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Zuerst möchte ich Ihnen mitteilen, dass ich nicht die Erfahrung gemacht habe, dass an der Schwelle des Todes das ganze Leben im Zeitraffer noch einmal vor einem abrollt. Kein lockendes weißes Licht am Ende eines Tunnels, keine warme, diffuse Ahnung, dass meine verstorbenen Lieben drüben auf mich warteten. Ich hörte in meinem Inneren nur ein empörtes Stimmchen, das protestierte: »He, nicht doch. Das ist doch wohl nicht ernst gemeint. Soll das wirklich schon alles gewesen sein?« Am meisten bereute ich, dass ich am Vorabend nicht wie geplant meine Kommode aufgeräumt hatte. Der Gedanke, dass die Menschen, die dein vorzeitiges Dahinscheiden betrauern, gleichzeitig das unauslöschliche Bild deiner zusammengeknüllten Unterhosen mitnehmen, ist ziemlich unangenehm. Man könnte natürlich die Gültigkeit dieser Beobachtung in Frage stellen, da ich ja damals offensichtlich nicht gestorben bin. Aber dennoch – sehen wir den Dingen ins Auge: Das Leben ist ziemlich trivial, und ich vermute stark, dass uns das Sterben auch keinen großen Zuwachs an Weisheit beschert.

Mein Name ist Kinsey Millhone. Ich bin lizenzierte Privatdetektivin in Santa Teresa, einem Ort fünfundneunzig Meilen nördlich von Los Angeles. Die letzten sieben Jahre hatte ich ein eigenes kleines Büro gleich neben der Hauptstelle der California Fidelity-Versicherungsgesellschaft. Mein Abkommen mit der CF gestand mir die Nutzung einer hübschen Eck-Suite zu. Dafür verpflichtete ich mich, auf einer ungeregelten »Nach-Bedarf«-Basis in suspekten Brand- und Todesfällen für sie zu ermitteln. Anfang November hatte dieses Arrangement ein jähes Ende gefunden, nachdem sie einen superdynamischen Leistungsmaximierungs-Experten aus der Filiale in Palm Springs in die Hauptstelle versetzt hatten.

Ich hatte nicht gedacht, dass ich von dieser Veränderung im Firmenmanagement in irgendeiner Weise betroffen sein würde, da ich ja keine reguläre Angestellte, sondern nur freie Mitarbeiterin war. Doch schon bei meiner ersten (und einzigen) Begegnung mit diesem Herrn entzündete sich eine spontane wechselseitige Antipathie. In der Viertelstunde, die unsere gesamte Beziehung ausmachte, zeigte ich mich unhöflich, widerspenstig und unkooperativ. Und ehe ich mich’s versah, fand ich mich mit diversen Pappkartons voller Akten auf der Straße wieder. Ich will gar nicht groß davon reden, dass meine Zusammenarbeit mit der CF in der Zerschlagung eines Betrügerringes gipfelte, der durch fingierte Autounfälle Millionensummen an Versicherungsgeldern kassiert hatte. Alles, was mir das eintrug, war ein verstohlener Händedruck von Mac Voorhies (dem Vizepräsidenten der Gesellschaft und einem bekennenden Hasenfuß), der mir versicherte, er finde diesen Menschen genauso grässlich wie ich. Diese moralische Unterstützung tat mir zwar wohl, löste aber nicht mein Problem. Ich brauchte Arbeit. Ich brauchte ein Büro, wo ich sie tun konnte. Davon abgesehen, dass ich zu Hause gar nicht den Platz hatte, wäre das auch unprofessionell gewesen. Unter meiner Kundschaft sind manchmal ziemlich unangenehme Zeitgenossen, und ich wollte nicht, dass diese Typen mitkriegten, wo ich wohnte. Ich hatte schon genug am Hals. Nach den letzten deftigen Steuererhöhungen hatte sich mein Hauswirt gezwungen gesehen, meine Miete zu verdoppeln. Das traf ihn noch mehr als mich, aber nach Auskunft seines Steuerberaters blieb ihm nichts anderes übrig. Die Miete war immer noch ganz im Rahmen, und ich konnte mich nicht beklagen, aber die Erhöhung hätte zu keinem ungünstigeren Zeitpunkt kommen können. Meine ganzen Ersparnisse steckten in meinem »neuen« Auto, einem hellblauen VW, Baujahr 74, mit nur einer klitzekleinen Delle im hinteren linken Kotflügel. Meine Lebenshaltungskosten waren bescheiden, aber ich hatte trotzdem am Monatsende keinen Cent übrig.

Es gibt ja die Theorie, dass niemand gefeuert wird, der nicht geheime Freiheitssehnsüchte hat, aber das ist wohl eher so eine Sentenz von Leuten, die gerade an die Luft gesetzt worden sind. Gefeuert zu werden ist die Hölle, vom Demoralisierungseffekt her durchaus auf einer Stufe mit dem Verlassenwerden in der Liebe. Das Selbstwertgefühl schnurrt zusammen, und das Ego macht Pffft wie ein zerstochener Reifen. In den Wochen nach meinem Rausschmiss hatte ich all die Reaktionsstadien kennen gelernt, die man nach der Eröffnung einer hoffnungslosen Diagnose durchmacht: Wut, Verleugnung, Feilschen, Suff, unflätiges Reden, Schnupfenanfälle, rüde Gesten, Beklemmungen und plötzliche Essstörungen. Zudem hatte ich den Urheber der ganzen Misere mit einem steten Strom hässlicher Gedanken überschwemmt. Seit einiger Zeit jedoch fragte ich mich, ob nicht doch etwas dran war an der Sache mit dem unbewussten Wunsch, formlos abserviert zu werden. Vielleicht hatte ich die CF ja einfach satt. Vielleicht war ich ja ausgebrannt. Vielleicht wollte ich einfach mal einen Tapetenwechsel. Wie auch immer – ich begann mich damit abzufinden und fühlte schon wieder Optimismus in mir aufsteigen wie Ahornsaft. Es war nicht nur eine Sache des Überlebens. Irgendwie, das wusste ich, würde ich es ihnen zeigen.

Fürs Erste hatte ich einen Raum im Anwaltsbüro Kingman und Ives gemietet. Lonnie Kingman ist Anfang vierzig, gerade einssechzig groß, zwei Zentner schwer, ein fanatischer Gewichtheber und permanent voll gepumpt mit Steroiden, Testosteron, Vitamin B12 und Koffein. Er hat zottelige schwarze Haare wie ein Pony im Fellwechsel. Seine Nase sieht aus, als sei sie ebenso oft gebrochen worden wie meine. Den diversen gerahmten Diplomen an der Wand habe ich entnommen, dass er seinen Bachelor in Harvard, seinen Magister an der Columbia Universität und seinen Doktor summa cum laude an der rechtswissenschaftlichen Fakultät von Stanford gemacht hat.

Sein Partner John Ives hält es, trotz durchaus ebenbürtiger akademischer Qualifikationen, mehr mit den stillen, unscheinbaren Seiten des Anwaltsmetiers. Seine Spezialität sind zivilrechtliche Berufungsverfahren, und auf diesem Gebiet gilt er als sehr einfallsreich und gründlich und als Formulierungskünstler in seinen Schriftsätzen. Seit Lonnie und John das Anwaltsbüro vor etwa sechs Jahren gründeten, hat sich der Mitarbeiterstab ständig vergrößert. Derzeit umfasst er eine Empfangskraft, zwei Sekretärinnen sowie einen Gehilfen, der gleichzeitig als Bote fungiert. Martin Cheltenham, der der Kanzlei als dritter Anwalt, wenn auch nicht als offizieller Sozius angehört, ist Lonnies bester Freund und hat seinen Büroraum ebenso von ihm angemietet wie ich.

Die schicken Prozesse in Santa Teresa gehen offenbar alle an Lonnie Kingman. Bekannt ist er vor allem als Strafverteidiger, aber seine Leidenschaft sind komplexe Verfahren, bei denen es um Zivilklagen im Zusammenhang mit Unfallverletzungen oder Todesfällen geht, und anlässlich einer solchen Sache hatten sich auch unsere Wege gekreuzt. Ich hatte seither öfter für Lonnie gearbeitet und dachte mir, er wäre – abgesehen davon, dass ich seine Dienste gelegentlich selbst benötige – eine gute Referenz. Und aus seiner Sicht konnte es nicht schaden, eine Detektivin auf der Etage zu haben. Wie bei der California Fidelity war ich nicht angestellt, sondern freie Mitarbeiterin. Ich erbrachte bestimmte Leistungen und stellte sie entsprechend in Rechnung. Zur Feier dieses neuen Arrangements erstand ich einen schmucken Tweed-Blazer zu meinem Normalaufzug aus Jeans und Rollkragenpullover. Ich fand mich ganz schön peppig in meinem neuen Outfit.

Es war ein Montag Anfang Dezember, als ich das erste Mal mit dem Mordfall Isabelle Barney in Berührung kam. Ich war an diesem Tag zwei Mal runter nach Cottonwood gefahren, jeweils gute fünfzehn Kilometer hin und zurück, um einem Zeugen in einem Prozess wegen Beteiligung an einer Schlägerei eine Vorladung zuzustellen. Das erste Mal war er nicht zu Hause. Beim zweiten Mal erwischte ich ihn, als er, von der Arbeit kommend, gerade in seine Einfahrt einbog. Ich händigte ihm, unter Nichtbeachtung seines Unmuts, die Papiere aus und machte mich wieder davon, das Autoradio voll aufgedreht, um seine wenig feinen Geleitworte zu übertönen. Es waren ein paar Ausdrücke darunter, die ich seit Jahren nicht mehr gehört hatte. Auf dem Rückweg fuhr ich noch beim Büro vorbei.

Die Firma Kingman residiert in einem dreistöckigen Gebäude mit überdachten Autoabstellplätzen zu ebener Erde und zwei Büroetagen darüber. Über die Vorderfront verteilen sich sechs raumhohe, zweiflügelige Glasfenster, die nach innen aufgehen und der Durchlüftung dienen. Jede dieser Türen ins Nichts wird flankiert von hölzernen Läden im sanften Grün oxidierten Kupfers, und die untere Hälfte der Fenster wird von schmiedeeisernen Gittern gesichert, die vor allem dekorativen Zwecken dienen, aber im Notfall wohl auch einen lebensmüden Hund oder das quengelige Kind einer Klientin daran zu hindern vermögen, sich vor lauter Genervtheit hinabzustürzen. Das Gebäude reicht über die ganze Grundstücksbreite und hat rechts eine Tor-Durchfahrt, die zu einem winzigen Parkplatz auf der Rückseite führt. Der einzige Nachteil ist die knauserige Vergabe der Stellplätze. Es gibt sechs Nutzerparteien und zwölf Parkplätze. Da Lonnie der Hausbesitzer ist, hat seine Kanzlei vier belegt: einen für John, einen für Martin, einen für Lonnie und einen für Lonnies Sekretärin Ida Ruth. Die verbleibenden acht wurden nach der Größe der vermieteten Räumlichkeiten aufgeteilt. Uns, die wir leer ausgingen, blieb die Wahl zwischen der Straße und einem der öffentlichen Parkplätze drei Häuserblocks weiter. Die Parkgebühren sind, an Großstadtnormen gemessen, lächerlich, aber bei meinem begrenzten Budget schlagen sie doch zu Buche. Das Bordstein-Parken ist in der Innenstadt zwar gebührenfrei, aber auf neunzig Minuten begrenzt, und die Politessen verpassen einem sofort einen Strafzettel, wenn man auch nur eine Minute überzieht. Folglich brauchte ich eine Menge Zeit, um mein Auto aus einer Parklücke in die nächste zu kutschieren oder herumzukurven und einen Platz zu suchen, der weder reglementiert noch ewig weit weg war. Zum Glück besteht dieses nervtötende Problem aber nur bis achtzehn Uhr.

Jetzt war es achtzehn Uhr fünfzehn, und die vorderen Fenster im obersten Stock waren dunkel, was darauf schließen ließ, dass schon alle Feierabend gemacht hatten. Als ich durch den Torbogen fuhr, sah ich Lonnies Wagen noch auf seinem Platz stehen. Ida Ruths Toyota war nicht mehr da. Also parkte ich in ihrer Box, neben Lonnies Mercedes. Auf Johns Parkplatz stand eine mir unbekannte hellblaue Jaguar-Limousine. Ich reckte den Kopf aus dem Seitenfenster und linste nach oben. In Lonnies Fenstern war noch Licht, zwei blassgelbe Rechtecke im schrägen Schatten des Dachs. Offenbar hatte er noch Besuch von einem Klienten.

Die Tage wurden jetzt immer kürzer, und um diese Uhrzeit legte sich ein düsteres Grau über die Stadt. Irgendetwas in der Luft weckte Sehnsüchte nach Kaminfeuer, netter Gesellschaft und einem jener Cocktails, die auf den Anzeigen-Fotos so raffiniert aussehen und die wie Rheuma-Mixtur schmecken. Ich redete mir ein, dass ich noch zu tun hatte, aber das war nur eine Ausrede, um das Nach-Hause-Kommen aufzuschieben.

Ich schloss meinen Wagen ab und ging zur Treppe. Sie wand sich einen runden Schacht hinauf, der sich wie ein Schlot durch die Mitte des Gebäudes zog. Es war stockfinster, und ich musste die kleine Taschenlampe an meinem Schlüsselbund benutzen, um die Stufen zu erkennen. Der Außenflur im dritten Stock war dunkel, aber durch das Milchglas der Eingangstür sah ich Licht vorn bei der Anmeldung. Tagsüber war der gesamte dritte Stock hell und heiter, mit weißen Wänden, goldbraunem Teppichboden, einem Dschungel von Zimmerpflanzen, skandinavischen Möbeln und Kunst in leuchtenden Pastelltönen. Mein Büroraum war vorher eine Kombination aus Besprechungsraum und Teeküche gewesen und enthielt jetzt meinen Schreibtisch nebst Drehstuhl, Aktenschränken, einer kleinen Couch, die notfalls auch als Bett fungieren konnte, einem Telefon und meinem Anrufbeantworter. Ich stand nach wie vor unter »Detekteien« im Branchen-Telefonbuch, und wer unter der alten Nummer anrief, bekam die neue mitgeteilt. In den Wochen seit meinem Umzug waren zwar ein paar Aufträge hereingekleckert, aber ich sah mich doch gezwungen, Zustellungen zu übernehmen, um über die Runden zu kommen. Bei zwanzig Dollar pro Stück würde ich damit nie reich werden, aber an guten Tagen kam ich manchmal immerhin auf einen Hunderter extra. Nicht schlecht, wenn ich es zwischen die eigentlichen Ermittlungstätigkeiten einschieben konnte.

Ich trat leise ein, um Lonnie nicht zu stören, falls er gerade in einer Besprechung war. Seine Bürotür stand offen, und ich sah im Vorbeigehen automatisch hinein. Er redete gerade mit einem Klienten, aber als er mich sah, winkte er. »Kinsey, hätten Sie einen Moment Zeit? Ich habe hier jemanden, mit dem ich Sie gern bekannt machen möchte.«

Ich tappte im Rückwärtsgang wieder zu seiner Tür. Lonnies Klient saß mit dem Rücken zu mir in dem schwarzen Ledersessel. Als Lonnie aufstand, erhob er sich ebenfalls. Er drehte sich zu mir um, während Lonnie uns einander vorstellte. Der Mann hatte, wenn ich mich mal so ausdrücken darf, eine düstere Aura.

»Kenneth Voigt«, sagte Lonnie. »Das ist Kinsey Millhone, die Privatdetektivin, von der ich Ihnen erzählt habe.«

Wir schüttelten uns die Hand und wechselten die üblichen Begrüßungsfloskeln, während wir einander taxierten. Er war Anfang fünfzig, mit dunklem Haar und dunkelbraunen Augen, und zwischen seine Brauen hatte chronischer Missmut tiefe Furchen gegraben. Seine Züge waren grob, die hohe Stirn durch einen seitwärts gekämmten schütteren Haarzipfel aufgelockert. Er lächelte mich höflich an, ohne dass sich sein Gesicht sonderlich aufgehellt hätte. Auf seiner Stirn glänzte ein Schweißfilm. Noch immer stehend, zog er sein Sportsakko aus und warf es auf die Couch. Darunter trug er ein dunkelgraues, kurzärmliges Polo-Hemd mit drei Knöpfen, von denen der oberste offen stand. Dunkle Haare ringelten sich aus dem Halsausschnitt, und seine Arme waren von einem dunklen Vlies bedeckt. Er hatte schmale Schultern, und seine Armmuskeln waren dünne, unausgebildete Stränge. Ein bisschen Krafttraining hätte er durchaus vertragen können, schon zum Stressabbau. Er zog jetzt ein Taschentuch heraus und tupfte sich Stirn und Oberlippe ab.

»Ich möchte, dass sie mithört«, sagte Lonnie jetzt zu Voigt. »Sie kann heute Abend noch die Akten durchgehen und gleich morgen Früh anfangen.«

»Von mir aus«, sagte Voigt.

Die beiden setzten sich wieder. Ich hockte mich mit untergeschlagenen Beinen in die eine Sofaecke, durch die Aussicht auf einen Honorarscheck beträchtlich aufgemuntert. Ein Vorteil bei der Arbeit für Lonnie ist, dass er Nassauer gleich ausfiltert.

Lonnie wandte sich an mich, um eine kurze Erklärung vorauszuschicken, ehe sie ihr Gespräch fortsetzten. »Der Privatdetektiv, der bisher für uns gearbeitet hat, ist plötzlich gestorben – Herzinfarkt. Morley Shine, kannten Sie ihn?«

»Natürlich«, sagte ich betroffen, »Morley ist tot? Wann ist das passiert?«

»Gestern Abend, so gegen acht. Ich war übers Wochenende weg und bin erst nach Mitternacht zurückgekommen. Deshalb habe ich es selbst erst heute Morgen telefonisch von Dorothy erfahren.«

Morley Shine war in meiner Erinnerung immer da gewesen, kein enger Freund, aber doch jemand, auf den ich in einer Notlage hätte zählen können. Er und der Detektiv, der mich ausgebildet hatte, waren jahrelang Partner gewesen. Irgendwann hatten sie sich dann überworfen und getrennt weitergemacht. Morley war Ende sechzig gewesen, groß und krummschultrig, mit gut und gern achtzig Pfund Übergewicht, einem runden Grübchengesicht, einem asthmatischen Lachen und gelben Fingern von den vielen Zigaretten, die er rauchte. Er hatte seine Spitzel und Informanten in sämtlichen Strafanstalten des Staates gehabt und jederzeit alle wichtigen Informations-Pools der Gegend anzapfen können. Ich würde Lonnie später noch genauer über seinen Tod ausfragen müssen. Vorerst jedoch konzentrierte ich mich auf Kenneth Voigt, der sehr genau vorbereitet war und einen fliegenden Start anstrebte.

Er sah zu Boden, die Hände locker im Schoß gefaltet. »Meine Ex-Frau wurde vor sechs Jahren umgebracht. Isabelle Barney. Sie erinnern sich an den Fall?«

Der Name sagte mir nichts. »Ich glaube nicht«, murmelte ich.

»Jemand hat die Linse des Spions in ihrer Haustür herausgeschraubt. Er hat geklopft, und als sie das Licht anknipste und durchguckte, hat er eine Achtunddreißiger durch das Loch abgefeuert. Sie war sofort tot.«

Mein Gedächtnis sprang an. »Das war Ihre Frau? Ich erinnere mich gut. Ist das wirklich schon sechs Jahre her?« Beinahe hätte ich noch das einzige weitere Detail genannt, an das ich mich erinnerte: dass es damals geheißen hatte, ihr Ehemann habe sie ermordet, mit dem sie in Trennung lebte. Offenbar nicht Kenneth Voigt, aber wer dann?

Ich sah Lonnie an, der meine Frage mit übersinnlichen Antennen aufgefangen zu haben schien und prompt reagierte. »Der Mann heißt David Barney. Er wurde freigesprochen, falls Sie das wissen wollten.«

Voigt rutschte in seinem Sessel hin und her, als verursache ihm die bloße Nennung dieses Namens bereits Juckreiz. »Dieses Schwein.«

Lonnie sagte: »Erzählen Sie weiter, Ken. Ich wollte Sie nicht unterbrechen. Wo sie schon hier ist, können Sie ihr ja vielleicht ein wenig die Hintergründe erläutern.«

Er schien ein paar Sekunden zu brauchen, um sich wieder zu erinnern, wovon er eben gesprochen hatte. »Wir waren vier Jahre verheiratet ... beide in zweiter Ehe. Unsere Tochter ist jetzt zehn und im Internat. Sie war vier, als Iz umgebracht wurde. Wir hatten Probleme, Isabelle und ich ... nichts Besonderes, aus meiner Sicht. Sie hat eine Affäre mit Barney angefangen. Einen Monat nach unserer Scheidung hat sie ihn geheiratet. Er hatte es nur auf ihr Geld abgesehen. Alle wussten das, nur die arme, naive Iz nicht. Ich meine das nicht beleidigend. Ich habe diese Frau wirklich geliebt, aber sie war nun mal ein Ausbund an Leichtgläubigkeit. Sie war intelligent und talentiert, aber sie hatte absolut kein Selbstwertgefühl, und das machte sie zur leichten Beute für jeden, der ihr ein freundliches Wort schenkte. Sicher kennen Sie diese Sorte Frau. Emotional abhängig, Selbstachtung gleich null. Sie war Künstlerin, und ich habe ihr Können sehr bewundert, aber es war schwer, mitansehen zu müssen, wie sie ihr Leben weggeworfen hat ...«

Ich merkte, wie ich mich ausklinkte, während er mit seiner Persönlichkeitsanalyse fortfuhr. Seine Verallgemeinerungen über Frauen waren ärgerlich, und er hatte die Geschichte offenbar schon so oft erzählt, dass seine Darstellung leblos und ohne jedes Gefühl blieb. Das Drama drehte sich nicht mehr um sie, sondern nur noch um ihn und um das, was es für ihn bedeutet hatte. Mein Blick wanderte hinüber zu dem Stoß dicker Aktenordner auf Lonnies Schreibtisch. VOIGT/BARNEY konnte ich auf den Rücken lesen. Zwei an der Wand aufeinander gestapelte Kartons enthielten laut Beschriftung noch weitere Unterlagen. Alles, was Voigt sagte, würde sich dort drin finden, eine Sammlung unkommentierter Fakten. Es war verrückt – was er sagte, mochte wahr sein, aber es war deshalb noch lange nicht glaubhaft. Manche Leute sind einfach so. Der simpelste Tatsachenbericht klingt aus ihrem Mund falsch. Er sprach noch ein Weilchen weiter, in dichten Sequenzen, die keine Chance zum Einhaken ließen. Ich fragte mich, wie oft Lonnie ihm wohl schon als Publikum gedient haben mochte. Ich merkte, dass er ebenfalls abgeschaltet hatte. Während Kenneth Voigts Mund sich weiter bewegte, ergriff Lonnie einen Bleistift, drehte ihn zwischen den Fingern und klopfte abwechselnd mit der Spitze und dann mit dem Radiergummi auf seinen Notizblock. Ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder Ken Voigt zu.

»Wie ist dieser Barney denn aus der Sache rausgekommen?«, fragte ich, sobald er Atem holte.

Lonnie schaltete sich ein, offensichtlich erpicht darauf, endlich zum Kern der Sache zu kommen. »Dink Jordan war der Ankläger. Zum Einschlafen. Herrje! Ich meine, der Mann kann wirklich was, aber er hat einfach kein Auftreten. Er dachte, die Fakten sprächen für sich.« Lonnie quittierte die Absurdität dieser Einstellung mit einem verächtlichen Schnauben. »Also prozessieren wir jetzt gegen Barney. Wir fechten die Erbschaft an, wegen Mordes. Ich hasse diesen Kerl. Ich kann ihn nicht ausstehen. In dem Moment, als er sich für nicht schuldig erklärt hat, habe ich zu Ken gesagt, wir sollten dem Mistkerl mit Nagelstiefeln ins Genick springen. Aber ich konnte ihn nicht dazu kriegen. Wir hatten schon Klage erhoben, doch dann konnte Ken sich auf einmal nicht mehr entschließen.«

Voigt zog unbehaglich die Brauen zusammen. »Sie hatten ja Recht, Lon. Jetzt sehe ich das auch, aber Sie wissen ja, wie das ist. Francesca – meine Frau – wollte nicht, dass wir das Ganze wieder aufrollen. Es ist schmerzlich für alle Beteiligten ... und für mich wohl am allermeisten. Ich hatte einfach nicht die Kraft.«

Lonnie guckte gequält. Er hatte wenig Verständnis für die begrenzten Kräfte irgendwelcher Leute. Sein Job war es, die Dinge anzupacken. Voigts Job war es, ihn zu lassen. »Schon gut. Lassen wir das. Vertan ist vertan. Es hat ein Jahr gedauert, bis er vor der Strafkammer freigesprochen wurde. Seither durfte Ken mit ansehen, wie David Barney Isabelles Geld verprasst. Und Sie können mir glauben, da geht es um eine ganze Menge Geld, das zum größten Teil seiner Tochter Shelby zugefallen wäre, wenn sie Barney verurteilt hätten. Schließlich war der Punkt erreicht, an dem die Familie nicht mehr länger stillhalten konnte. Also kam Ken zu mir, und wir leierten die Sache wieder an. Inzwischen hat aber Barneys Anwalt, ein Typ namens Foss, Antrag auf Klageabweisung wegen Säumnis gestellt. Ich sause also aufs Gericht und strample mich ab. Der Antrag wurde abgelehnt, aber der Richter hat sehr deutlich durchblicken lassen, dass er gar nicht gut auf mich zu sprechen ist.

Und jetzt nutzen dieser Barney und sein Armleuchter von Anwalt natürlich jedes erdenkliche Mittel, um die Sache zu verzögern. Sie feilschen und schachern, wo es nur geht. Wir sind bei der Offenlegung. Der Kerl ist vor der Strafkammer freigesprochen worden, was macht es also schon aus, was er jetzt sagt? Aber er kriegt den Mund nicht auf. Sperrt sich. Und warum? Weil er weiß, dass er schuldig ist. Ach, und dann noch das hier. Hören Sie sich das an. Da taucht auf einmal ein Mann bei Ken auf ... stellt sich raus, dass er mit David Barney in der Zelle gesessen hat. Der Bursche hat den Fall verfolgt. Er hat sich den Prozess angeguckt, nur so, um mitzukriegen, wie die Sache ausgeht, und jetzt erzählt er uns plötzlich, dass Barney den Mord so gut wie zugegeben hat, kaum dass er aus der Tür des Gerichtssaals war. Es hat uns Mühe gekostet, den Mann ausfindig zu machen, deshalb will ich, dass er als allererster vorgeladen wird.«

»Was soll das bringen?«, fragte ich. »David Barney kann doch nicht noch mal wegen Mordes vor Gericht gestellt werden.«

»Richtig. Und deshalb schnappen wir ihn uns jetzt von der zivilrechtlichen Seite. Da ist er viel besser zu packen, und das ist ihm auch verdammt klar. Der Kerl stellt sich quer, wo er nur kann. Wir reichen einen Antrag ein. Er hat dreißig Tage Frist, um zu reagieren. Was tut sein infamer Lump von einem Anwalt? Wartet bis zum neunundzwanzigsten Tag und legt dann Einspruch ein. Alles nur, um Zeit zu schinden. Er wirft uns Steine in den Weg, wo er kann.

Wir laden Barney zur Aussage vor, und er beruft sich auf den Schutz vor Selbstbezichtigung nach dem fünften Zusatzartikel. Wir lassen ihn vorführen. Der Richter weist ihn an auszusagen, weil er keine Rechte aus dem fünften Zusatzartikel hat. Es besteht keine Gefahr einer Anklageerhebung, weil ja das Verbot der doppelten Strafverfolgung gilt. Also versuchen wir noch einmal, unsere Aussage zu bekommen. Prompt kommt er uns wieder mit dem fünften Zusatzartikel. Wir könnten ihn wegen Missachtung eines Gerichtsbefehls drankriegen, aber inzwischen läuft die Verjährungsfrist ab...«

»Lonnie?«, sagte ich.

»Wir rackern uns ab, und es kommt nichts dabei raus. Die Fünfjahresfrist ist demnächst um, und es muss endlich etwas passieren. Wir stehen auf der Dringlichkeitsliste und werden vorgezogen, und ausgerechnet jetzt fällt Morley tot um –«

»Looonnnie«, sang ich.

Er hielt inne.

»Sagen Sie mir einfach nur, was Sie brauchen, und ich beschaffe es Ihnen.«

Lonnie lachte und warf seinen Bleistift nach mir. »Das ist es, was ich an ihr mag. Kein langes Gefackel«, sagte er zu Voigt. Er schob den Aktenberg zu mir herüber. »Da ist alles, was wir haben, wenn auch ein bisschen chaotisch. Ganz obenauf liegt ein Verzeichnis – vergewissern Sie sich erst einmal, dass alles irgendwo vorhanden ist, ehe Sie an die Arbeit gehen. Wenn Sie das Wesentliche kapiert haben, können wir überlegen, wo noch Löcher sind. Aber jetzt sollten Sie beide sich erst mal ein bisschen kennen lernen. Sie werden in den nächsten vier Wochen viel miteinander zu tun haben.«

Voigt und ich lächelten Lonnie höflich an, ohne einander anzusehen. Er schien von dieser Aussicht kaum begeisterter als ich.

Dringender Verdacht

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