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Ich hockte noch bis Mitternacht an meinem Schreibtisch. Die gesammelten Unterlagen zum Fall Isabelle Barney quollen aus den beiden Pappkartons, die je über vierzig Pfund wogen. Ich hob mir fast einen Bruch, als ich die Dinger aus Lonnies Büro in meines schleppte. Es war sowieso nicht möglich, das ganze Material in einem Rutsch durchzuarbeiten, also, dachte ich, konnte ich mir ebenso gut Zeit lassen. Lonnie hatte nicht übertrieben, als er sagte, die Unterlagen seien chaotisch. Laut Verzeichnis hätte der erste Karton Kopien der Polizeiprotokolle, die Strafprozess-Protokolle, Lonnies Klageschrift an die Zivilkammer des Bezirksgerichts von Santa Teresa, sämtliche Einwendungen, Antwortschreiben und Gegeneinreden enthalten müssen. Ich konnte nicht einmal sicher sein, dass die Prozessprotokolle vollständig waren. Was ich an Aktenähnlichem sichtete, war ein solches Sammelsurium, dass es eine Strapaze war, überhaupt etwas zu finden.

Der zweite Karton barg angeblich Kopien sämtlicher Berichte von Morley Shine, eidesstattliche Versicherungen, Protokolle der zahllosen Zeugenaussagen sowie stützendes Material. Na, wunderbar. Ich fand die Namen der Zeugen, mit denen Morley gesprochen hatte, in den Aufstellungen zu den Rechnungen, die er Lonnie seit dem ersten Juni monatlich vorgelegt hatte, aber die dazugehörigen schriftlichen Berichte waren nicht vollständig vorhanden. Offensichtlich hatte er etwa die Hälfte der Zeugenladungen für den anstehenden Prozess zugestellt, aber die meisten dieser Leute hatten bereits im Strafprozess ausgesagt. Acht unterzeichnete Vorladungen waren samt Beiblatt mit den Zustellungsbestimmungen in einer Mappe abgeheftet. Nichts deutete darauf hin, dass er neue Zeugen bestellt hatte ... es sei denn, die gelben Zustellungsbelege wären anderswo abgelegt worden. Einer handschriftlichen Notiz konnte ich entnehmen, dass es sich bei dem neu aufgetauchten Informanten um einen gewissen Curtis McIntyre handelte, unter dessen angeblicher Telefonnummer kein Anschluss existierte und der unter der letzten bekannten Adresse nicht mehr aufzufinden war. Ich notierte mir als ersten Punkt, den Mann aufzuspüren, wie Lonnie es mir aufgetragen hatte:

Ich überflog seitenweise Vernehmungsprotokolle und machte mir gelegentlich eine Notiz. Wie bei einem Puzzle musste ich versuchen, mir das Bild auf dem Deckel einzuprägen und dann die Teilchen Stück für Stück zusammenzusetzen. Mir war klar, dass ich in manchem Morleys Vorgehen wiederholen würde, aber was er gemacht hatte, erschien mir doch ein bisschen grobschlächtig, und ich hielt es für besser, noch einmal von vorne anzufangen, zumindest in den kritischen Punkten. Wie ich mit den Lücken in den Unterlagen verfahren sollte, wusste ich nicht genau. Ich war mit den Kartons noch nicht durch, aber es war klar, dass ich alles auseinander nehmen und neu sortieren musste, so dass es dem Verzeichnis entsprach. Manche Spuren, die Morley verfolgt hatte, führten offensichtlich in eine Sackgasse und konnten sicherlich ausgemustert werden, sofern sich nichts Neues ergab. Die aktuellen Unterlagen musste er wohl in seinem Büro oder bei sich zu Hause aufbewahrt haben, wie ich es auch tat, solange ich dabei war, Notizen abzutippen und einzuheften.

Die nackten Fakten beliefen sich in etwa auf das, was Kenneth Voigt angedeutet hatte. Isabelle Barney war in der Nacht zum 26. Dezember irgendwann zwischen ein und zwei Uhr gestorben, als jemand aus kürzester Entfernung mit einer Handfeuerwaffe, Kaliber 38, durch den Spion in ihrer Haustür auf sie geschossen hatte. Der Ballistiker sprach von einem »fast aufgesetzten Schuss«, da das Loch in der Tür quasi als Verlängerung des Laufs fungiert und Isabelles Auge beinahe die Türfüllung berührt hatte. Der Schuss hatte das Holz am Rand des Lochs im rechten Winkel zu Isabelle hin herausgefetzt, wobei jedoch vermutlich auch Partikel rückwärts zum Täter geflogen waren. In Klammern merkte der Ballistiker trocken an, dass womöglich auch »Materie« in den Pistolenlauf selbst gedrungen sei und einen zweiten Schuss erschwert, wenn nicht unmöglich gemacht habe. Den Rest des Absatzes übersprang ich.

Das Mündungsfeuer hatte das Holz leicht versengt. Der Bericht vermerkte Pulverspuren um den Lochrand auf der Außenseite der Tür, im Inneren des Lochs sowie am Rand auf der Türinnenseite. Das Holz ringsherum war durch den Druckstoß zersplittert. Das Schrot und die Überreste einer blauen Plastik-Patronenkappe, die aus der Wunde entfernt worden waren, deuteten darauf hin, dass es sich um ein Glaser-Sicherheitsgeschoss gehandelt hatte, ein leichtes Hochgeschwindigkeits-Projektil, bestehend aus Schrotkügelchen in einer zähflüssigen Masse, umhüllt von einem Kupfermantel mit einer Plastikkappe. Wenn das Geschoss auf eine stark wasserhaltige Materie wie beispielsweise Fleisch trifft, löst sich die Plastikkappe, die Kupferhülse wird abgestreift, das Schrot verteilt sich rasch und überträgt die gesamte Wucht des Projektils auf das umgebende Fleisch. Da die einzelnen Kügelchen klein und von geringer Masse sind, geben sie ihre Energie rasch ah, so dass sie im Körper stecken bleiben, daher der Name Sicherheitsgeschoss. Für Umstehende besteht keine Gefährdung durch eine wieder austretende Kugel, und da sich das Sicherheitsprojektil auch beim Aufprall auf harte Materie (wie etwa Schädelknochen ...) auflöst, ist das Risiko von Querschlägern ebenfalls minimal. Kein Entkommen möglich, dachte ich, dieser Mörder hatte zu gut vorgebaut.

Dem Bericht des Pathologen zufolge war das Geschoss zusammen mit Metall- und Holzfragmenten durch das rechte Auge des Opfers eingedrungen. Der Autopsiebericht schilderte physiologisch-detailliert die Gewebezerstörungen, die es angerichtet hatte. Trotz meiner bruchstückhaften Anatomiekenntnisse verstand ich, dass der Tod augenblicklich und daher schmerzlos eingetreten war. Die Maschinerie des Lebens hatte den Dienst versagt, ehe das Nervensystem überhaupt Gelegenheit hatte, den Schmerz zu registrieren, den eine solche Verletzung bedeuten würde.

Es fällt schwer, sich das Vertrauen in seine Mitmenschen zu bewahren, wenn man mit den Spuren ihres Wirkens konfrontiert wird. Ich schaltete meinen Gefühlsapparat ab, während ich die Röntgenaufnahmen und Fotos des Autopsieberichts studierte. Für meine Arbeit ist es wichtig, dass ich, ohne mit der Wimper zu zucken, den Realitäten ins Gesicht sehen kann, aber diese Distanzierung ist nicht ungefährlich. Wenn man sich oft genug innerlich ausklinkt, riskiert man, irgendwann ganz den Zugang zu den eigenen Gefühlen zu verlieren. Es waren insgesamt zehn Farbfotos, albtraumhaft plastische Ansichten brutal zerfetzten Fleisches. Das heißt Tod, machte ich mir klar. So sieht Mord in natura aus. Ich habe Mörder getroffen – nette, sanfte, höfliche Menschen –, bei denen die Verdrängung so weit geht, dass man sich nicht vorstellen kann, dass sie eine solche Tat begangen haben sollen. Die Toten sind stumm, aber die Lebenden haben noch eine Stimme, um ihre Unschuld zu beteuern. Oft sind ihre Beteuerungen laut und inbrünstig und unwiderlegbar, da der einzige Mensch, der ihre Schuld bezeugen könnte, für immer zum Schweigen gebracht ist. Vor mir lag Isabelle Barneys letzte Aussage, in der Sprache ihrer tödlichen Wunde, ein erschütterndes Porträt absurder Zerstörung. Ich steckte die Fotos wieder in den Umschlag und machte mich an eine Kopie der Aufzeichnungen, die Dink Jordan Lonnie geschickt hatte.

Dinks richtiger Name war Dinsmore. Er selbst nannte sich Dennis, aber außer ihm tat das niemand. Er war in den Fünfzigern, grau und langweilig, ein Mensch, dem sowohl Energie als auch Humor und Eloquenz völlig abgingen. Als Staatsanwalt war er tüchtig, aber er hatte keinen Sinn fürs Theatralische. Seine Vortragsweise war so langsam und pedantisch, als läse er die gesamte Bibel durch ein Mikroskop. Ich hatte einmal miterlebt, wie er in einem spektakulären Mordprozess ein Schlussplädoyer hielt, bei dem zwei Schöffen einschliefen und zwei weitere vor Langeweile am Rand des Komas vor sich hin dämmerten.

David Barneys Anwalt war ein gewisser Herb Foss, den ich gar nicht kannte. Lonnie behauptete, er sei ein Armleuchter, aber man musste ihm immerhin zugute halten, dass er Barney rausgepaukt hatte.

Es gab keine Tatzeugen, und die Mordwaffe war nie gefunden worden, aber es lagen Beweise dafür vor, dass Barney acht Monate vor dem Mord einen 38er Revolver erworben hatte. Er behauptete, die Waffe sei am Labor-Day-Wochenende aus seinem Nachttisch verschwunden, als er und seine Frau zu Ehren eines befreundeten Ehepaars aus Los Angeles, Don und Julie Seeger, ein großes Abendessen gegeben hatten. Auf die Frage, warum er damals nicht Anzeige erstattet habe, erklärte er, er habe mit Isabelle darüber gesprochen, und es sei ihr peinlich gewesen, ihre Gäste in diese Diebstahlsgeschichte hineinzuziehen.

Beim Prozess hatte Isabelles Schwester ausgesagt, die beiden hätten schon seit Monaten von Trennung gesprochen. David Barney bestritt dagegen einen ernsthaften Bruch. Dennoch habe die Sache mit der gestohlenen Pistole zu einem Streit geführt, der schließlich darin gipfelte, dass Isabelle ihm sagte, er solle ausziehen. Was die Chancen der Ehe anbelangte, gingen die Meinungen erheblich auseinander. David Barney behauptete, die Beziehung sei stürmisch, aber stabil gewesen, und Isabelle und er hätten versucht, ihre Differenzen auszuräumen. Außenstehende Beobachter hatten offenbar eher den Eindruck gehabt, die Ehe sei tot, aber das mochte auch Wunschdenken ihrerseits gewesen sein.

Wie auch immer – die Situation spitzte sich rapide zu. David Barney zog am 15. September aus und tat anschließend, was in seiner Macht stand, um Isabelles Zuneigung wieder zu gewinnen. Er rief ständig bei ihr an. Er schickte ihr Blumen. Er schickte Geschenke. Als sie sich beschwerte, weil er sie mit Zudringlichkeiten verfolgte, statt ihr endlich Luft zum Atmen zu lassen, verdoppelte er seine Bemühungen. Er hinterließ allmorgendlich eine einzelne rote Rose auf der Kühlerhaube ihres Wagens. Er deponierte Schmuckstücke auf ihrer Türschwelle, schickte ihr sentimentale Karten. Je heftiger sie ihn zurückwies, desto verbissener traktierte er sie. Im Oktober und November rief er Tag und acht bei ihr an, um sofort einzuhängen, wenn sie abnahm. Als sie sich eine neue, nicht registrierte Nummer zulegte, gelang es ihm, diese herauszubekommen. Er rief weiter zu jeder Tages- und Nachtzeit an. Sie kaufte sich einen Anrufbeantworter. Er rief an und blockierte die Leitung, bis das Tonband abgelaufen war. Sie erzählte Freunden, sie fühle sich belagert.

Unterdes hatte er sich ein Haus im selben schicken Teil von Horton Ravine gemietet. Wenn sie aus dem Haus ging, folgte er ihr. Wenn sie zu Hause war, parkte er auf der anderen Straßenseite, um durch ein Fernglas genauestens zu beobachten, wer wann aus- und einging: Besucher, Handwerker, die Haushaltshilfe. Isabelle benachrichtigte die Polizei. Sie erstattete Anzeige. Schließlich erwirkte ihr Anwalt eine einstweilige Verfügung, die ihm jede telefonische und schriftliche Kontaktaufnahme sowie jeden Aufenthalt im Umkreis von zweihundert Metern um ihre Person, ihr Haus und ihr Auto untersagte. Seine Entschlossenheit schien tatsächlich gebrochen, aber inzwischen hatte die ständige Verfolgung Wirkung gezeigt: Isabelle hatte Angst.

Um die Weihnachtszeit war sie ein nervliches Wrack. Sie aß kaum, schlief schlecht, litt unter übersteigerter Nervosität, Panikattacken, Zittern. Sie war blass und abgemagert. Sie trank zu viel. Es regte sie auf, Menschen um sich zu haben, und es machte ihr Angst, allein zu sein. Sie schickte die vierjährige Shelby zu ihrem Vater. Ken Voigt hatte wieder geheiratet, obgleich einige Zeugen meinten, er habe die Scheidung von ihr nie wirklich verwunden. Isabelle nahm Beruhigungsmittel, um über den Tag zu kommen. Abends schluckte sie Schlaftabletten. Schließlich gelang es den Seegers, sie dazu zu bewegen, ihre Koffer zu packen und ein paar Tage mit ihnen nach San Francisco zu fahren. Als sie auf dem Weg nach Santa Teresa waren, um sie abzuholen, streikte die elektronische Einspritzpumpe ihres Wagens. Sie riefen an und hinterließen die Nachricht, dass sie sich verspäten würden.

Von Mitternacht bis ca. 0 Uhr 45 führte Isabelle, nervös und aufgeregt wegen der bevorstehenden Reise, ein längeres Telefongespräch mit einer alten College-Freundin, die jetzt in Seattle lebte. Kurz danach hörte sie ein Klopfen an der Haustür. Sie ging nach unten, in der Annahme, die Seegers seien eingetroffen. Sie war vollständig angezogen und rauchte eine Zigarette. Ihr Gepäck stand in der Diele parat. Sie knipste das Licht draußen vor der Tür an und spähte durch den Spion, ehe sie öffnete. Statt in die Gesichter ihrer Freunde sah sie in den Lauf der Achtunddreißiger, die ihr das Leben auslöschte. Die Seegers kamen um 2 Uhr 20 an und stellten fest, dass einiges nicht stimmte. Sie alarmierten Isabelles Schwester, die in einem kleinen Häuschen auf demselben Grundstück wohnte. Sie ließ sie mit ihrem Schlüssel durch den Hintereingang hinein. Die Alarmanlage rings um das Haus war eingeschaltet. Als sie Isabelle fanden, riefen die Seegers sofort die Polizei. Beim Eintreffen des Gerichtsmediziners war Isabelles Körpertemperatur auf 36,7° abgesunken. Nach der Moritz’schen Formel, unter Einbeziehung der Temperatur in der Diele, ihres Körpergewichts, ihrer Kleidung sowie der Temperatur und Leitfähigkeit des Marmorhodens, auf dem sie lag, setzte der Gerichtsmediziner den Todeszeitpunkt grob zwischen ein und zwei Uhr an.

Am nächsten Mittag wurde David Barney verhaftet und wegen Mordes unter Anklage gestellt. Er erklärte sich für unschuldig. Bereits zu diesem frühen Zeitpunkt war klar, dass das Belastungsmaterial gegen ihn sich im Großen und Ganzen auf Indizien beschränkte. Nun sind jedoch im Staat Kalifornien für die beiden entscheidenden Momente eines Tötungsdelikts – den Tod des Opfers und das Vorliegen einer »kriminellen Einwirkung« – sowohl direkte als auch indirekte Beweise zulässig. Mord ersten Grades kann auch festgestellt werden, wenn keine Leiche gefunden, kein direkter Todesnachweis erbracht werden kann und kein Geständnis vorliegt. David Barney hatte einen Ehevertrag unterschrieben, der seine finanzielle Abfindung im Scheidungsfall einschränkte. Zudem war er der Hauptbegünstigte der verschiedenen Lebensversicherungen, und als Isabelles Witwer erbte er den gemeinsamen Anteil der Firma, der auf zweikommasechs Millionen Dollar geschätzt wurde. David Barney hatte für die Tatzeit kein stichfestes Alibi. Dink Jordan hielt die Beweislage für mehr als ausreichend.

Aber nach drei Verhandlungswochen, einem sechsstündigen Schlussplädoyer und zwei Tagen Beratung erkannten die Geschworenen auf Freispruch. David Barney verließ den Gerichtssaal nicht nur als freier, sondern auch als reicher Mann. Später bekannten einige der Geschworenen, sie hielten ihn mit großer Wahrscheinlichkeit für den Täter, aber es sei der Anklage eben nicht gelungen, jeden vernünftigen Zweifel auszuräumen. Lonnie Kingmans Absicht war es, durch die Erbschaftsanfechtung die Sache noch einmal vor dem Zivilgericht aufzurollen, wo eine überwiegende Wahrscheinlichkeit der Schuld ausreicht und nicht nach der In-dubio-Formel des Strafrechts verfahren wird. Soweit ich die Sache durchschaute, würde der Kläger, Kenneth Voigt, trotzdem beweisen müssen, dass David Barney Isabelle getötet hatte, und zwar vorsätzlich. Doch die Beschränkung des Schuldkriteriums auf die »überwiegende Wahrscheinlichkeit« würde in diesem Fall die Beweisführung erleichtern. Hier stand nicht Barneys Freiheit auf dem Spiel, sondern der materielle Nutzen, den er aus dem Verbrechen gezogen hatte. Falls er Isabelle wegen ihres Geldes umgebracht hatte, würde ihm zumindest sein Profit abgeknöpft werden.

Ich merkte, dass ich schon zum dritten Mal hintereinander gähnte. Meine Hände klebten, und ich war an dem Punkt, wo meine Gedanken beim Lesen abzuschweifen begannen. Morley Shines Vorgehen war ziemlich schlampig gewesen, und ich wurde richtig ärgerlich auf den armen Mann. Es gibt nichts Ärgerlicheres als das Chaos anderer Leute. Ich ließ die Akten liegen, wie sie lagen, verließ mein Büro und schloss die Tür ab. Ich trat hinaus auf den Korridor des dritten Stocks und schloss hinter mir ab.

Mein Wagen war der einzige auf dem Parkplatz. Ich bog nach rechts ab und fuhr in Richtung Stadt, dann an der State Street links ab und heimwärts, durch das menschenleere, gut beleuchtete Zentrum von Santa Teresa. Die meisten Häuser sind hier nur zweistöckig, spanischer Baustil der flachen Sorte, wegen der häufigen Erdbeben. Allein im Sommer 1968 gab es hier eine Serie von sechsundsechzig Beben zwischen den Stärken 1,5 und 5,2 auf der Richter-Skala, wobei letzteres immerhin ausreicht, um die Hälfte des Wassers aus dem Swimming-Pool schwappen zu lassen.

Ich fühlte eine kurze Woge des Bedauerns in mir aufsteigen, als ich an meinem alten Büro in der State Street Nr. 903 vorbeifuhr. Inzwischen war dort sicher schon jemand anderes eingezogen. Ich würde mit Vera, der Leiterin der Schadensabteilung bei der CF, reden müssen, um in Erfahrung zu bringen, was sich in den letzten Wochen getan hatte. Ich hatte sie nicht mehr gesehen, seit sie und Neil am Halloween-Abend geheiratet hatten. Als Nebeneffekt meines Rausschmisses verlor ich den Kontakt zu einer Menge Leuten, die ich kannte – Darcy Pascoe, Mary Bellflower. Die Vorstellung, Weihnachten in meiner neuen Umgebung hinter mich bringen zu sollen, erschien mir irgendwie seltsam.

An der Kreuzung Anaconda Boulevard und Highway 101 hätte ich um ein Haar die rote Ampel überfahren. Ich trat auf die Bremse, stellte den Motor ab und wartete die vier Minuten, bis die Ampel wieder grün wurde. Der Highway war völlig tot, nur leere Asphaltspuren nach beiden Seiten. Endlich sprang die Ampel um, und ich schoss über die Kreuzung und bog rechts ab, in den Cabana Boulevard, der parallel zum Strand verläuft, dann noch einmal rechts in den Bay Boulevard und schließlich links in meine schmale, baumgesäumte Straße, die aus Einfamilienhäusern und einigen wenigen Mehrparteien-Gebäuden besteht. Ich fand einen Parkplatz zwei Häuser von meiner Wohnung entfernt. Ich schloss den Wagen ab und musterte aus Gewohnheit die dunkel daliegende Nachbarschaft. Ich bin um diese Zeit gern alleine draußen, auch wenn ich mich bemühe, wachsam zu sein und angemessene Vorsicht walten zu lassen. Ich öffnete die Gartenpforte, wobei ich sie anhob, um das Quietschen zu vermeiden.

Meine Wohnung war ursprünglich eine Einzelgarage mit einem überdachten Gang zum Haupthaus, der später dann in einen Wintergarten umgewandelt wurde. Der gesamte Anbau war nach einer Bombenexplosion neu errichtet worden, und so besaß ich jetzt einen Extra-Schlafraum und ein zweites Bad unterm Dach. Meine Außenbeleuchtung brannte, eine Aufmerksamkeit meines Vermieters Heury Pitts, der nie zu Bett geht, ohne aus seinem Fenster zu spähen, um zu sehen, ob ich auch heil wieder zu Hause angelangt bin.

Ich schloss hinter mir ab und absolvierte meine abendliche Routine und verriegelte sämtliche Türen und Fenster. Ich stellte mir zur Gesellschaft meinen kleinen Schwarzweiß-Fernseher an, während ich aufräumte. Da ich normalerweise tagsüber weg bin, mache ich die Hausarbeit oft abends. Es kommt schon mal vor, dass ich um Mitternacht Staub sauge oder um zwei Uhr morgens einkaufen gehe. Da ich allein lebe, ist es einfach, die Wohnung einigermaßen in Ordnung zu halten, aber alle drei, vier Monate veranstalte ich einen systematischen Rundum-Putz, wobei ich in Etappen vorgehe. In dieser Nacht lag ich, obgleich ich sogar noch die Küche schrubbte, um eins im Bett.

Am Dienstagmorgen wachte ich um sechs auf. Ich zog meinen Jogging-Anzug an und schnürte meine Nikes mit einer Spezial-Doppelschleife zu. Ich putzte mir die Zähne, klatschte mir ein wenig Wasser ins Gesicht und fuhr mit nassen Fingern durch mein platt gedrücktes Haar. Mein Joggen war ziemlich mechanisch, mehr Form als Inhalt, aber danach hatte ich wenigstens ein paar Energien mobilisiert. Ich nutzte die Zeit, um mich auf den Tag einzustimmen, eine Art Bewegungs-Meditation, die ebenso dem Sammeln meiner Gedanken wie der Koordination meiner Gliedmaßen diente. Mir war dunkel bewusst, dass ich in letzter Zeit nicht sonderlich gut auf mich aufgepasst hatte ... eine Kombination aus Stress, unregelmäßigem Schlaf und zu viel Junk-Fond. Höchste Zeit, mich wieder auf Vordermann zu bringen.

Ich duschte und zog mich an, aß ein Schüsselchen Müsli mit Magermilch und fuhr wieder in mein Büro.

Als ich an Ida Ruths Schreibtisch vorbeikam, blieb ich stehen, um ein bisschen mit ihr über ihr Wochenende zu plaudern, das für gewöhnlich aus Wandertouren, Geländeritten und haarsträubenden Kletterpartien bestand. Ida Ruth ist fünfunddreißig und unverheiratet, eine robuste Vegetarierin mit windzerzaustem Blondhaar und sonnengebleichten Brauen, breiten Wangenknochen und einem durch kein Make-up gedämpften rötlich-frischen Teint. Obgleich immer gut angezogen, wirkt sie doch, als trüge sie am liebsten Flanellhemden, Hosen und Wanderstiefel. »Wenn Sie Lonnie sprechen wollen, flitzen Sie besser gleich rein. Er hat in zehn Minuten einen Gerichtstermin.«

»Danke. Mach ich.«

Ich fand ihn an seinem Schreibtisch. Er hatte das Jackett abgelegt und die Hemdsärmel aufgerollt. Sein Schlips saß schief, und sein Zottelhaar stand von seinem Kopf ab wie überfälliger Weizen. Durch die Fenster hinter ihm sah ich blauen Himmel und zartlilagraue Berge im Hintergrund. Es war ein herrlicher Tag. Ein dichtes Geranke von leuchtend magentaroten Bougainvillea überzog eine weiße Backsteinmauer zwei Häuser weiter.

»Wie steht’s?«, fragte er.

»Ganz gut. Ich bin noch nicht ganz durch mit den Kartons, aber es scheint mir alles ziemlich chaotisch.«

»Na ja, Ablage war nie Morleys starke Seite.«

»Frauen können so was von Natur aus viel besser«, sagte ich trocken.

Lonnie lächelte, während er sich etwas notierte, wahrscheinlich zu dem Fall, mit dem er gerade beschäftigt war. »Wir sollten mal übers Geld reden. Wie ist Ihr Stundensatz?«

»Was hat Morley berechnet?«

»Die üblichen fünfzig«, sagte er locker.

Er hatte ein Schubfach aufgezogen und kramte in seinen Akten, so dass er mein Gesicht nicht sehen konnte. Morley hatte fünfzig gekriegt? Unglaublich. Entweder waren Männer unverschämt oder Frauen doof. Was wohl?, dachte ich. Ich hatte immer dreißig Dollar pro Stunde plus Kilometergeld genommen. Aber ich fasste mich rasch. »Legen Sie fünf drauf, und ich berechne keine Fahrtkosten.«

»In Ordnung«, sagte er.

»Irgendwelche Instruktionen?«

»Sie haben freie Hand. Carte Blanche.«

»Im Ernst?«

»Absolut. Sie können es angehen, wie Sie wollen. Solange Sie keine krummen Sachen machen«, setzte er schnell hinzu. »Nichts wäre Barneys Anwalt lieber, als uns nachzuweisen, dass wir irgendwelchen Dreck am Stecken haben. Also keine unfeinen Tricks.«

»Das macht ja gar keinen Spaß.«

»Aber es garantiert, dass Sie vor Gericht aussagen können, ohne aus dem Saal zu fliegen, und darauf kommt es an.«

Er sah auf seine Uhr. »Ich muss los.« Er schnappte sich sein Jackett vom Bügel und schlüpfte hinein. Er rückte seinen Schlips gerade, schloss seine Aktenmappe und war schon halb aus der Tür. »Lonnie, Moment noch. Womit soll ich anfangen?«

Er lächelte. »Treiben Sie einen Zeugen auf, der den Kerl am Tatort gesehen hat.«

»Oh, na klar«, sagte ich in den leeren Raum.

Ich setzte mich hin und las weitere fünf Pfund ungeordneter Informationen. Vielleicht konnte ich ja Ida Ruth bezirzen, mir beim Sortieren der Unterlagen zu helfen. Verglichen mit dem zweiten war der erste Karton geradezu musterhaft. Meine erste Aufgabe war es wohl, herauszufinden, was Morley Shine an Unterlagen zu Hause aufbewahrt hatte. Ehe ich losfuhr, erledigte ich noch ein paar organisatorische Telefonate. Ich hatte ein ziemlich klares Gefühl dafür, mit wem ich reden wollte, also galt es vor allem, ein paar Termine zu vereinbaren. Ich erreichte Isabelles Schwester Simone, die sich bereit erklärte, mich um die Mittagszeit bei sich zu Hause zu empfangen. Außerdem sprach ich kurz mit einer gewissen Yolanda Weidmann, der Frau von Isabelles früherem Chef. Mr. Weidmann sei da, habe aber zu tun und werde noch bis drei beschäftigt sein. Deshalb schlug sie vor, ich solle doch am späteren Nachmittag vorbeikommen. Die dritte Person, bei der ich anrief, war Isabelles langjährige beste Freundin, Rhe Parsons. Sie war nicht zu Hause, aber ich hinterließ auf ihrem Anrufbeantworter meinen Namen und meine Nummer und die Ankündigung, dass ich es wieder versuchen würde.

Dringender Verdacht

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