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Am nächsten Morgen verzichtete ich aufs Joggen, weil ich so früh wie möglich aufbrechen wollte. Ich verließ Santa Teresa um sechs Uhr, im Wagen eine Segeltuchtasche, meine tragbare Smith-Corona, die Informationen über Irene Gershs Mutter, meine Aktenmappe, verschiedenen Kram, eine Kühltasche mit einem Sechserpack Diät-Pepsi, ein Tunfischsandwich, ein paar Mandarinen und einen Beutel mit Henrys Schoko-Keksen.

Ich nahm den Highway 101 von Süden und fuhr bis hinter Ventura, wo die erste Straße ins Landesinnere abbiegt, an der Küste entlang. Mein kleiner VW keuchte und ächzte, als er sich die Camarillo-Steigung zum Kamm hinaufquälte. Bergab nach Thousand Oaks ging’s dann leichter. Als ich das San Fernando Valley erreichte, war es sieben, und der Berufsverkehr verstopfte die Straße in beide Richtungen. Fahrzeuge wechselten die Spuren mit jener Schnelligkeit und Gewandtheit, die ich »Straßen-Surfen« nenne; leider geht das Spiel manchmal tödlich aus. Smog hing über dem Talbecken und löschte die umliegenden Berge aus. Wer die Gegend nicht kannte, musste glauben, das Land sei so flach wie ein Brett.

In North Hollywood zweigt die 134 nach Pasadena ab, während die 101 nach Süden und Downtown L. A. führt. Auf einer Landkarte dieses Gebiets sieht das Zentrum von Los Angeles wie ein kleines Loch in der Mitte eines weitmaschigen pinkfarbenen Häkeltuchs aus, das sich über Los Angeles County breitet und im Süden bis Orange County reicht. Zusammenlaufende Straßen sehen aus wie ein Knäuel, in dem sich Wolkenkratzer verfangen haben. Ich habe noch keinen Menschen gekannt, der wirklich etwas Berufliches in Downtown Los Angeles zu erledigen hatte. Wenn man nicht gerade unbedingt Union Station, Olvera Street oder die sündige Meile besichtigen will, gibt es nur einen einzigen Grund, sich in die Nähe um Sixth und Spring zu wagen – den Großhandelsmarkt für Gold und Schmuck oder das Cooper Building, in dem Markenkleidung zu Billigpreisen verkauft wird. Am besten tut man jedoch daran, einfach durchzufahren.

Sie werden bemerkt haben, dass ich die Ereignisse von Donnerstagabend übersprungen habe. Ich will nur sagen, dass ich tatsächlich zu Rosie hineinschaute, um mir den versprochenen Drink abzuholen. Dort musste ich jedoch feststellen, dass sie und Henry eine Geburtstags-Überraschungsparty für mich arrangiert hatten. So eine peinliche Geschichte, bei der das Licht angeht und alle hinter den Möbeln hervorhüpfen. Ich konnte einfach nicht glauben, dass man mir das antat. Jonah war da und Vera (diese Ratte – sie hatte mir mit keinem Wort verraten, was mich erwartete), Darcy und Mac von der California Fidelity Insurance, Moza, die weiter unten in der Straße wohnt, einige Stammgäste und ein paar ehemalige Klienten von mir. Ich weiß nicht, warum ich mich so geniere, darüber zu reden, aber es gab eine Torte, und sie hatten Geschenke für mich, die ich auf der Stelle auspacken musste. Ich lasse mich nicht gern überraschen. Ich stehe nicht gern im Mittelpunkt. Es waren lauter Leute, die ich mochte, aber so viel Nettigkeit nervt mich. Ich habe wohl alles gesagt, was sich so gehört. Ich habe mich nicht betrunken und nicht blamiert, aber ich hatte das Gefühl, von allem losgelöst zu sein – als stünde ich neben mir selbst. Als ich jetzt, allein im Wagen, darüber nachdachte, merkte ich, dass ich lächelte. Solche Ereignisse kommen mir in der Erinnerung immer schöner vor.

Die Party hatte sich um zehn Uhr aufgelöst. Henry und Jonah begleiteten mich nach Hause, und nachdem Henry sich verabschiedet hatte, zeigte ich Jonah das Apartment so schüchtern wie eine Braut.

Ich spürte, dass er über Nacht bleiben wollte, doch das packte ich einfach nicht. Ich weiß nicht, warum – vielleicht lag es an dem Gespräch, das ich mit Vera geführt hatte –, aber ich fühlte mich fremd, und als er auf mich zukam, um mich zu küssen, wich ich aus.

»Was ist los?«

»Nichts. Ich muss nur endlich allein sein.«

»Habe ich etwas getan, worüber du sauer bist?«

»Aber nein! Wirklich nicht. Ich bin nur völlig fertig, das ist alles. Die Party heut Abend hat mich fast geschafft. Du kennst mich. Solche Situationen liegen mir nicht.«

Er lächelte mit weiß blitzenden Zähnen. »Du hättest deinen Gesichtsausdruck sehen sollen. Fantastisch. Ich finde es lustig, dich dabei zu beobachten, wenn du überrumpelt wirst.« Er lehnte an der Tür, die Hände auf dem Rücken, und das Licht aus der Küche tauchte eine Seite seines Gesichts in einen warmen gelben Schimmer. Ich betrachtete ihn eindringlich: blaue Augen, dunkles Haar. Er sah müde aus. Jonah ist bei der Polizei von Santa Teresa und arbeitet in der Abteilung für vermisste Personen, wo wir uns auch vor fast einem Jahr kennen gelernt hatten. Ich wusste im Augenblick nicht so recht, was ich für ihn empfand. Er ist freundlich, ein bisschen konfus, ein guter Mann, der immer das Richtige tun möchte, egal was. Ich verstand das Dilemma mit seiner Frau und nahm ihm die Rolle nicht übel, die er darin spielte. Natürlich war er ein Blatt im Wind. Er hat zwei kleine Töchter, und das kompliziert die Sache unendlich. Camilla hatte ihn zweimal verlassen und beide Male die Mädchen mitgenommen. Er kam gut ohne seine Frau aus, aber sie hatte nur mit dem kleinen Finger winken müssen, und schon war er zu ihr zurückgelaufen. Von da an ging es ständig hin und her. Im November beschloss sie, eine »offene Ehe« zu führen, was er für eine Umschreibung dafür hielt, dass sie in der Gegend herumbumste. Erst da hatte er sich frei genug gefühlt, um mit mir eine Affäre anzufangen, doch ich war ziemlich sicher, dass er ihr von mir nie etwas erzählt hatte. Wie »offen« konnte diese offene Ehe sein? Obwohl ich von der Beziehung nicht viel erwartete, fand ich es beunruhigend, nie zu wissen, wo ich stand. Manchmal spielte er den Familienvater und ging mit seinen Töchtern am Sonntagnachmittag in den Zoo. Manchmal benahm er sich wie ein unehelicher Vater und machte haargenau das Gleiche. Er und die beiden Mädchen verbrachten viel Zeit vor dem Affenkäfig, während Camilla weiß Gott was tat. Ich selbst fühlte mich wie ein Statist in einem Theaterstück, das ich mir nie angesehen hätte, wenn ich dafür auch noch hätte bezahlen müssen. Um die Wahrheit zu sagen, ich mochte die Komplikationen nicht. Es stand mir jedoch nicht zu, mich zu beklagen, da ich von Anfang an gewusst hatte, dass er verheiratet war. Ach was, hatte ich damals gedacht, nur keine Aufregung. Ich bin schon groß. Ich werde damit fertig. Wie man deutlich sieht, hatte ich nicht die geringste Ahnung, worauf ich mich einließ.

»Was bedeutet diese Miene?«, fragte er.

Ich lächelte. »Sie bedeutet gute Nacht. Ich bin völlig groggy.«

»Dann verschwinde ich auf der Stelle, damit du schlafen kannst. Die Wohnung ist super. Ich erwarte eine Einladung zum Dinner, sobald du wieder da bist.«

»Gut, du weißt ja, wie gern ich koche.«

»Rufst du mich an?«

»Aber klar doch.«

Der schönste Augenblick des Tages kam, als ich endlich allein war. Ich schloss die Haustür ab und sah nach, ob alle Fenster verriegelt waren. Dann schaltete ich unten das Licht aus und stieg über meine Wendeltreppe in den Schlafraum. Um meine erste Nacht in der Wohnung zu feiern, ließ ich mir ein Bad ein, schüttete ein bisschen von dem Badeschaum hinein, den Darcy mir zum Geburtstag geschenkt hatte. Es duftete nach Kiefernnadeln und erinnerte mich an die Putzmittel, die der Hausmeister in meiner Grundschule benutzt hatte. Als Achtjährige hatte ich mich oft gefragt, welcher neunmalkluge Raumpfleger auf die verrückte Idee gekommen war, Erbrochenes mit Sägespänen zu bestreuen.

Ich knipste das Licht im Bad aus, saß in der dampfenden Wanne und schaute aus dem Fenster auf den Ozean, der nur dort als schwarzes Band mit breitem Silberstreifen sichtbar war, wo der Mond die Dunkelheit durchbrach. Die Stämme der Sykomoren direkt vor dem Fenster waren kalkweiß, die blassgrauen Blätter raschelten in der kühlen Frühlingsbrise wie Papier. Es war schwer zu glauben, dass irgendjemand da draußen mich für Geld töten sollte. Ich weiß sehr gut, dass Unsterblichkeit nur eine Illusion ist, die wir brauchen, um von einem Tag zum anderen funktionieren zu können, aber schon allein die Vorstellung eines Mordauftrags war mir unbegreiflich.

Das Badewasser hatte sich abgekühlt und war nur noch lauwarm, und ich ließ es durch den Abfluss gurgeln. Das Geräusch erinnerte mich an jedes Bad, in dem ich mich je geaalt hatte. Um Mitternacht glitt ich nackt zwischen die funkelnagelneuen Laken auf meinem funkelnagelneuen Bett und blickte durch das Oberlicht. Auf der Plexiglaskuppel lagen die Sterne wie Salzkrümel und bildeten Muster, denen die Griechen schon vor vielen Jahrhunderten Namen gegeben hatten. Ich erkannte den Großen und manchmal sogar den Kleinen Bären, hatte jedoch noch nie etwas gesehen, das auch nur entfernte Ähnlichkeit mit einem Bären, einem Löwen oder einem Krebs gehabt hätte. Vielleicht haben die Kerle damals Hasch geraucht, in der Nähe des Parthenon auf dem Rücken gelegen, sich gegenseitig die Sterne gezeigt und die ganze Nacht nur herumgeblödelt. Dass ich eingeschlafen war, merkte ich erst, als der Wecker mich in die Wirklichkeit zurückkatapultierte ...

Ich konzentrierte mich auf die Straße und warf hin und wieder einen Blick auf die Straßenkarte, die ich auf dem Beifahrersitz ausgebreitet hatte. Das Joshua Tree National Monument und der Anza-Borrego Desert State Park waren als dunkelgrüne Kleckse eingezeichnet und sahen aus wie Teile eines riesigen Puzzles. Die Staatsforste waren in hellerem Grün, die Mojave-Wüste hellbeige und die Bergzüge mit ganz blassen Pinselstrichen angedeutet. Ein großer Teil der Wüste würde nie kultiviert werden, und das stimmte mich irgendwie fröhlich. Obwohl ich kein großer Naturfreak bin, amüsiert mich ihre Widersetzlichkeit ungemein.

Bei der Ausfahrt San Bernardino/Riverside schwingen sich die Bahnen des Autobahnkreuzes nach oben wie eine Zukunftsvision aus einem Lehrbuch der fünfziger Jahre. Jenseits der Straße gibt es zu beiden Seiten außer Telefonleitungen nichts zu sehen. Cañons von der Farbe braunen Zuckers und Drahtzäune mit vom Wind angewehten Ballen verdorrten Unkrauts. In der Ferne lag es wie gelber Dunst über der Ebene – das Büffelgras blühte wieder.

In der Nähe von Cabazon hielt ich auf einem Rastplatz, um mir die Beine zu vertreten. Auf einem Rasenstück im Schatten von Weiden und Pappeln standen acht bis zehn Picknicktische. Die Toiletten befanden sich in einem Spitzdachgebäude aus Schlackenstein. Ich nutzte die Gelegenheit und trocknete mir die Hände an der Luft, da die Papierhandtücher ausgegangen waren. Inzwischen war es zehn Uhr geworden, und ich hatte Hunger, also holte ich meine Kühltasche heraus und stellte sie etwa zehn Meter vom Parkplatz entfernt auf einen Tisch. Der große Vorteil des Singledaseins ist, dass man nur nach seinen eigenen Regeln lebt. Dinner um Mitternacht? Warum nicht, es geht ja nur um einen selbst. Lunch um zehn Uhr vormittags? Aber klar doch, du bist dein eigener Boss. Man kann essen, wann man will, und die Mahlzeit nennen, wie es einem Spaß macht. Ich saß mit dem Gesicht zur Straße, kaute mein Sandwich und beobachtete die Wagen, die ankamen und abfuhren.

Ein etwa fünfjähriges Kind spielte auf dem Gehweg mit Matchbox-Lastern, während sein Vater auf einer Bank schlief. Pop hatte sich ein Exemplar der Zeitschrift Sports Illustrated aufgeschlagen übers Gesicht gebreitet. Sein ärmelloses T-Shirt ließ seine mächtigen Arme frei. Die Luft war mild und warm, der Himmel ein endloses Blau.

Als ich weiterfuhr, kam ich an den Windfarmen vorbei, einem Gelände, das sich über viele Morgen erstreckt; darauf stehen in Reih und Glied Turbinen, die wie Windräder aussehen und der Erzeugung von elektrischem Strom dienen. Heute gab es nur leichte Böen. Ich konnte den Wind beobachten, der launisch im Zickzack um die Turbinen wehte, sichtbar im sprunghaften Wirbeln der schlanken Flügel, die den Propellern von Ultraleicht-Flugzeugen so ähnlich waren. Vielleicht werden diese seltsamen Totems noch da sein, wenn die Menschheit längst dahin ist, werden sich munter der Elemente bedienen und Wind in Energie verwandeln, die uralte Maschinen antreibt.

Kommt man in die Nähe von Palm Springs, beginnt sich der Charakter der Straße wieder zu verändern. Reklametafeln werben für Schnellimbissrestaurants und Benzin. Country Clubs werden als »gepflegte Freizeitparks für aktive Erwachsene« angepriesen. Hinter dem flachen Hügelland ragen die Berge auf, verkarstet bis auf die von der Sonne gebleichten Felsblöcke. Ich kam an einem Wohnwagenpark mit dem klingenden Namen »Vista del Mar Estates« vorbei, aber weit und breit war kein mar zu sehen.

Ich nahm den Highway 111 nach Süden und passierte die Städte Coachella, Thermal und Mecca. Rechts kam der Salton Sea in Sicht, der einundsiebzig Meter unter dem Meeresspiegel liegt. Dann über weite Strecken nichts als die zweispurige Asphaltstraße mit pulveriger, lockerer Erde zu beiden Seiten; in der aufsteigenden Hitze der Wüste glich sie einer grau schimmernden Wasserfläche. Von Zeit zu Zeit kam ich an einem Zitrushain vorüber, einer schattigen Oase in einem Tal, das sonst völlig der unbarmherzigen Sonne ausgeliefert ist.

Ich fuhr durch Calipatria. Später hörte ich Einheimische über einen Ort reden, der, wie ich glaubte, Cow-pat hieß; nach einiger Zeit erst wurde mir klar, dass das eine Kurzform von Calipatria war. Das einzige Wahrzeichen dort ist ein Gebäude im Zentrum mit einer Säule aus Ziegelsteinen, die aussieht, als sei sie von Ratten angenagt worden. Es sind jedoch Erdbebenschäden, die nie repariert wurden, vielleicht, um die Götter friedlich zu stimmen.

Eine Autoviertelstunde südlich von Calipatria liegt Brawley. Am Stadtrand entdeckte ich ein Motel mit dem Schild ZIMMER FREI. Das »Vagabond« war ein einstöckiger u-förmiger Bau mit vielleicht vierzig Zimmern, die um einen asphaltierten Parkplatz herumgebaut worden waren. Ich mietete ein Einbettzimmer und bekam Nr. 20 am Ende des Gehwegs. Ich parkte den Wagen auf dem Stellplatz vor der Tür und lud meine Segeltuchtasche, die Schreibmaschine und die Kühltasche aus.

Das Zimmer war sauber, roch aber leicht nach »Eau de Floh«. Auf dem Fußboden ein Nylonteppich, hell- und dunkelgrün und so hochflorig, dass man ihn hätte mähen können. Tagesdecke und Übergardinen hatten ein grün-goldenes Blumenmuster – blühende Ranken, die an parallel verlaufenden Spalieren hochkletterten. Das Bild über dem Bett stellte einen Elch dar, der knietief in einem See stand. Die Berge auf dem Bild waren von dem gleichen Grün wie der Teppich – ein kleiner Wink für Ästheten. Ich rief Henry an und sagte ihm, wo ich war. Dann verstaute ich meine Habe, weihte die Toilette ein und fuhr wieder los, diesmal nach Norden bis in das kleine Dorf Niland.

Ich fuhr rechts heran und hielt da, wo der Bordstein gewesen wäre, wenn es einen Gehsteig gegeben hätte. Ich fragte einen ledergesichtigen Rancher im Overall nach dem Weg zu den Slabs. Er zeigte wortlos in eine Richtung. Ich bog an der nächsten Ecke ab und fuhr weitere anderthalb Meilen durch eine flache Landschaft, die nur von Telefon- und Hochleitungsmasten unterbrochen wurde. Hin und wieder überquerte ich einen Bewässerungskanal mit braunem Gras an den Uferrändern. Rechts sah ich in der Ferne einen Erdhügel, von einem felsigen Auswuchs gekrönt, der mit religiösen Sprüchen bemalt war. GOTT IST DIE LIEBE und BEREUE stand da in riesigen Lettern; den Text darunter konnte ich nicht lesen. Wahrscheinlich ein Bibelzitat. In der Nähe parkte ein vergammelter Laster mit einem Holzverschlag auf der Ladefläche, der ebenfalls mit irgendwelchen fundamentalistischen Ermahnungen bepinselt war.

Ich fuhr an etwas vorbei, das früher, als es hier noch den Militärstützpunkt gab, das Wachhaus gewesen sein musste. Jetzt standen nur noch die Außenmauern aus Beton, neunzig mal neunzig im Geviert und nur ein bisschen größer als eine Telefonzelle. Ich fuhr auf das Gelände des ehemaligen Stützpunkts. Ein paar Hundert Meter weiter unten an der Straße entdeckte ich ein zweites Wachhaus, das himmelblau gestrichen war. Die Vorderfront war mit immergrünen Pflanzen bemalt, wobei an der Dachkante mit schwarzen Buchstaben WILLKOMMEN stand und darunter, auf weißem Grund im Bogen angeordnet, IN SLAB CITY, verziert mit in alle Richtungen davonflatternden weißen Tauben. Noch zweimal entdeckte ich den Spruch GOTT IST DIE LIEBE; die Malereien stammten wahrscheinlich aus den Sechzigern, als die Hippies hier durchgekommen waren. In der Wüste geht nichts zu Grunde, außer den Wildtieren und den wild wachsenden Pflanzen natürlich. Die Luft ist so trocken, dass es keine Fäulnis zu geben scheint, und die Hitze, die fast das ganze Jahr herrscht, konserviert mehr als sie vernichtet. Ich war an verlassenen Holzhütten vorbeigekommen, die wahrscheinlich seit sechzig Jahren leer standen.

Jetzt sah ich auf einer endlosen Fläche aus Kies und Erde mehrere Wohnmobile, ein paar Autos, viele mit weit offenen Türen, damit die Hitze sich nicht stauen konnte; Wohnanhänger, Zelte und Kleinlaster mit Campingaufsatz standen in einer locker zusammengewürfelten Nachbarschaft kreuz und quer durcheinander. Die breiten Straßen waren durch Kreosotklumpen und Büschel von Büffelgras markiert. Nur eine Straße hatte eine Bezeichnung; 18th Street stand auf dem Schild, das an einem Stein lehnte.

An der Hauptstraße wurde einer der längsten Flohmärkte der Welt abgehalten. Auf den Verkaufstischen lagen alle möglichen Gegenstände aus Glas, getragene Kleidung, alte Autoreifen, ausrangierte Autositze und kaputte Fernseher, lauter »Billigangebote«. Eine handgeschriebene Tafel verkündete: AUSSCHLACHTUNGEN UND GELEGENHEITSARBEITEN. Aber weit und breit war nicht ein einziger Kunde in Sicht. Ich bekam auch keinen Einwohner zu sehen. An einem Mast hing die Fahne der Vereinigten Staaten und an einem zweiten die Flagge des Staates Kalifornien. Beide knatterten im heißen Wind, der den Staub aufwirbelte. Hier gab es keine Fernsehantennen, keine Zäune, keine Telefonmasten, keine elektrischen Leitungen, kein Gebäude, das irgendetwas überdauern sollte. Der ganze Ort hatte etwas Provisorisches. Bunte Markisen boten Schutz gegen die Mittagssonne. Nur ab und zu unterbrach Hundegebell die Stille.

Ich fuhr an den Straßenrand, parkte den Wagen und stieg aus. Ich sah mich suchend um, schirmte dabei die Augen mit der Hand ab. Inzwischen an das grelle Licht gewöhnt, entdeckte ich in der Nähe ein paar Leute: ein Paar, das in der offenen Tür seines mobilen Heims saß, einen Mann, der von einer Wagenreihe zur anderen ging. Sie schienen mich nicht zu beachten. Dass Fremde kamen und gingen, war offenbar etwas so Alltägliches, dass mein Erscheinen nicht das geringste Interesse weckte.

Ungefähr fünfzig Meter von mir entfernt erblickte ich eine Frau, die im Schatten eines zwischen zwei Wohnwagen gespannten leuchtend orangeroten Fallschirms saß. Den Kopf leicht geneigt, stillte sie ein Kind. Ich ging näher und blieb etwa fünf Meter entfernt von ihr stehen. Ich war nicht sicher, wo hier der Privatgrund begann, und wollte keine Grenzen verletzen.

»Hallo«, sagte ich. »Ob Sie mir vielleicht helfen könnten?«

Sie blickte auf. Sie war etwa achtzehn und hatte sich das dunkle Haar auf dem Hinterkopf zu einem unordentlichen Knoten aufgesteckt. Sie trug Shorts und ein Baumwollhemd, das vorn aufgeknöpft war. Das Baby saugte so energisch, dass sogar ich es schmatzen hörte, obwohl ich so weit weg war. »Suchen Sie Eddie?«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich suche eine Frau namens Agnes Grey. Kennen Sie sie zufällig?«

»Nee. Aber Eddie könnte sie kennen. Er ist schon viel länger hier als ich. Ist sie ‘ne ›Ständige‹?«

»So viel ich weiß, lebt sie seit vielen Jahren hier.«

»Dann sollten Sie sich im Christian Center gleich unten links erkundigen. Das ist der Wohnwagen mit der Tafel, auf der alle Veranstaltungen stehen. Eine Menge Leute sind für den Notfall dort gemeldet. Was wollen Sie von der Frau?«

»Ihre Tochter in Santa Teresa hat seit Monaten nichts mehr von ihr gehört. Sie hat mich gebeten festzustellen, warum ihre Mutter sich nicht mehr meldet.«

Sie blinzelte mich an. »Sind Sie sowas wie eine Detektivin?«

»Na ja, mehr oder weniger. Ich bin mit der Familie befreundet und musste ohnehin in die Gegend, also hab ich gesagt, ich seh mich mal um.« Ich holte die beiden Schnappschüsse heraus, die Irene Gersh mir gegeben hatte, ging auf die junge Frau zu und hielt die Bilder so, dass sie sie ansehen konnte. »Das ist ihr Wohnwagen. Ein Foto von ihr selber hab ich nicht. Sie ist eine alte Frau in den Achtzigern.«

Die junge Frau legte den Kopf schräg und betrachtete die Fotos. »O ja, die! Die kenn ich. Ich habe nur nie ihren richtigen Namen gehört. Alle hier nennen sie nur Old Mama.«

»Können Sie mir sagen, wo ich sie finde?«

»Nein, eigentlich nicht. Ich weiß, wo ihr Wohnwagen steht, aber sie selbst hab ich schon länger nicht gesehen.«

»Wissen Sie noch, wann das war?«

Sie verzog das Gesicht und überlegte eine Weile. »Ich hab sie nie besonders beachtet, kann’s also wirklich nicht sagen. Wenn sie in den Ort mitgenommen werden will, stapft sie immer da vorn auf und ab. Die sind hier alle ganz großartig, wenn der eigene Wagen mal nicht funktioniert und man wohin muss. Aber sie ist irgendwie seltsam.«

»Wie äußert sich das?«

»Na ja, wissen Sie, ab und zu redet sie mit sich selbst. Man sieht immer wieder Leute, die so vor sich hin plappern und gestikulieren, als ob sie mit jemandem streiten. Eddie hat sie ein paar Mal nach Brawley mitgenommen, und da war sie ganz in Ordnung, sagt er. Gestunken hat sie, aber sie hat nicht gesponnen oder so.«

»Und in letzter Zeit haben Sie sie nicht mehr gesehen?«

»Nein, aber wahrscheinlich ist sie noch hier irgendwo. Ich habe mit dem Baby so viel zu tun gehabt. Fragen Sie doch jemand anders. Ich hab selber nie mit ihr gesprochen.«

»Wie wär’s mit Eddie? Wann erwarten Sie ihn?«

»Nicht vor fünf, hat er gesagt. Wenn Sie sich ihren Wohnwagen ansehen wollen, fahren Sie ungefähr eine Viertelmeile immer diese Straße lang. Dann sehen Sie einen alten durchgerosteten Chevy. So heißt auch die Straße: Rusted-Out-Chevy-Road. Biegen Sie rechts ein und fahren Sie weiter, bis Sie an den Betonbunkern vorbeikommen. Sehen wie ‘n großes U aus. Keine Ahnung, wozu die gut sind, aber Old Mamas Wohnwagen steht auf der nächsten Parzelle. Sie müssen laut an die Tür hämmern. Ich glaub, sie hört nicht besonders gut, das hat Eddie jedenfalls gesagt.«

»Danke. Ich mach mich gleich auf die Socken.«

»Wenn Sie sie nicht finden, können Sie wieder kommen und auf Eddie warten, wenn Sie wollen. Er weiß vielleicht mehr.«

Ich schaute auf meine Uhr. Es war erst Viertel vor zwölf. »Durchaus möglich, dass ich wieder komme«, sagte ich. »Danke für die Hilfe.«

Hoher Einsatz

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