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Da das Polizeirevier nur ein paar Häuser weiter lag, beschloss ich, mit Lieutenant Dolan von der Mordkommission anzufangen. Er lag mit Magen-Darm-Grippe zu Hause, aber Sergeant Cordero war da. Ich entdeckte Lieutenant Becker in einer Ecke, ganz mit einem Mann beschäftigt, den ich für einen Verdächtigen hielt, ein Weißer in den Zwanzigern, offenbar mürrisch und unkooperativ. Becker kannte ich besser als Cordero, aber wenn ich wartete, bis er frei war, würde er mich über meine Beziehung zu Jonah Robb von der Vermisstenabteilung ausquetschen. Ich hatte Jonah seit sechs oder acht Monaten nicht mehr gesehen und wollte im Moment keinen Kontakt herstellen.

Sheri Cordero war in dieser Abteilung eine Art Kalb mit zwei Köpfen. Als Frau und Hispano-Amerikanerin schaffte sie es, gleich zwei Minderheiten anzugehören. Sie war neunundzwanzig, klein, drall, gescheit, hart im Nehmen und schroff auf eine Art, die ich nicht recht definieren konnte. Sie wurde nie wirklich bissig, aber ihre männlichen Kollegen fühlten sich in ihrer Gegenwart immer ein bisschen ungemütlich. Ich verstand ihre Situation. Die Polizei von Santa Teresa ist schon besser als der Durchschnitt, aber es ist nicht leicht, Frau und gleichzeitig Cop zu sein. Kein Wunder, wenn es Sheri ein bisschen an Humor fehlte. Sie war gerade mitten in einem Telefongespräch, das sie auf Spanisch weiterführte, als ich hereinkam. Ich ließ mich auf dem Chrom-Kunstlederstuhl neben ihrem Schreibtisch nieder. Sie reckte einen Finger in die Höhe, um mir anzudeuten, dass sie gleich Zeit für mich haben werde. Auf ihrem Schreibtisch stand ein kleiner künstlicher Weihnachtsbaum. Er war mit kleinen Zucker-Spazierstöcken behängt, und ich nahm mir einen. Bei jemandem zu sitzen, der gerade telefoniert, hat den Vorteil, dass man die betreffende Person in aller Ruhe beobachten kann, ohne unhöflich zu erscheinen. Ich wickelte das Spazierstöckchen aus und warf das Zellophan in den Papierkorb. Sheri war offensichtlich ganz bei der Sache und gestikulierte heftig, um ihre Worte zu unterstreichen. Sie hatte ein nettes, eher unscheinbares Gesicht und war kaum geschminkt. An einem Schneidezahn fehlte eine Ecke, was ihrer ansonsten eher strengen Miene eine lustige Note verlieh. Während ich sie ansah, begann sie, auf einem Notizblock herumzukrakeln – einen Cowboy mit einem Cartoon-Messer in der Brust.

Sie beendete ihr Telefonat und wandte sich ohne sichtbares Umschalten mir zu. »Ja?«

»Ich wollte zu Lieutenant Dolan, aber Emerald sagt, er sei krank.«

»Er hat dieses verflixte Virus, das zur Zeit umgeht. Haben Sie’s schon gehabt? Ich war eine ganze Woche außer Gefecht. Die reinste Pest.«

»Bisher bin ich noch verschont geblieben«, sagte ich. »Wie lange ist er schon krank?«

»Erst zwei Tage. Er wird zurückkommen und aussehen wie der leibhaftige Tod. Kann ich irgendwas für Sie tun?«

»Wahrscheinlich schon. Ich ermittle für Lonnie Kingman in einer Erbsache. David Barney ist der Beklagte. Ich wollte mal hören, was damals so hinter den Kulissen geredet wurde. Waren Sie da schon hier?«

»Ich war damals noch in der Einsatzzentrale, aber ich habe es mitgekriegt. Mann, die waren ganz schön sauer, als er davonkam. Sah ganz danach aus, dass er’s war, aber sie konnten die Geschworenen nicht rumkriegen. Frust ist gar kein Ausdruck. Lieutenant Dolan war so wütend, dass er Nägel hätte zerbeißen können.«

»Wie ich höre, soll David Barneys damaliger Zellengenosse behaupten, Barney habe ihm gleich nach der Urteilsverkündung die Sache so gut wie gestanden.«

»Sie meinen Curtis McIntyre. Der sitzt im Bezirksgefängnis, und wenn Sie mit ihm reden wollen, tun Sie’s besser schnell. Er kommt diese Woche raus, weil er seine neunzig Tage wegen Körperverletzung abgesessen hat«, sagte sie. »Wissen Sie schon von Morley Shine?«

»Lonnie hat es mir gestern Abend gesagt, aber nur kurz. Wie ist es denn passiert?«

»Nach dem, was ich gehört habe, ist er einfach tot umgekippt. Er hatte wohl im Bett gelegen, auch mit diesem verdammten Infekt, aber er fühlte sich offenbar besser. Er hatte gerade zu Abend gegessen. Sie kennen ja Morley. Eine Mahlzeit auszulassen war für ihn das Schlimmste. Er ist vom Tisch aufgestanden und tot umgefallen.«

»Hatte er denn Herzbeschwerden?«

»Schon seit Jahren, aber er hat sie nie ernst genommen. Ich meine, er war zwar in Behandlung, aber es schien ihn ziemlich kalt zu lassen. Er hat immer nur Witze darüber gemacht.«

»Wirklich traurig«, sagte ich. »Er wird mir fehlen.«

»Mir auch. Wundert mich selbst, wie sehr mir das zusetzt. Bei der Dienstbesprechung hat mir jemand gesagt, Morley Shine ist gestorben. Ich bin in Tränen ausgebrochen. Hat mich selbst überrascht. Wir standen uns nicht besonders nah. Wir haben uns drüben im Gericht immer miteinander unterhalten, wenn ich darauf gewartet habe, in irgendeiner Sache als Zeugin aufgerufen zu werden. Er war ja immer dort und hat eine Camel nach der anderen geraucht und Fritos gemampft oder irgendwas aus dem Automaten. Macht mich ganz krank, dass die alten Knaben alle plötzlich tot umfallen. Wieso hat er nicht besser auf sich aufgepasst?«

Ihr Telefon klingelte, und gleich darauf war sie schon wieder völlig von ihrem Gespräch absorbiert. Ich winkte ihr kurz zu und verließ ihren Schreibtisch. Sie hatte mir im Wesentlichen gesagt, was ich wissen wollte. Die Cops waren von David Barneys Schuld überzeugt. Das war zwar kein Beweis, aber immerhin ein weiteres Stück Meinungsbild.

Ich ging noch eben beim Archiv vorbei und fragte Emerald, ob ich mal telefonieren könne. Ich rief Ida Ruth an und bat sie, mir für den späteren Vormittag einen Besuchstermin bei Curtis McIntyre im Gefängnis zu organisieren. Normalerweise ist dort nur am Sonntagnachmittag von eins bis drei Besuchszeit, aber da ich in Lonnie Kingmans Auftrag stand, konnte ich jederzeit mit ihm reden. Ach ja, die Vorteile der offiziellen Mission. Ich hatte so viele Jahre damit zugebracht, mich in den Büschen herumzudrücken, dass ich mich kaum daran gewöhnen konnte.

Nachdem das geregelt war, fragte ich sie nach Morleys Privatadresse. Morley hatte in Colgate gewohnt, das im Norden an Santa Teresa grenzt. Colgate besteht hauptsächlich aus »Leicht«-Industrie und Neubau-Siedlungen, mit diversen Geschäften entlang der Hauptstraße. Wo es früher nichts als Ackerland und Zitrushaine gegeben hatte, waren inzwischen Tankstellen, Bowling-Hallen, Bestattungsinstitute, Drive-in-Kinos, Motels, Schnellrestaurants, Teppichboden- und Supermärkte aus dem Boden gestampft worden, ohne erkennbare Rücksicht auf Ästhetik oder ein städtebauliches Konzept.

Morley und seine Frau Dorothy besaßen ein bescheidenes Häuschen in einer der ältesten Siedlungen zwischen dem South Peterson Highway und den Bergen. Ich vermutete, dass es in den fünfziger Jahren erbaut worden war, noch ehe die Baufirmen die Tricks individueller Außengestaltung entdeckten. Hier war das Holzwerk im Schweizer Chalet-Stil entweder schmutzig braun oder blau gestrichen, und die Doppelgaragen ragten vorn heraus und dominierten den Zugang. Die Fenster hatten Holzläden, passend zu den hölzernen Blumenkästen mit Hänge-Stiefmütterchen, die sich bei näherem Hinsehen allesamt als künstlich entpuppten. Die ganze Nachbarschaft schien auf dem absteigenden Ast, von den unkrautfleckigen Rasenstücken bis zu den rissigen Einfahrten, wo auf jedem zweiten Grundstück ein aufgebocktes Auto stand. Die Weihnachtsdekorationen machten es irgendwie nur noch schlimmer. Die meisten Häuser waren mit bunten Lichterketten geschmückt. Einer der Morleyschen Nachbarn schien mit dem Haus gegenüber in heftiger Konkurrenz zu stehen. In beiden Gärten war jedes verfügbare Fleckchen mit einschlägigem Zierrat bestückt, von Plastik-Weihnachtsmännern bis hin zu Plastik-Drei-Königen.

Es war Dienstagmorgen. Morley war Sonntagabend gestorben, und obwohl ich Hemmungen hatte, in dieser Situation zu stören, schien es mir doch wichtig, zu bergen, was ich an Papieren finden konnte, ehe irgendein wohlmeinender Angehöriger alles in den Müll warf. Ich klopfte an die Haustür und wartete. Morley hatte nie sonderlich auf Äußerlichkeiten geachtet, und das Haus machte einen ziemlich verlotterten Eindruck. Die blaue Farbe des Geländers, ohnehin ungleichmäßig, blätterte ab. Ich hatte das deprimierende Gefühl, alles genau zu kennen. Ich konnte mir das muffige Interieur genau vorstellen: die gesprungenen Kacheln in der Küche, die buckligen PVC-Fliesen auf dem Fußboden, die Auslegeware mit den Trampelpfaden, wo sich der Dreck nicht mehr entfernen ließ, verzogene Alu-Fensterrahmen, rostige Armaturen im Bad. Ein zerbeulter, grüner, viertüriger Mercury stand auf dem Gras neben der Einfahrt. Ich identifizierte ihn gleich als Morleys Wagen, ohne dass ich genau hätte sagen können, weshalb. Es war einfach die Art Schrottkiste, die zu ihm passte. Er hatte den Wagen vermutlich schon zig Jahre und hätte ihn sicher ohne zu zögern weiter gefahren, bis der Motor am Ende gewesen wäre. In der Einfahrt stand ein neuer, roter Ford mit dem Namen einer lokalen Autovermietung auf dem Nummernschild. Wahrscheinlich jemand von außerhalb ...

»Ja?« Die Frau war klein, Mitte sechzig und wirkte energisch und tüchtig. Sie trug eine rosageblümte, langärmlige Bluse, einen Tweedrock, Strumpfhosen und Slipper. Ihr graues Haar war unauffällig frisiert, ihr Gesicht nur leicht geschminkt. Sie trocknete sich die Hände an einem Geschirrtuch ab und sah mich fragend an.

»Hi. Mein Name ist Kinsey Millhone. Sind Sie Mrs. Shine?«

»Ich bin Dorothys Schwester, Louise Mendelberg. Mr. Shine ist vorgestern gestorben.«

»Das habe ich gehört, und es tut mir Leid, dass ich Sie stören muss. Aber er hat zuletzt für einen Rechtsanwalt Lonnie Kingman gearbeitet, und ich bin gebeten worden, den Fall zu übernehmen. Komme ich gerade in einem ungünstigen Moment?«

»Einen günstigen Moment gibt es wohl kaum, wenn gerade jemand gestorben ist«, erwiderte sie spitz. Ich hatte eine Person vor mir, die den Tod nicht ernstlich an sich heranließ. Sie würde zwar immer kommen und den Abwasch machen und das Wohnzimmer aufräumen, aber vermutlich nicht viel Zeit auf die Auswahl der Lieder für den Trauergottesdienst verwenden.

»Ich will Ihnen nicht unnötig zur Last fallen. Es tut mir sehr Leid wegen Morley. Er war ein netter Mensch, und ich mochte ihn gern.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe Morley gekannt, seit er und Dorothy sich damals während der Wirtschaftskrise auf dem College begegnet sind. Sicher, wir hatten ihn alle gern, aber er war ja ein solcher Sturkopf. All die Zigaretten und sein Übergewicht und der viele Alkohol. Man verkraftet das ja in einem gewissen Maß, solange man jung ist, aber in seinem Alter? O nein, Ma’am. Wir haben ihn immer wieder gewarnt, aber meinen Sie, er hätte auf uns gehört? Keine Spur. Sie hätten ihn am Sonntag sehen sollen. Wie er aussah – fürchterlich. Der Arzt meint, die Grippe hat den Herzanfall noch verschlimmert. Das Elektrolyten-Gleichgewicht oder so was.« Sie schüttelte wieder den Kopf und verstummte.

»Wie geht es Ihrer Schwester?«

»Nicht besonders, um ehrlich zu sein. Deswegen bin ich ja ursprünglich von Fresno heruntergekommen. Ich wollte ein paar Wochen aushelfen, um sie ein bisschen zu entlasten. Sie wissen ja wohl, dass sie seit Monaten krank ist.«

»Das wusste ich nicht«, sagte ich.

»Aber ja, sie ist völlig am Ende. Letzten Juni haben sie festgestellt, dass sie Magenkrebs hat. Sie hatte eine große Operation und kriegt seither immer wieder Chemotherapie. Sie ist nur noch Haut und Knochen und behält nichts mehr bei sich. Morley hat von nichts anderem mehr geredet, und jetzt hat es ihn zuerst erwischt.«

»Wird eine Autopsie gemacht?«

»Ich weiß nicht, ob sie da was veranlasst hat. Er war ja noch vor einer Woche beim Arzt. Dorothy wollte ja schon immer, dass er Diät halten sollte, und er hatte sich endlich darauf eingelassen. Unter den Umständen ist eine Autopsie nicht nötig, aber Sie wissen ja, wie die Ärzte sind. Sie brennen darauf, zu schnippeln und zu stochern. Sie tut mir so Leid.«

Ich gab ein paar mitfühlende Laute von mir.

Sie machte eine brüske Handbewegung. »Na ja, genug geredet. Ich nehme an, Sie sind gekommen, um sich sein Arbeitszimmer anzusehen. Am besten, Sie kommen rein, und ich zeige es Ihnen. Nehmen Sie ruhig mit, was Sie wollen, und wenn noch etwas ist, können Sie gern wieder kommen und es sich holen.«

»Danke. Ich kann Ihnen ja eine Liste dalassen, was ich mitgenommen habe.«

Sie wischte mein Anerbieten beiseite. »Nicht nötig. Wir kennen Mr. Kingman seit vielen Jahren.«

Ich trat in die Diele. Louise marschierte einen kurzen Flur hinunter, und ich folgte ihr. Keine Spur von Weihnachten. Vielleicht war es ja angesichts der Krankheit von Mrs. Shine ganz erleichternd, dass nach Morleys Tod in diesem Jahr keine weihnachtlichen Bemühungen anstanden. Es roch nach Hühnersuppe. »Hatte Morley noch ein Büro hier in Colgate?«

»Ja, aber seit es Dorothy so schlecht ging, hat er das meiste hier gemacht. Soweit ich weiß, ist er allerdings meistens morgens hingefahren, um seine Post zu holen. Wollten Sie sich dort auch umsehen?« Sie öffnete eine Tür zu einem Raum, der wohl ursprünglich ein Schlafzimmer gewesen, dann aber mittels eines Schreibtischs und einiger Aktenschränke in ein Büro umgewandelt worden war. Die Wände waren beige gestrichen, und der beige Florteppichboden war genauso schäbig, wie ich ihn mir vorgestellt hatte.

»Das habe ich mir überlegt. Wenn ich die Akten hier nicht finde, heißt das ja wahrscheinlich, dass er sie im Büro hatte. Könnte ich denn irgendwie einen Schlüssel bekommen?«

»Ich weiß nicht, wo er die Schlüssel hatte, aber ich werde Dorothy fragen. Du liebe Güte«, sagte sie, während sie sich umsah. »Kein Wunder, dass Morley hier niemanden reinlassen wollte.«

Der Raum war ziemlich kühl und angefüllt mit dem Chaos eines Menschen, der bei der Handhabung seiner Angelegenheiten nach keinem bekannten System verfahren war. Ob er wohl seinen Schreibtisch aufgeräumt hätte, wenn er gewusst hätte, dass er tot umfallen würde? Unwahrscheinlich, dachte ich. »Ich werde fotokopieren, was ich brauche, und die Akten so bald wie möglich wieder bringen. Ist morgen früh jemand hier?«

»Was ist denn morgen? Mittwoch? Soweit ich weiß, ja. Und wenn nicht, können Sie einfach ums Haus gehen und die Sachen auf dem Trockner hinten im Wirtschaftsraum abstellen. Wir lassen die Tür meistens auf, für die Zugehfrau und die Krankenschwester. Ich werde Ihnen den Schlüssel zur Morleys Büro besorgen. Dorothy weiß bestimmt, wo er ist.«

»Danke.«

Während ich darauf wartete, dass sie wiederkam, drehte ich eine Runde durch den Raum, um ein erstes Gefühl für Morleys Ablagemethoden zu bekommen. Er musste wohl zwischendurch Anläufe unternommen haben, sich zu organisieren, da er Ordner mit den Aufschriften »Vorgänge«, »Anhängig« und »Aktuell« angelegt hatte. Zwei trugen den Vermerk »Erledigen«, einer die Mahnung »Dringend«, und eine Faltmappe war mit »Wiedervorlage« gekennzeichnet. Der jeweilige Inhalt schien überholt, wild zusammengewürfelt, chaotisch wie das ganze Zimmer.

Louise kam wieder herein, einen Schlüsselbund in der Hand. »Am besten, Sie nehmen sie alle mit«, sagte sie. »Weiß der Himmel, welcher welcher ist.«

»Brauchen Sie sie denn nicht?«

»Ich kann mir nicht vorstellen, wozu. Wenn Sie so nett wären, sie morgen einfach hier zu hinterlegen. Ach ja, ich habe Ihnen eine große Einkaufstüte mitgebracht, für den Fall, dass Sie die Sachen zusammenpacken wollen.«

»Gibt es einen Trauergottesdienst?«

»Die Trauerfeier ist Freitagmorgen, im Wynington-Blake-Bestattungsinstitut hier in Colgate. Ich weiß nicht, ob Dorothy die Kraft hat. Wir warten so lange, weil Morleys Bruder aus Süd-Korea kommt. Er ist Projektingenieur bei den Pionieren in Camp Casey. Er kann nicht vor Donnerstagabend in Santa Teresa sein. Wir haben den Gottesdienst für Freitag, zehn Uhr, angesetzt. Ich weiß, Frank wird kaputt sein wegen der Zeitumstellung, aber länger konnten wir es wirklich nicht hinausschieben.«

»Ich würde gern kommen«, sagte ich.

»Das wäre sehr nett«, sagte sie. »Ich weiß, dass es ihn freuen würde. Sie finden ja selbst hinaus, wenn Sie fertig sind. Ich muss Dorothy jetzt ihre Spritze geben.«

Ich bedankte mich noch einmal, aber sie strebte bereits der nächsten Pflicht entgegen. Sie lächelte mich freundlich an und schloss die Tür hinter sich.

Die nächsten dreißig Minuten verbrachte ich damit, sämtliche Akten aufzustöbern, die nach menschlichem Ermessen irgendetwas zu dem Mord an Isabelle und dem anstehenden Zivilprozess enthalten konnten. Lonnie hätte einen Anfall gekriegt, wenn er gewusst hätte, wie schlampig Morley an die Sache herangegangen war. In gewisser Weise bemisst sich die Qualität der Ermittlungsarbeit an der Sorgfalt im Umgang mit dem Papierkram. Ohne penible Dokumentation riskiert man leicht, sich im Zeugenstand zum Narren zu machen. Nichts freut den gegnerischen Anwalt mehr als die Entdeckung, dass ein Ermittler nicht sauber Buch geführt hat.

Ich packte eins nach dem anderen in die Einkaufstasche – seinen Kalender, seinen Terminplaner. Ich durchsuchte seine Schubladen und seine Ein- und Ausgangskästen. Ich vergewisserte mich, dass nicht noch eine versprengte Akte irgendwo hinter den Möbeln steckte. Als ich einigermaßen überzeugt war, alle einschlägigen Unterlagen eingesammelt zu haben, steckte ich seinen Schlüsselbund in meine Schultertasche. Dann zog ich die Tür des Arbeitszimmers hinter mir zu. Vom anderen Ende des Flurs hörte ich Gemurmel. Louise und Dorothy unterhielten sich.

Auf dem Weg zur Vordertür kam ich am Eingang zum Wohnzimmer vorbei. Ich machte einen kleinen, unautorisierten Abstecher zu dem Ungetüm, das wohl Morleys Lehnsessel gewesen sein musste: der Bezug aus uraltem, rissigem Leder, die Polsterung, die die Umrisse seiner mächtigen Figur nachgeformt hatte. Da stand ein geleerter Aschenbecher, auf einem Tischchen noch die klebrigen Ringe seiner Whiskeygläser. Passionierte Schnüfflerin, die ich bin, untersuchte ich rasch die Schublade des Tischchens und die Sesselritzen. Nichts, natürlich, aber mir war wohler so.

Meine nächste Station war Morleys Büro, das in einer kleinen Nebenstraße im Geschäftsviertel von Colgate lag. Dieses ehemalige Wohnviertel beherbergte jetzt lauter kleine Firmen: Installationsbetriebe, Autozubehörfirmen, Arztpraxen und Maklerbüros. Die früheren Einfamilien-Holzbungalows waren alle nach dem gleichen Muster erbaut. Das Wohnzimmer diente jetzt als Geschäftsraum einer Versicherung oder dergleichen. Im Falle von Morleys Büroadresse war es ein Schönheitssalon, der ihm einen nach hinten gelegenen Raum mit Bad vermietet hatte. Ich ging um das Haus herum zum Seiteneingang. Zwei Stufen führten zu einem überdachten Betonabsatz. Die Eingangstür zum Büro hatte im oberen Teil eine große Milchglasscheibe, durch die ich nichts sehen konnte. Morleys Name stand rechts neben der Tür, auf einem schmalen Schildchen, das aussah, als hätte es seine Frau zur Firmengründung für ihn gravieren lassen. Ich probierte Schlüssel um Schlüssel, aber keiner passte. Ich drehte noch einmal am Türknauf. Die Bude war fester verrammelt als jedes Gefängnis. Ohne groß nachzudenken, ging ich nach hinten, um zu sehen, ob das Fenster offen war. Da fiel mir ein, dass ich mich ja an die Spielregeln halten sollte. So ein Mist, dachte ich. Ich war im Auftrag hier. Ich war berechtigt, die Akten einzusehen, aber nicht, das Schloss zu knacken. Das war doch irgendwie nicht richtig. Wozu dann die ganze langjährige Einbruchspraxis?

Ich ging wieder nach vorn und betrat, ganz gesetzestreue Bürgerin, den Schönheitssalon. Die Fenster waren mit künstlichen Schneewehen dekoriert, und zwei Weihnachtsengelchen spannten ein Spruchband mit der Aufschrift Fröhliche Weihnachten quer über die Scheibe. In der einen Ecke stand ein großer, geschmückter Weihnachtsbaum mit ein paar bunten Päckchen darunter. Es gab insgesamt vier Behandlungsplätze, aber nur drei waren besetzt. Auf dem einen bekam gerade eine Frau in den Vierzigern mit einem Plastikumhang eine Dauerwelle verpasst. Die Kosmetikerin hatte das feuchte Haar in Partien aufgeteilt und drehte es auf hühnerknochenfeine Lockenwickler. Die Dauerwellflüssigkeit verbreitete einen Geruch nach faulen Eiern. In der zweiten Nische saß eine Frau mit einer perforierten Bademütze auf dem Kopf, und die Schönheitsspezialistin zog mit einer Art Häkelnadel dünne Haarsträhnen durch die Gummihaut. Der Frau liefen Tränen über die Wangen, aber sie schwatzte munter mit der Kosmetikerin, als sei das Ganze ein alltägliches Ereignis. Zu meiner Rechten machte sich eine Maniküre an einer Kundin zu schaffen, die sich die Fingernägel kaugummirosa lackieren ließ.

In der rückwärtigen Wand sah ich eine Holztür, die vermutlich zu Morleys Büro führte. Im hinteren Teil des Raums war eine Frau damit beschäftigt, Handtücher zu falten und ordentlich zu stapeln. Als sie mich unschlüssig dastehen sah, kam sie nach vorn. Auf ihrem Namensschildchen stand »Betty«. Angesichts ihres Berufs erstaunte es mich, dass sie keine schickere Frisur trug. Sie war offensichtlich einem dieser (gewöhnlich männlichen) Sado-Coiffeure in die Hände gefallen, die sich ein Vergnügen daraus machen, die Frisuren von über fünfzigjährigen Frauen zu verschandeln. Der Schnitt, der ihr angetan worden war, bestand aus einem rasierten Hinterkopf und einer krausen Tolle vor der Stirn und ließ ihren Hals plump und ihr Gesicht ängstlich wirken. Sie schnupperte und rümpfte die Nase: »Puh! Wenn sie schlau genug sind, Menschen auf den Mond zu schießen, wieso schaffen sie’s dann nicht, eine Dauerwelle zu fabrizieren, die nicht stinkt?« Sie fischte einen Plastikumhang vom nächststehenden Stuhl und taxierte mich mit geübtem Auge. »Junge, Junge, da haben Sie Recht. Ihr Haar ist wirklich ein Notfall. Nehmen Sie Platz.«

Ich sah mich um, um zu ergründen, mit wem sie sprach. »Wer, ich?«

»Haben Sie nicht eben angerufen?«

»Nein, ich wollte ins Büro von Morley Shine, aber es ist abgeschlossen.«

»Ach, tut mir Leid, dass ich Ihnen das sagen muss, junge Frau, aber Morley ist vor ein paar Tagen gestorben.«

»Ich weiß. Verzeihung, ich hätte mich vorstellen sollen.« Ich nahm meinen Ausweis heraus und hielt ihn ihr hin.

Sie studierte ihn kurz, runzelte die Stirn und zeigte auf meinen Namen. »Wie spricht sich das aus?«

»Kinsey«, sagte ich.

»Nein, der Nachname. So wie Baloney?«

»Nein, nicht wie Baloney. Mill-hone.«

»Oh, Mill-hone«, sprach sie mir brav nach. »Ich dachte, es heißt Mill-hony, so wie das Frühstücksfleisch.« Sie sah wieder auf die Kopie meiner Detektiv-Lizenz. »Sind Sie vielleicht aus Los Angeles?«

»Nein, ich bin von hier.«

Sie sah auf mein Haar. »Ich dachte, das ist vielleicht eine von diesen neuen Mode-Frisuren, die sie dort am Melrose machen. Asymmetrisch, nennen sie das, Ellipsenform oder so ähnlich. Sieht meistens aus wie von einem Deckenventilator abgesäbelt.« Sie lachte über ihren Scherz und klopfte sich auf die Brust.

Ich beugte mich zurück, um mich im nächsten Spiegel sehen zu können. Ich sah wirklich etwas seltsam aus. Ich ließ mein Haar seit einigen Monaten wachsen, und es war auf der einen Seite eindeutig länger als auf der anderen. Außerdem wirkte es ein bisschen zerrupft, und auf dem Oberkopf stand ein Büschel ab. Unsicherheit überkam mich. »Meinen Sie, ich sollte es schneiden lassen?«

Das entlockte ihr ein schallendes Lachen. »Na, das können Sie laut sagen. Sieht aus, als ob ein Verrückter mit einer Nagelschere dran rumgeschnippelt hätte!«

Ich fand den Vergleich nicht ganz so lustig wie sie. »Vielleicht ein andermal«, sagte ich. Ich beschloss, zur Sache zu kommen, ehe sie mir noch einen Haarschnitt aufschwatzte, den ich hinterher bereuen würde. »Ich arbeite für einen Anwalt namens Lonnie Kingman.«

»Ach, klar kenne ich Lonnie. Seine Frau war in derselben Kirche wie ich. Was hat er damit zu tun?«

»Morley hat für ihn gearbeitet, und jetzt übernehme ich den Fall. Ich würde gern sein Büro sehen.«

»Armer Kerl«, sagte sie. »Die Frau so krank und alles. Er hat hier seit Monaten nur rumgehangen und nie etwas getan, soweit ich mitgekriegt habe.«

»Er hat wohl viel zu Hause gemacht«, sagte ich. »Ah, könnte ich wohl von hier aus in sein Büro kommen? Ich habe die Tür da hinten gesehen. Führt die zu seinen Räumen?«

»Morley hat sie immer benutzt, wenn hinten jemand stand, der Geld wollte.« Sie führte mich nach hinten, was ich als Kooperation deutete.

»Kam das oft vor?«, fragte ich. Es fiel mir sehr schwer, meine Nase nicht in anderer Leute Angelegenheiten zu stecken, wenn sie sich so förmlich aufdrängten.

»In letzter Zeit schon.«

»Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich reingehe und mir die Akten hole, die ich brauche?«

»Na ja, wieso nicht? Ist sowieso nichts da drin, was sich zu klauen lohnen würde. Gehen Sie ruhig rein, und bedienen Sie sich. Ist nur ein Verriegelungsknopf auf dieser Seite.«

»Danke.«

Ich trat durch die Verbindungstüre in den dahinter gelegenen Raum, das frühere Schlafzimmer. Es roch muffig. Der Teppichboden war schmutzig braun, vermutlich so gewählt, weil man darauf keinen Dreck sah. Dafür sah man den Staub und die Fusseln umso besser. Ich fand eine kleine Kammer, die Morley als Stauraum für alles Mögliche benutzt hatte, ein kleines Bad mit braunem PVC-Boden, ein Klo mit Holzbrille, ein Mini-Waschbecken und eine Duschkabine aus Fiberglas. Einen deprimierenden Moment lang dachte ich, ob ich wohl auch eines Tages so enden würde: als Kleinstadt-Detektivin in einem trübseligen Drei-mal-vier-Meter-Gelass, das nach Schwamm und Hausstaubmilben roch. Ich setzte mich auf seinen Drehstuhl und lauschte dem Quietschen, als ich mich zurücklehnte. Ich schnappte mir seinen Monats-Übersichts-Kalender. Ich durchsuchte alle seine Schubladen. Stifte, Kaugummipapierchen, ein Hefter ohne Heftklammern. Er hatte heimlich fettiges Zeug genascht. Im Papierkorb steckte ein zusammengeknickter, flacher, weißer Bäckereikarton. Auf der Pappe war ein großer Fettfleck, und oben drauf lagen die Überbleibsel von irgendetwas Gebackenem. Wahrscheinlich war er jeden Morgen in sein Büro gekommen, um Doughnuts und süße Teilchen zu verdrücken.

Ich stand auf und ging zu dem Aktenschrank an der gegenüberliegenden Wand. Unter »V« wie VOIGT/BARNEY fand ich mehrere mit Papieren voll gepfropfte Aktenordner. Ich nahm sie heraus und stapelte sie auf dem Tisch. Plötzlich wurde hinter mir die Tür aufgestoßen, und ich fuhr zusammen.

Es war Betty aus dem Schönheitssalon. »Finden Sie alles, was Sie brauchen?«

»Ja. Alles bestens. Offenbar hat er die meisten Akten zu Hause gehabt.«

Sie verzog das Gesicht, als sie den Moderduft roch. Sie ging zum Schreibtisch und nahm den Papierkorb an sich. »Das hier nehme ich besser mit. Der Müll wird zwar erst am Freitag geholt, aber ich will keine Ameisen hier drinnen haben. Morley hat sich seine Pizza immer hierher kommen lassen, wo ihn seine Frau nicht überwachen konnte. Ich weiß, angeblich war er auf Diät, aber er kam immer wieder mit Pappschalen vom Chinesen und mit McDonalds-Tüten an. Ich sage Ihnen, der Mann hat was weggeputzt. Stand mir ja nicht zu, was zu sagen, aber er hätte wirklich besser auf sich aufpassen sollen.«

»Da sind Sie heute schon die Zweite, die das sagt. Aber man kann die Leute wohl nicht daran hindern, zu leben, wie sie wollen.« Ich nahm die Akten und den Kalender an mich. »Danke fürs Reinlassen. Ich nehme an, dass nächste Woche jemand herkommt und ausräumt.«

»Sie suchen nicht zufällig ein Büro?«

»Nicht so eins«, sagte ich ohne Zögern. Später kam mir der Gedanke, dass ich sie womöglich beleidigt hatte, aber es rutschte mir einfach so heraus. Das letzte, was ich von ihr sah, war ihr Rücken, als sie Morleys Eingangstür öffnete, um den Papierkorb nach draußen zu stellen.

Ich ging zu meinem Auto zurück, deponierte den Aktenstapel auf dem Rücksitz und fuhr wieder zurück nach Santa Teresa, wo ich das Parkhaus neben der Stadtbücherei ansteuerte. Ich schnappte mir ein Notizbrett aus dem Fond, schloss den Wagen ab und marschierte in die Bibliothek. Drinnen ging ich nach unten in den Zeitschriftensaal, wo ich die Aufsicht nach den alten Jahrgängen des Santa Teresa Dispatch fragte. Insbesondere interessierten mich die Nachrichtenteile vom 25., 26. und 27. Dezember des Jahres, in dem Isabelle Barney ermordet worden war. Ich ging mit dem Mikrofilm zu einem der Lesegeräte, legte ihn ein und spulte geduldig zurück, bis ich zu dem betreffenden Zeitraum kam. Ich notierte mir die wenigen bedeutsamen Ereignisse jenes Wochenendes. Weihnachten war auf einen Sonntag gefallen. Isabelle war in der Nacht zum Montag gestorben. Vielleicht würde es etwas nützen, dem Gedächtnis der Leute mit ein paar nebensächlichen Fakten auf die Sprünge zu helfen. Ein Unwetter mit schweren Regenfällen hatte über Kalifornien getobt und zu einem Riesenstau auf der nach Norden führenden Spur des Freeway 101 unmittelbar südlich der Stadt geführt. Es hatte eine kleinere Anzahl von Straftaten gegeben, darunter einen tödlichen Unfall mit Fahrerflucht, bei dem ein alter Mann auf der oberen State Street von einem Lieferwagen angefahren worden war. Außerdem einen Raubüberfall auf einen Supermarkt, zwei Einbruchdiebstähle und ein vermutlich auf Brandstiftung zurückgehendes Feuer in den Morgenstunden des 26. Dezember, das ein Foto-Studio zerstört hatte. Weiter notierte ich eine Meldung über einen zweieinhalbjährigen Jungen, der leichte Verletzungen erlitt, als er, allein im Auto zurückgelassen, mit einem 44er Revolver hantierte. Beim Lesen kamen mir selbst Erinnerungsblitze. Ich hatte das Feuer völlig vergessen, obgleich ich auf der Rückfahrt von einer Observation daran vorbeigekommen war. Die lodernden Flammen hatten sich wie eine Fackel gegen den schwarzen Nachthimmel abgehoben. Der Regen hatte Dunstschwaden als surrealen Kontrapunkt dazugeliefert, und ich war erschrocken, als plötzlich James Taylors Version von »Fire and Rain« aus meinem Autoradio gekommen war. Das Erinnerungsfragment erlosch so plötzlich, als hätte es jemand ausgeknipst.

Ich sah den Rest des Films durch, fand aber wenig Aufsehenerregendes. Ich ging wieder an den Anfang zurück und kopierte alles bis auf die Annoncen und die Kleinanzeigen. Ich spulte den Film zurück und packte ihn in die Hülle. Ich zahlte im Vorbeigehen bei der Aufsicht für die Kopien und dachte an die Leute, die ich über ihr Tun und Lassen an jenen Tagen würde ausquetschen müssen. Woran würde ich mich noch erinnern, wenn mich jemand nach der Nacht fragte, in der Isabelle ermordet worden war? Ein Fragment war wieder aufgetaucht, aber ansonsten war da nur ein schwarzes Loch.

Dringender Verdacht

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