Читать книгу Hoher Einsatz - Sue Grafton - Страница 7

5

Оглавление

Bevor ich Agnes Grey sah, hörte ich sie bereits. Mrs. Renquist und ich waren die breite, geschwungene Treppe in den ersten Stock hinaufgestiegen. Wir sprachen kaum miteinander, als wir durch den oberen Korridor gingen. Der Charakter einer Grundschule war auch hier noch auf seltsame Weise erhalten geblieben, trotz der umfangreichen Umbauten, die notwendig gewesen waren, um die Räumlichkeiten ihrer derzeitigen Nutzung anzupassen. Die ehemaligen Klassenzimmer waren sehr groß gewesen, mit breiten Doppelfenstern, die vom Boden bis fast zur Decke reichten. Licht strömte durch die Scheiben hinter dünnmaschigem Drahtgeflecht. Das Holzwerk war noch original, polierte Eiche, zu einem schimmernden Rostbraun gealtert. Hier oben hatte man die abgetretenen Holzfußböden mit marmorierten weißen PVC-Fliesen belegt, und die früher weitläufigen Räume waren in kleine Zweibettzellen unterteilt worden. Die Wände waren hellgrün und hellblau gestrichen. Alles war sehr sauber, wenn auch unpersönlich, die Luft geschwängert mit den säuerlichen Ausdünstungen intimer Körperfunktionen. Überall sah man alte Menschen, in den Betten, in Rollstühlen, auf Krankentragen, in dem breiten Korridor auf harten Holzbänken kauernd; untätig, von ihrer Umgebung isoliert, da ihre Sinne mit den Jahren immer schwächer geworden waren. Sie schienen so reglos wie Pflanzen, die sich damit abgefunden hatten, dass sie nur unregelmäßig gegossen wurden. Bei einer solchen Lebensweise musste jeder schrumpfen und eingehen: keine Bewegung, keine Luft, keine Sonne. Sie hatten nicht nur Freunde und Familie, sondern auch die meisten Krankheiten überlebt, so dass sie mit achtzig und neunzig unangreifbar schienen, dazu ausersehen, ohne Erlösung ein Leben zu ertragen, das sich bis in gähnende Ewigkeiten dehnte.

Wir kamen an einem Bastelzimmer vorüber, wo sechs Frauen an einem Tisch saßen und aus Nylonschlingen auf roten Metallrahmen Topfuntersetzer herstellten. Ihre Bemühungen fielen genauso unglücklich aus wie die meinen, als ich mich mit fünf Jahren in derselben Fertigkeit versuchte. Ich hatte den Scheiß schon damals verabscheut und freute mich nicht gerade darauf, mich am Ende meiner Tage wieder damit beschäftigen zu müssen. Vielleicht hatte ich Glück und wurde von einem Bierlaster überfahren, bevor man mich zu etwas so Entwürdigendem zwang.

Der Aufenthaltsraum lag offenbar direkt vor uns, denn mir schlug das Geplärr eines Fernsehers entgegen, laut genug, dass auch in ihrer Hörfähigkeit beeinträchtigte Ohren der Dokumentarsendung folgen konnten, die allem Anschein nach gerade gezeigt wurde. Das Trommeln und Kreischen ließ auf Stammesriten einer Kultur schließen, die von Stille nichts hielt. Wir bogen nach links ab und betraten ein Sechsbettzimmer, in dem die Patientinnen nur durch Vorhänge voneinander getrennt waren. Am Ende des Raums entdeckte ich die Quelle des Aufruhrs. Es war gar nicht der Fernseher. Ohne zu fragen, wusste ich, dass es Agnes war, die splitterfasernackt auf dem Bett einen unanständigen Boogie tanzte und sich dazu begleitete, indem sie mit einem Löffel auf eine Bettpfanne trommelte. Sie war groß, dünn, ganz unbehaart, bis auf den knochigen Kopf, der von einem Heiligenschein aus büscheligem weißen Flaum eingerahmt wurde. Unterernährung hatte ihr den Bauch aufgetrieben, und ihre langen Glieder waren zum Skelett abgemagert.

Ihre untere Gesichtshälfte war in sich zusammengefallen, das Kinn dicht unter die Nase gerutscht, da keine Zähne mehr vorhanden waren, die den nötigen Abstand gewährleisteten. Ihre Lippen waren so geschrumpft, dass man sie nicht sah, und da ihr Schädel ganz flach war, hatte sie große Ähnlichkeit mit einem langbeinigen, hochaufgeschossenen Vogel mit klaffendem Schnabel. Sie kreischte wie ein Strauß, und ihre glänzenden schwarzen Augen schnellten von einem Punkt zum anderen. Als sie uns erblickte, schleuderte sie die Bettpfanne wie eine Rakete in unsere Richtung. Sie schien sich großartig zu amüsieren. Eine etwa zwanzigjährige Schwesternhelferin stand hilflos dabei. Offenbar war sie während ihrer Ausbildung auf einen solchen Pflegling nicht vorbereitet worden.

Mrs. Renquist näherte sich Agnes völlig gleichmütig, blieb nur einmal kurz stehen, um der Frau im nächsten Bett, die Jesus leidenschaftlich um Erlösung anflehte, beruhigend die Hand zu tätscheln. Nachdem sie sich behauptet hatte, gab sich Agnes jetzt damit zufrieden, auf den Bettdecken herumzumarschieren und den anderen Patientinnen zu salutieren. Mir schien das eine wundervolle Art häuslichen Körpertrainings. Ihr Benehmen kam mir viel gesünder vor als die Passivität ihrer Zimmergenossinnen, die in ihrem jammernden Elend dalagen. Agnes hatte wahrscheinlich ihr Leben lang immer alles auf den Kopf gestellt, und daran hatte sich auch im Alter nichts geändert.

»Sie haben Besuch, Mrs. Grey.«

»Was?«

»Sie haben Besuch.«

Agnes blieb stehen und sah mich an. Ihre Zunge wurde sichtbar und verschwand wieder. »Wer is ʼn das?« Ihre Stimme klang heiser, weil sie so laut gekreischt hatte. Mrs. Renquist reichte ihr die Hand und half ihr vom Bett herunter. Die Schwesternhelferin nahm ein sauberes Nachthemd aus dem Nachttisch. Mrs. Renquist schüttelte es aus, hängte es Agnes um die knochigen Schultern und schob einen Arm nach dem anderen in die Ärmel. Agnes ließ es mit der Gefügigkeit eines Babys über sich ergehen, die triefenden Augen noch immer aufmerksam auf mich gerichtet. Ihre Haut war voller Farbtupfer: hellbraune Altersflecken, rosafarbene und weiße Stellen, knotige blaue Adern, Schorf, wo heilende Risse grellrote Streifen zurückgelassen hatten. Die Epidermis war so dünn, dass ich fast die blassgrauen Umrisse innerer Organe zu sehen erwartete wie bei einem frisch ausgebrüteten Vogel. Was hat das Alter nur an sich, dass es uns direkt zur Geburt zurückführt? Sie roch fischig und scharf nach einer Mischung aus getrocknetem Urin und alten Turnsocken. Auf der Stelle begann ich die Idee zu verdrängen, sie in meinem winzigen Auto nach Santa Teresa mitzunehmen. Die Schwesternhelferin entschuldigte sich mit einem Gemurmel und machte schnell, dass sie davonkam.

Ich streckte höflich die Hand aus. »Hallo, Agnes. Ich bin Kinsey Millhone.«

»Ha?«

Mrs. Renquist beugte sich zu Agnes vor und brüllte meinen Namen so laut, dass die beiden anderen alten Frauen im Zimmer wach wurden und zu quäken begannen. »Kinsey Millhone. Eine Freundin Ihrer Tochter!«

Agnes wich zurück und warf mir einen misstrauischen Blick zu. »Von wem?«

»Irene!«, brüllte ich.

»Wer hat dich gefragt?«, entgegnete Agnes bockig. Mechanisch begann sie mit den Lippen zu schmatzen, als schmecke sie etwas, das sie vor fünfzig Jahren gegessen hatte.

Mrs. Renquist wiederholte die Mitteilung, wobei sie sehr deutlich sprach. Ich sah, wie Agnes sich in sich selbst zurückzog. Einfältigkeit schien sich wie ein Schleier über ihren lebhaften Blick zu legen, und gleich darauf begann sie einen völlig sinnlosen Dialog mit sich selbst. »Sei still. Sag ja kein Wort. Nun, wenn ich will, kann ich auch. Nein, du kannst nicht. Gefahr, Gefahr, oooh – still, ganz, ganz still. Nicht mal eine Andeutung ...« Dann gab sie eine geträllerte Variation von Good Night, Irene zum Besten.

Mrs. Renquist verdrehte die Augen nach oben und seufzte kurz und ungeduldig auf. »Das zieht sie ab, wenn man etwas von ihr will und sie keine Lust dazu hat«, sagte sie. »Sie kriegt sich schon wieder ein.«

Wir warteten einen Moment. Agnes gestikulierte jetzt auch, und ihre Stimme klang streitlustig. Sie nörgelte vor sich hin wie jemand, der in einem Supermarkt in der Schlange wartet, und der Kunde an der Kasse bezahlt nicht bar, sondern füllt umständlich einen Scheck aus. In welches Universum sie auch entwichen sein mochte, wir gehörten nicht dazu.

Ich zog Mrs. Renquist beiseite und senkte die Stimme. »Warum lassen wir sie nicht eine Weile in Ruhe?«, sagte ich. »Ich muss ohnehin Mrs. Gersh anrufen und sie fragen, was sie tun will. Es ist doch sinnlos, ihre Mutter mehr aufzuregen als unbedingt nötig.«

»Nun, da richte ich mich ganz nach Ihnen«, antwortete Mrs. Renquist. »Sie ist nur störrisch. Wollen Sie unser Bürotelefon benutzen?«

»Ich telefoniere von meinem Motel aus.«

»Vergessen Sie bitte nicht, Ihre Nummer zu hinterlassen, damit wir uns mit Ihnen in Verbindung setzen können.« Ihre Stimme verriet einen Anflug von Unbehagen, und in ihrem Blick entdeckte ich leichte Panik, weil sie offenbar befürchtete, ich könnte aus der Stadt verschwinden, ohne die nötigen Vorbereitungen für Agnes’ Umzug in die Wege zu leiten.

»Ich gebe Mrs. Haynes die Nummer meines Motels.«

Ich fuhr zum »Vagabond« zurück, wo ich zuerst Sergeant Pokrass im Büro des Sheriffs anrief und ihr berichtete, dass ich Agnes Grey gefunden hatte.

Dann telefonierte ich mit Irene Gersh und sagte ihr, was ich mit Agnes erlebt hatte. Totenstille am anderen Ende der Leitung. Ich wartete, hörte ihren Atem an meinem Ohr.

»Ich glaube, da muss ich vorher doch mit Clyde sprechen«, sagte sie endlich. Sie schien nicht besonders glücklich darüber, dass sie dazu gezwungen war, und ich hatte nur eine vage Vorstellung davon, wie er reagieren würde.

»Was soll ich inzwischen tun?«, fragte ich.

»Wenn es geht, bleiben Sie bitte, wo Sie sind. Ich rufe Clyde im Büro an, und Sie hören so schnell wie möglich von mir, aber bis zum Abendessen wird es wahrscheinlich dauern. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie noch einmal in die Slabs hinausfahren und Mutters Wohnwagen mit einem Vorhängeschloss sichern würden.«

»Wozu?«, fragte ich. »Sobald ich den Rücken kehre, kommen die kleinen Monster wieder. Die Lüftungsklappe eines Fensters ist schon herausgebrochen. Wenn man diese Kids verärgert, werden sie wahrscheinlich alles kurz und klein schlagen.«

»Ich habe den Eindruck, dass das schon passiert ist.«

»Das stimmt allerdings. Aber es hat doch keinen Sinn, das Leben noch mehr zu komplizieren.«

»Es ist mir egal. Ich finde die Vorstellung unerträglich, dass sich Eindringlinge dort herumtreiben, und ich will den Wagen auch nicht ganz aufgeben. Vielleicht sind noch Sachen drin, an denen sie hängt. Vielleicht will sie auch zurück, wenn sie wieder sie selbst ist. Haben Sie mit dem Sheriff gesprochen? Es muss doch eine Möglichkeit geben, dort draußen hin und wieder nach dem Rechten zu sehen.«

»Ich wüsste nicht wie. Sie kennen die Situation besser als ich. Es wäre ein bewaffneter Wächter nötig, um Eindringlinge fern zu halten – und wozu überhaupt? Der Wohnwagen ist total verrottet und die reinste Müllkippe.«

»Ich will aber, dass er abgeschlossen wird«, sagte sie scharf.

»Ich tu, was ich kann«, sagte ich, wobei ich mir meine Skepsis deutlich anmerken ließ.

»Danke.«

Ich gab ihr die Telefonnummer des »Vagabond«, und sie sagte noch einmal, sie werde mich anrufen. Ich schlüpfte wieder in Jeans und Tennisschuhe, sprang in den Wagen und fuhr in einen Eisenwarenladen, wo ich ein Vorhängeschloss von der Größe einer Schuhschachtel kaufte; es wog mindestens drei Pfund. Der Verkäufer versicherte mir, dass man schon mit einer Sprengpatrone rangehen müsste, um es aus der Haspe zu reißen. Aus was für einer Haspe?, fragte ich mich. Da ich einmal dabei war, kaufte ich auch das übrige Zubehör, einen metallenen Vorleger mit Scharnieren und das Werkzeug, das ich brauchte, um das verdammte Ding anzubringen. Nichts würde diese Kids daran hindern, wieder einzubrechen. Ich hatte in der Verkleidung des Wohnwagens mindestens zwei Löcher gesehen, sie brauchten nur eins zu erweitern und konnten hinein- und herauskriechen wie Ratten. Andererseits wurde ich dafür bezahlt, dass ich tat, was Irene wollte, also konnte es mir egal sein. Ich nahm noch ein paar Nägel und zwei kleine Bretter mit und ging zu meinem Wagen zurück.

Noch einmal fuhr ich auf der 111 in nördlicher Richtung die achtzehn Meilen zu den Slabs. Da ich mich nicht sofort erinnerte, wie die Abzweigung hieß, die ich suchte, ging ich’s langsam an und verbrachte viel Zeit damit, nach rechts zu schauen. Auf der linken Seite huschte ein Dattelpalmenhain vorüber. Dahinter, noch sehr weit weg, schimmerte das lebhafte Grün bebauter Felder. Irgendwie sah die Gegend anders aus, aber erst als ich das Schild mit der Aufschrift ERHOLUNGSGEBIET SALTON SEA entdeckte, wurde mir klar, wie weit ich über mein Ziel hinausgeschossen war. Die Straße, die zu den Slabs führte, lag etwa zehn Meilen hinter mir. Vor mir entdeckte ich auf der linken Seite einen geschotterten Seitenweg und dachte, dass ich dort genauso gut wenden könnte wie woanders. Ein alter Laster mit hohen Bordwänden kam näher und wirbelte eine Staubspur hinter sich auf, obwohl er höchstens zehn Meilen drauf hatte.

Ich fuhr langsamer, um zu wenden, und warf einen Blick in den Rückspiegel. Ein kleiner roter Lieferwagen raste von hinten heran, aber der Fahrer musste bemerkt haben, dass ich meine Geschwindigkeit herabgesetzt hatte. Er zog den Wagen nach rechts, überholte und schnitt mich, als er dicht vor mir auf meine Fahrspur schwenkte, während ich auf die Tube drückte und das Steuer herumriss, um nicht auf ihn aufzufahren. Ich hörte den leisen Knall, mit dem ein Stein unter meinem Rad zermalmt wurde, aber erst nachdem ich gewendet hatte und wieder auf der 111 fuhr, spürte ich, dass mein Wagen holpernd seitlich ausbrechen wollte. Das klatschende Geräusch verriet mir, dass einer meiner Hinterreifen platt war.

»Na fantastisch!«, sagte ich. Offensichtlich hatte ich etwas Heimtückischeres als nur einen Stein überrollt. Ich hielt am Straßenrand und stieg aus. Ich ging um den Wagen herum. Die Felge meines rechten Hinterrades saß auf dem Asphalt auf, der Reifen war nur noch ein lasches Stück Gummi. Es musste fünf oder sechs Jahre her sein, dass ich zum letzten Mal einen Reifen gewechselt hatte, doch war das Prinzip vermutlich immer noch das gleiche. Hol den Wagenheber aus dem Kofferraum, kurbel ihn so weit hinauf, bis das Rad Bodenfreiheit hat und nicht mehr belastet ist, nimm die Radkappe ab, schraub die Radbolzen ab – hoffentlich schaffst du das! –, zieh das kaputte Rad ab, stell es zur Seite, schieb das neue Rad auf die Nabe, schraub die Radbolzen wieder gut fest und lass den Wagen herunter.

Ich öffnete den Kofferraum und sah mir mein Reserverad an, das auch einen ziemlich schlaffen Eindruck machte. Mühsam holte ich es heraus und ließ es auf dem Asphalt aufspringen. Nicht großartig, aber die paar Meilen bis zur nächsten Tankstelle hielt es bestimmt; ich konnte mich erinnern, dass ich an einer vorbeigefahren war. Schließlich jogge ich und schinde mich mit den Gewichten, um mit den kleinen Übeln der Welt selbst fertig zu werden. Wenigstens hatte ich weder hohe Absätze noch Strumpfhosen an, und da meine Fingernägel weder lackiert noch besonders lang sind, konnten sie während der Prozedur auch nicht leiden.

Inzwischen war der Laster auf den Highway eingebogen und hatte ungefähr hundert Meter hinter mir angehalten. Zehn oder zwölf Farmarbeiter sprangen von der Ladefläche und standen grinsend herum. Sie schienen sich auf meine Kosten prächtig zu amüsieren und riefen mir in einer fremden Sprache alle möglichen Vorschläge zu. Zwar konnte ich nicht übersetzen, was sie sagten, aber den Tonfall kapierte ich. Ich glaube nicht, dass sie mir Tipps gaben, wie man ein Rad richtig wechselt. Sie schienen ein gutmütiger Haufen zu sein, zu müde von der Arbeit mit der Kurzhacke, um mir etwas anzutun. Ich verdrehte die Augen und winkte ihnen, sie sollten weiterfahren. Das brachte mir ein anzügliches Pfeifen von einem der Kerle ein, der sich dabei an die Hoden fasste.

Ich beachtete sie nicht mehr, machte mich an die Arbeit und fluchte wie ein Schauermann, als der Laster weiterfuhr. In solchen Augenblicken neige ich dazu, mit mir selbst zu reden und mich anzutreiben. Es war mitten am Nachmittag, und die Sonne brannte unbarmherzig auf mich herunter. Die Luft war trocken, die Stille ungebrochen. Ich kenne die Wüste nicht gut. Für meine ungeschulten Augen schien die Landschaft ohne Leben. Vom Boden, auf dem ich saß und mit meinem Schraubenausdreher arbeitete, sah ich nur ganz in der Nähe einen völlig vertrockneten Mesquitebaum. Man hat mir erzählt, dass man, wenn man ganz genau aufpasst, das Scharren der Käfer hören kann, die sich einen Tunnel durch das tote Holz bohren, um ihre Eier abzulegen.

Eingehüllt in diese Abgeschiedenheit, konzentrierte ich mich auf meine Arbeit. Nach und nach gewöhnte ich mich an die Stille, wie die Augen sich an Dunkelheit gewöhnen. Ich hörte das Summen der Insekten und bemerkte jetzt erst die Grasmücken, die sich Käfer, Fliegen und Mücken im Flug schnappten. Die eigentlichen Bewohner der Mojave verlassen erst nachts ihre Lager: Klapperschlangen und Eidechsen, Eselhasen, Wachteln, die Eule und der Harris-Falke, der Wüstenfuchs und das Backenhörnchen, alle nach Beute suchend, darauf aus, sich gegenseitig zu fressen in einer gnadenlosen, raubgierigen Sequenz, die bei den Termiten beginnt und mit den Kojoten endet. Das ist kein Ort, an dem ich meinen Schlafsack ausrollen und mein kleines Haupt zur Ruhe legen möchte. Allein schon die Riesenspinnen lehren einen das Fürchten.

Zwanzig nach drei beendete ich erfolgreich meine Arbeit. Ich brachte das Rad mit dem Platten nach vorn, damit ich es im Kofferraum verstauen konnte. Etwas, das nicht hineingehörte, rollte klappernd darin herum, es klang wie ein Nagel oder ein Stein. Auf der Suche nach dem Schaden fuhr ich mit dem Finger am Reifen entlang. Das Loch war in der Seitenwand – eine zackige Perforierung, nicht ganz so groß wie die Spitze meines kleinen Fingers. Ich kniff die Augen zusammen, starrte es an, und mir wurde eiskalt. Ich traute meinen Augen nicht. Es sah wie ein Einschuss aus. Unwillkürlich stöhnte ich laut, als ich von einem wellenförmigen Schaudern gepackt wurde, wie man es oft als Kind erlebt, wenn man einen dunklen Raum verlässt. Ich hob den Kopf. Sah mich um. Nichts. Kein anderer Wagen in Sicht. Ich wollte hier weg.

Ich hievte das Rad hoch, legte es in den Kofferraum, holte schnell den Wagenheber und den Schraubenschlüssel, ging zur Fahrerseite und stieg ein. Ich startete den Motor, rammte den Gang hinein und machte, dass ich fortkam. Ich fuhr sehr schnell, ohne Rücksicht auf meinen Reservereifen, aber mir gefiel die Vorstellung nicht, hier draußen ganz allein zu sein. Es musste der Kerl in dem Lieferwagen gewesen sein. Mein Reifen war genau in dem Augenblick geplatzt, in dem er mich überholt hatte. Selbstverständlich hätte auch ein Stein den Schaden verursachen können, aber ich glaube nicht, dass er die Seitenwand des Reifens durchschlagen und ein so hübsches, sauberes Loch zurückgelassen hätte.

Die erste Tankstelle, zu der ich kam, war aufgegeben worden. Zwar standen noch die Zapfsäulen, aber die Fenster waren zerbrochen, und eine Graffiti-Girlande zierte den Sockel. Einheimische Inserenten benutzten die Stützpfeiler für ihre kunstvollen Plakate, und eine Immobilienfirma verkündete in großen Lettern, dass die Tankstelle zu verpachten sei. Eine tolle Chance, Leute.

Am Ortsrand von Niland, an der Kreuzung Main Street und Salton Highway, fand ich eine kleine Tankstelle, die eine jener seltsamen Spritmarken verkaufte, die den Motor zum Rülpsen bringt. Ich pumpte etwas Luft in den Reservereifen und nahm den Platten aus dem Kofferraum.

»Ich habe in den Slabs zu tun«, sagte ich. »Können Sie den in anderthalb Stunden reparieren?«

Er sah sich den Reifen genau an. Der Blick, den er mir dann zuwarf, verriet mir, dass er zu demselben Schluss gekommen war wie ich, aber er sagte nichts. Er meinte nur, er werde den Reifen von der Felge abmontieren und bis zu meiner Rückkehr flicken. Ich könne mich darauf verlassen. Ich schätzte, dass ich gegen fünf zurück sein würde, denn ich konnte mir nicht vorstellen, nach Sonnenuntergang noch draußen in der Wüste zu sein – nicht einmal daran denken wollte ich. Ich gab ihm einen Zehner für seine Mühe und sagte ihm, die Reparatur würde ich bezahlen, wenn ich zurückkam. Ich stieg in den Wagen und steckte dann den Kopf aus dem Fenster. »Wo ist die Straße zu den Slabs?«

»Sie sind schon drauf«, sagte er.

Ich nahm die Hauptstraße bis zu dem Punkt, wo sie zur Beal Road wird, und näherte mich Slab City diesmal mit einem Gefühl der Vertrautheit. Hier draußen fühlte ich mich sicherer. Um diese Zeit schienen auch mehr Leute unterwegs. Ein Wohnmobil bog auf einen Stellplatz ein, ein stumpfnasiger gelber Schulbus brachte Kinder nach Hause. Jetzt stürmten die Hunde heran und gebärdeten sich wie närrisch vor Freude, weil die Kinder aus der Schule zurück waren. Als ich Rusted-Out-Chevy-Road erreichte, bog ich rechts ab, und bald tauchte Agnes Greys blauer Wohnwagen vor mir auf. Ich parkte ganz in der Nähe und holte das Werkzeug vom Rücksitz. Vom Verfolgungswahn befallen, nahm ich meine kleine Davis-Halbautomatic und schob sie im Rücken unter den Bund meiner Jeans. Dann packte ich ein altes Baumwollhemd, zog es mir über das T-Shirt, sammelte die Bretter, das Schloss und den Vorleger ein und ging das letzte Stück zum Wohnwagen zu Fuß.

Die kleinen Monster waren zu Hause. Deutlich war Stimmengemurmel zu hören. Ich kam zur Tür, hatte jedoch nicht vermeiden können, dass meine Schritte auf dem Kies knirschten. Die Stimmen verstummten sofort. Ich lehnte mich an den Türrahmen und spähte um die Ecke in den Wagen. Schließlich wollte ich es nicht riskieren, eins über den Schädel zu kriegen. Unvermittelt sah ich mich dem rastalockigen Wesen gegenüber, das am Vormittag auf den Stufen gesessen hatte. Ein zweites schmutziges Gesicht tauchte neben dem ersten auf. Die Nachbarn hatten mich darüber aufgeklärt, dass eins dieser Wesen ein Junge und eins ein Mädchen war. Ich hielt Rastalocke für die männliche Hälfte des Pärchens, konnte jedoch keine äußeren Geschlechtsmerkmale feststellen. Keines der beiden hatte Bartwuchs. Beide waren jung mit den noch unfertigen Gesichtern von Cherubinen, schmuddelige Haarwülste oben, zerlumpte Kleider unten. Und beide rochen nicht besser als Agnes.

Der Junge und ich beäugten einander und blähten uns auf wie Affen. Wie läppisch! Wir waren gleich groß – eins siebenundsechzigeinhalb – und wogen beide nicht mehr als hundertacht Pfund. Kleine Bantamgewichtler, die sich als Raubeine aufspielten. Einen Unterschied gab es möglicherweise zwischen uns: Ich war entschlossen, ihn windelweich zu prügeln, glaubte aber nicht, dass er darauf vorbereitet war, mir mit gleicher Münze heimzuzahlen. Mit einem Blick auf seine Gefährtin wippte er auf den Fersen, die Hände in den Taschen, als habe er den ganzen Tag Zeit. »He, Trulla, was zum Teufel suchst du hier?«

Ich war sofort auf achtzig. Meine Nerven waren ohnehin überreizt, und ich brauchte mich von einem kleinen Punk wie ihm nicht dumm anreden zu lassen. »Mir gehört der Wohnwagen, Arschgesicht«, fauchte ich.

»Ach ja? Und wie war’s mit Beweisen?«

»Kein Problem, Dummkopf. Hier hab ich die Eigentumsurkunde.« Ich zog die Pistole aus dem Hosenbund und hielt ihm die Mündung unter die Nase. Die Waffe war nicht geladen, aber sie machte sich gut. Hätte ich meinen alten Colt gehabt, hätte ich um der dramatischeren Wirkung willen den Hahn spannen können. Kleine Jungs kann ich einschüchtern, nur muss ich gestehen, dass es mir bei den erwachsenen leider nicht so gut gelingt. »Haut ab«, sagte ich.

Die beiden fielen fast übereinander, so eilig hatten sie es, nach hinten hinaus zu verschwinden. Der Wohnwagen wackelte unter ihren trampelnden Füßen, dann waren sie fort. Ich ging gemächlich durch den Korridor und warf einen Blick ins Bad. Wie vermutet, benutzten sie ein Loch in der Wand als Notausgang.

Zuallererst vernagelte ich ihren Fluchtweg mit den beiden Brettern, hämmerte Nagel um Nagel in die dünne Badezimmerwand. Dann bohrte ich mit dem Handbohrer die Löcher für den Vorleger vor und schraubte ihn fest. Ich kann nicht behaupten, dass ich mich besonders geschickt anstellte, aber ich schaffte es, und die körperliche Arbeit hatte meiner Stimmung gut getan. Es tat gut, einen Hammer zu schwingen. Es tat gut, zu schwitzen. Es tat gut, ein winziges Stück des Universums zu beherrschen. Da ich einmal hier war, durchsuchte ich rasch den Wohnwagen, ob noch ein paar von Old Mamas Sachen hier waren. Ich fand nichts. Die Schränke waren leer, die Schränkchen ausgeräumt, die verschiedenen Nischen und Winkel ebenfalls. Das meiste war wahrscheinlich auf dem Flohmarkt an der Straße verhökert worden.

Ich ging zum VW und schnappte mir die Fünfunddreißig-Millimeter-Kamera von der hinteren Ablage. Der Film war noch nicht ganz voll, und ich knipste den Wohnwagen von allen Seiten. Anders würde Irene Gersh nicht kapieren, was hier los war, davon war ich überzeugt. Sie hatte geredet, als würde ihre Mutter in Slab-City einen goldenen Lebensabend genießen.

Bevor ich das Vorhängeschloss einrasten ließ, rollte ich die Schlafsäcke und die übrige Habe der Monster zu einem Bündel zusammen und legte es draußen auf die Stufen. Dann ging ich über die Straße und erklärte Marcus, was ich getan hatte. Als ich zurückkam, entdeckte ich unter dem Wohnwagen einen schmalen Spalt, in den man hineinkriechen konnte, einen behelfsmäßigen Lagerraum mit ein paar Sachen, die hineingezwängt worden waren. Ich kniete nieder, griff ungeachtet der Käfer und Spinnen nach hinten und holte zwei vergammelte Kartons heraus. Einer war offen und enthielt eine kunterbunte Sammlung verrosteter Gartengeräte: eine Kelle, einen Spaten, eine kurze Hacke. Die oberen Laschen des zweiten Kartons waren über Kreuz geschlossen, damit der Inhalt nicht beschädigt wurde. Ich klappte die Laschen auf und warf einen Blick in den Karton. Er enthielt in Seidenpapier eingepacktes Porzellangeschirr, das Teeservice eines Kindes. Es schien nicht vollständig zu sein, aber ich dachte, Irene oder ihre Mutter würden es wahrscheinlich gern sehen. Auf keinen Fall wollte ich das Geschirr hier zurücklassen, damit die kleinen Monster es sich unter den Nagel rissen. Ich machte die Schachtel wieder zu. Dann ließ ich das Vorhängeschloss an der Tür des Wohnwagens zuschnappen. Zwar hatte ich keine Hoffnung, die kleinen Scheusale dadurch fern zu halten, aber ich hatte das Nötige getan. Ich trug den Karton zu meinem Wagen und schob ihn auf den Rücksitz. Es war noch hell, als ich die Slabs verließ, aber als ich den Reifen abholte und nach Brawley aufbrach, war es völlig dunkel geworden. In meiner Tasche steckte die Kugel aus dem Achtunddreißiger, die der Mechaniker aus dem Reifen geholt hatte. Ich konnte nicht mit Gewissheit sagen, was sie zu bedeuten hatte, doch da ich mir des Naheliegenden stets deutlich bewusst bin, hatte ich eine ziemlich genaue Vorstellung davon.

Hoher Einsatz

Подняться наверх