalten.«
»Wo ist der Haken?«
»Dräng mich nicht. Dazu komme ich schon noch. Zuerst möchte ich seine Pluspunkte aufzählen.«
Ich warf einen Blick auf meine Uhr. »Du hast dreißig Sekunden.«
»Er ist intelligent. Er hat Humor. Er ist rücksichtsvoll. Er ist tüchtig ...«
»Womit verdient er seinen Lebensunterhalt?«
»Er ist praktischer Arzt, aber nicht arbeitssüchtig. Er nimmt sich Zeit für Gefühle. Ehrlich. Er ist ein lieber Kerl, lässt sich nichts gefallen.«
»Weiter.«
»Er ist fünfunddreißig, war nie verheiratet, ist aber an einer festen Bindung ernsthaft interessiert. Er ist körperlich fit, raucht nicht, nimmt keine Drogen, ist aber in dieser Beziehung nicht fanatisch, du verstehst schon, was ich meine. Fühlt sich nicht über andere erhaben.«
»Hm-hm-hhhm«, sagte ich monoton und forderte sie mit einer schwungvollen Handbewegung auf, zur Sache zu kommen.
»Er sieht auch gut aus. Das meine ich ernst. Auf einer Skala von eins bis zehn würde ich ihn auf achteinhalb setzen. Er fährt Schi, spielt Tennis, ist Gewichtheber ...«
»Er kriegt ihn nicht hoch«, sagte ich.
»Er ist fantastisch im Bett.«
Ich fing an zu lachen. »Also, was stimmt nicht, Vera? Ist er ein Idiot? Erzählt er Witze? Du weißt, ich hasse Kerle, die Witze erzählen.«
Sie schüttelte den Kopf. »Er ist klein.«
»Wie klein?«
»Vielleicht einszweiundsechzig, und ich bin einsvierundsiebzig.«
Ich sah sie ungläubig an. »Na und? Du bist schon mit einem halben Dutzend Typen ausgegangen, die kleiner waren als du.«
»Ja, aber im Vertrauen – es hat mich immer gestört.«
Ich sah sie noch eindringlicher an. »Du wirst ihn doch nicht deshalb abblitzen lassen?«
»Hör mal, er ist wunderbar«, sagte sie trotzig. »Er ist nur nicht der Richtige für mich. Ich gebe kein Urteil über ihn ab. Das ist nur eine Marotte von mir.«
»Wie heißt er?«
»Neil Hess.«
Ich bückte mich und holte ein Stückchen Papier aus dem Papierkorb. Dann nahm ich einen Füller von ihrem Schreibtisch. »Gib mir seine Telefonnummer.«
Sie blinzelte mich an. »Du willst ihn wirklich anrufen?«
»He, ich bin nur einssiebenundsechzig. Was machen schon fünf Zentimeter unter Freunden?«
Sie gab mir seine Nummer, ich notierte sie mir pflichtgetreu und steckte den Zettel in meine Handtasche. »Ich fahre für einen Tag weg, aber ich ruf ihn an, sobald ich zurück bin.«
»Das ist großartig.«
Ich stand auf, um das Büro zu verlassen, blieb aber an der Tür stehen. »Wenn ich den Typen heirate, musst du bei der Hochzeit Blumen streuen.«