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Sie ging auf die andere Seite in ihre Mini-Küche und begann, Lebensmittel aus dem Mini-Kühlschrank zu nehmen.

»Kann ich was helfen?«

»Nein, danke. Für zwei Leute ist gar kein Platz zum Hantieren. Die Männer sind immer froh darüber, es sei denn, Kochen ist ihre große Leidenschaft. In dem Fall übernehmen sie das Regiment, und ich setze mich dort drüben hin, wo Sie jetzt sitzen.«

Ich drehte mich auf meinem Hocker um und musterte den Raum in meinem Rücken. »Tolles Haus«, bemerkte ich.

Sie errötete geschmeichelt. »Gefällt’s Ihnen? Isabelles Entwurf ... der Start ihrer Karriere.«

»Sie war Architektin? Das wusste ich gar nicht.«

»Na ja, eigentlich nicht, aber sie hat sich als Architektin betätigt. Sehen Sie sich ruhig um. Es sind nur fünfunddreißig Quadratmeter.«

»Mehr nicht? Sieht größer aus.« Ich trat hinaus auf die Eingangsveranda, um das Verhältnis von Grundriss und Innenraum zu studieren. Da die Fenster weit offen standen, konnte ich mich bequem weiter mit Simone unterhalten, während ich um das Häuschen herumging. Es wirkte wie eine Miniatur, ein kleines Spielhaus für Erwachsene. Es schien für allen Komfort gesorgt, ohne überflüssigen Luxus oder Platzverschwendung. Sogar ein kleiner Kaminabzug war da. Ich steckte den Kopf zum Fenster herein und sah den Mini-Kamin. Viele Flächen, darunter die Kaminplatte, die Fensterbänke und die Arbeitsplatten in der Küche, waren mit handgemalten, blauweißen Blumenkacheln gefliest. »Wirklich wunderschön.«

Simone lächelte mich an.

Ich zog den Kopf wieder aus dem Fenster und umrundete den Garten. Jedes Sonnenfleckchen war mit Kräutern bepflanzt. Der Duft von Rosmarin und Thymian wehte zu mir herüber. Das Haus stand auf einer halbmondförmigen, grasbewachsenen Terrasse. Darunter fiel der Hang steil ab, zu einem Dickicht aus immergrüner Eiche und Chaparral. Der Blick ging bis zu den Bergen jenseits von Santa Teresa. Ich trat wieder durch die einzige Tür, die in die Küche führte. »Sie müssen mal zu mir kommen. Meine Wohnung ist von der Art her sehr ähnlich. Ein gemütliches kleines Versteck.«

Ich setzte meine Besichtigungstour fort, während sie ein paar Scheiben von einem Laib Weißbrot abschnitt. Mit wenigen Schritten durchmaß ich das ganze Haus. Die Möbel waren alt: ein roher Kiefernholztisch, zwei Stühle mit geflochtener Sitzfläche, ein Eckschrank mit welligen, blaugetönten Glasscheiben, ein Messingbett mit einer Patchwork-Tagesdecke in verschiedenen Weißtönen. Das kleine Bad war der einzige abgeschlossene Raum. Der Rest bestand im Grunde genommen aus einem großen Zimmer mit verschiedenen Funktionsbereichen. Alles war offen, luftig, ordentlich, hell, jedes Detail war perfekt, wie eine Illustration in einem schicken Wohn-Magazin. Aus den vorderen und seitlichen Fenstern hatte man einen schönen Blick, während hinter dem Haus der Hang steil zum Haupthaus anstieg.

Ich zog mir einen Hocker an die Arbeitsfläche heran und sah zu, wie sie Sandwiches machte. Sie stellte Teller, Bestecke und blauweiße Stoffservietten vor mich hin. Ich deckte den Tisch. »Wie hat sie das hingekriegt, wenn sie keine Architektin war?«

»Sie hat eine Art unbezahlte Lehre bei einem hiesigen Architekten gemacht. Fragen Sie mich nicht, wie sie das geschafft hat oder warum er sich darauf einließ. Sie ist einfach hingegangen, wann es ihr passte, und hat gemacht, wozu sie Lust hatte.«

»Kein schlechter Handel«, sagte ich.

»Dort hat sie auch David kennen gelernt. Er hat in derselben Firma gearbeitet. Ihr Chef war Peter Weidmann. Haben Sie schon mit ihm gesprochen?«

»Nein, aber ich will gleich nachher zu ihm.«

»Oh, das ist gut. Er und Yolanda wohnen ganz in der Nähe. Nur eine Meile von hier. Er ist sehr nett, mittlerweile im Ruhestand. Er hat Isabelle eine Menge beigebracht. Sie war künstlerisch veranlagt, aber es fehlte ihr sehr an Disziplin. Sie war begabt, aber eine schreckliche Dilettantin – voller großartiger Ideen, aber extrem unzuverlässig, wenn es an die Umsetzung ging. Sie verlor immer sehr schnell das Interesse – bis sie hiermit anfing.«

»Was heißt ›hiermit‹?«

»Sie entwarf Mini-Häuschen. Meines war das erste. Irgendwie hat das Santa Teresa Magazine davon erfahren und eine Foto-Reportage gebracht. Die Resonanz war unglaublich. Alle wollten eins.«

»Für Gäste?«

»Oder für halbwüchsige Kinder, angeheiratete Verwandte, als Atelier oder als Refugium. Das Tolle ist ja, dass man sich so ein Häuschen einfach in eine Gartenecke stellen kann ... wenn man die Behördenfritzen rumkriegt. Sie und David sind aus Peters Firma ausgestiegen, als die Sache anlief. Sie haben sich selbstständig gemacht und über Nacht ein Vermögen verdient. Alle Zeitschriften schrieben über sie, von den Schickeria-Magazinen bis zu den Massenblättern. Architectural Digest, House & Garden, Parade. Außerdem hat sie lauter Preise gewonnen. Es war wirklich verblüffend.«

»Und David? Welche Rolle spielte er dabei?«

»Ach, sie brauchte ihn. Sie war viel zu unpraktisch, was das Geschäftliche anging. Sie hatte die Ideen, machte die ersten Grobskizzen und die Rohentwürfe. David war ausgebildeter Architekt. Also war er für das Konkrete zuständig, die Zeichnungen, Pläne, Modelle, diese Dinge. Er machte auch die Werbung, die ganze Vermarktung ... die Knochenarbeit letztlich. Hat Ihnen das noch niemand erzählt?«

»Kein Wort«, sagte ich. »Ich habe Ken Voigt gestern Abend zum ersten Mal getroffen, und er hat nur kurz über Isabelle gesprochen. Wie ich schon am Telefon sagte: Ich habe die Akten gelesen, aber die Einzelheiten kenne ich nicht. Wie stand Barney dazu, dass sie den ganzen Ruhm einheimste?«

»Wahrscheinlich hat es ihn geärgert, aber was sollte er machen? Er hat es nicht sonderlich weit gebracht. Und Peter Weidmann auch nicht.«

Simone kam jetzt mit einem Krug Eistee und einer Platte mit Sandwiches an den Tisch. Wir setzten uns zum Essen. Das grobe Brot war dünn geschnitten und gebuttert. Zwischen den Scheiben hingen grüne Blätter heraus wie Zierpflanzen über eine Gartenmauer.

»Brunnenkresse«, sagte sie, als sie meinen Blick sah.

»Oh, prima«, murmelte ich, aber es schmeckte tatsächlich gut – scharf und frisch. »Haben Sie vielleicht ein Foto von ihr?«

»Ja, natürlich. Augenblick, ich hole eins.«

»Bleiben Sie sitzen, das eilt nicht«, sagte ich mit vollem Mund, aber sie war schon auf dem Weg zu ihrem Nachttischchen. Gleich darauf kam sie mit einem Foto in einem silbernen Rahmen zurück.

Sie reichte mir das Bild und setzte sich wieder. »Wir waren Zwillingsschwestern. Zweieiig, nicht eineiig. Sie war neunundzwanzig, als es aufgenommen wurde.«

Ich studierte das Foto. Es war das erste, was ich von Isabelle Barney sah. Sie war hübscher als Simone. Sie hatte ein sanft gerundetes Gesicht und glänzendes, dunkles Haar, das ihr elegant auf die Schultern fiel und ihre breiten Wangenknochen in seidigen Strähnen umrahmte. Ihre Augen waren hellbraun. Sie hatte eine kräftige, kurze Nase und einen breiten Mund und war, wenn überhaupt, nur ganz dezent geschminkt. Sie trug offenbar eine Art T-Shirt mit weitem, rundem Ausschnitt, dunkelbraun wie ihr Haar. Ich nickte unwillkürlich. »Man sieht die Ähnlichkeit. Könnten Sie mir ein bisschen von Ihrer Familie erzählen?«

Ich gab ihr das Bild zurück, und sie stellte es am Tischende auf. Isabelle sah uns ernst zu, während wir weiterredeten. »Unsere Eltern waren beide Künstler und ein bisschen exzentrisch. Mutter hatte ererbtes Vermögen, so dass sie und Daddy nie viel tun mussten. Einmal sind sie im Sommer für einen Sechs-Wochen-Trip nach Europa gefahren und dann schließlich zehn Jahre dort geblieben.«

»Was haben sie dort gemacht?«

Simone hiss von ihrem Sandwich ab und kaute, ehe sie antwortete. »Sich herumgetrieben. Ich weiß es nicht. Sie sind gereist und haben gemalt und gelebt wie Bohemiens. Ich nehme an, sie haben am Rand der besseren Gesellschaft herumgelungert. Als freiwillige Exilanten, wie Hemingway. Bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges sind sie wieder in die Staaten zurückgekehrt und irgendwie in Santa Teresa gelandet. Ich glaube, sie hatten etwas darüber gelesen und gefunden, dass es nett klang. Mittlerweile wurde auch ihr Geld knapp, und Daddy befand, dass er sich besser um die Anlagen kümmern musste. Er entpuppte sich als Finanzgenie. Als wir geboren wurden, schwammen sie schon wieder im Geld.«

»Wer war denn die Ältere, Sie oder Isabelle?«

Sie nahm einen Schluck von ihrem Eistee und tupfte sich den Mund mit der Serviette ab. »Ich war dreißig Minuten älter. Mutter war vierundvierzig, als wir zur Welt kamen, und niemand ahnte, dass sie Zwillinge bekommen würde. Sie war nie vorher schwanger gewesen und dachte, es seien die Wechseljahre, als ihre Periode ausblieb. Sie war bei den Christian Scientists und weigerte sich bis zum letzten Moment, einen Arzt aufzusuchen. Sie lag fünfzehn Stunden in den Wehen, bis sie Daddy endlich erlaubte, sie ins nächste Krankenhaus zu bringen. Sie war kaum dort, als ich kam. Sie wollte schon wieder vom Tisch hüpfen und nach Hause fahren. Sie dachte, es sei vorbei, und der Arzt dachte es auch. Er erwartete nur noch die Nachgeburt, als Isabelle dann auch noch kam.«

»Leben Ihre Eltern noch?«

Simone schüttelte den Kopf. »Sie sind beide im Abstand von einem Monat gestorben. Wir waren damals neunzehn. Im gleichen Jahr hat Isabelle zum ersten Mal geheiratet.«

»Sind Sie verheiratet?«

»Nein, danke. Ihre Ehen mitzuerleben war für mich fast so, wie selbst verheiratet zu sein.«

»Voigt war ihr zweiter Mann?«

»Richtig. Der erste starb bei einem Bootsunfall.«

»Wie war das, Zwillingsschwestern zu sein? Waren Sie sich ähnlich?«

»Hm-mmm, überhaupt nicht. Du liebe Güte, verschiedener hätten wir gar nicht sein können. Isabelle hat das Talent geerbt und alle damit verbundenen Untugenden. Künstlerisch war sie enorm begabt, aber es fiel ihr alles so leicht, dass sie es überhaupt nicht ernst nahm. Sobald sie etwas konnte, verlor sie das Interesse. Zeichnen, malen. Sie hat von allem ein bisschen gemacht. Schmuck, Plastiken. Sie hat Textilien entworfen und tolle Sachen gemacht, aber dann packte sie wieder die Unruhe. Sie war nie zufrieden. Immer wollte sie etwas anderes machen. In gewisser Weise haben die Mini-Häuser sie gerettet, obwohl sie vielleicht auch das gelangweilt hätte, wenn sie am Leben geblieben wäre.«

»Nach dem, was Ken mir sagte, hatte sie Probleme mit ihrem Selbstwertgefühl.«

»Unter anderem. Sie hatte alle möglichen Suchtneigungen. Sie rauchte. Sie trank. Sie nahm bei jeder Gelegenheit irgendwelche Pillen. Sie rauchte ihre zwei, drei Joints am Tag. Eine Zeit lang hat sie Trips eingeworfen.«

»Wie hat sie da noch gearbeitet? Mich würde das fix und fertig machen.«

»Es hat ihr nichts ausgemacht. Außerdem konnte sie sich das ganze Zeug locker leisten, was in gewisser Weise ein Unglück war. Sie brauchte nie wirklich zu arbeiten, weil wir Geld geerbt hatten. Zum Glück hat sie nie mit Kokain angefangen. Sonst hätte sie jeden Cent durchgebracht.«

»War es für Sie nicht sehr schwer, dass sie so unbeherrscht war?«

»Das war für uns alle schwer. Ich war immer die Solide – mütterlich, verantwortungsbewusst. Zumal wir ja noch sehr jung waren, als unsere Eltern starben. Isabelle heiratete, aber ich fühlte mich immer noch als ihre Mutter. Ich habe sie grenzenlos bewundert, aber sie war schwierig. Sie konnte keine dauerhaften Beziehungen eingehen. Sie hatte im täglichen Leben wenig zu geben. Sie war sehr egozentrisch. Immer nur ›ich, ich, ich‹.«

»Narzisstisch«, steuerte ich bei.

»Ja, aber ich will auch nicht, dass ein falscher Eindruck entsteht. Sie hatte auch wundervolle Eigenschaften. Sie war warmherzig und witzig und enorm intelligent. Sie war lustig. Sie genoss ihr Leben. Sie wusste sich zu amüsieren. In dieser Hinsicht habe ich eine Menge von ihr gelernt.«

»Erzählen Sie mir von David Barney.«

»David. Das ist ein harter Brocken«, sagte sie. Dann hielt sie einen Moment inne. »Ich will versuchen, fair zu sein. Ich würde sagen, er ist ein gut aussehender Mann. Charmant. Oberflächlich. Er und seine Frau sind aus Los Angeles hierher gezogen, als er in Peters Firma anfing.«

»Er war verheiratet?«

»Nicht lange.«

»Was ist aus seiner Ex-Frau geworden?«

»Laura? Die lebt immer noch irgendwo hier. Nachdem David sie sitzen gelassen hatte, musste sie arbeiten, wie alle anderen Ex-Gattinnen in dieser Stadt. Du lieber Gott, die Frauen werden doch heutzutage im Scheidungsfall übers Ohr gehauen. Für jeden Mann, der behauptet, dass er von einer Frau »ausgenommen« wurde, zeige ich ihnen auf der Stelle sechs, acht, zehn Frauen, die finanziell ›geleimt‹ wurden. Laura jedenfalls mit Sicherheit.«

»Erzählen Sie weiter.«

»Tja, also, David war ein Snob. Er hatte genauso wenig Lust, sich seine Brötchen zu verdienen, wie Isabelle. Nur, dass ihr die Arbeit als solche Spaß machte, und das war ja auch kein Wunder. Ich meine, sie war plötzlich berühmt, und sie genoss es in vollen Zügen. Er drängte sie, die Firma zu verkaufen, solange sie lief, bevor der Zenit überschritten wäre. Er hatte so einen blödsinnigen Plan im Kopf, irgendetwas mit Fertighäusern und Franchise-Firmen. Ich weiß nicht genau, was es war, aber sie fand es grässlich. Inzwischen war sie sowieso enttäuscht von dieser Ehe. Sie fühlte sich unterdrückt und erstickt. Sie wollte da raus.«

»Im Scheidungsfall hätte die Firma doch wohl als gemeinsames Eigentum gegolten?«

»Sicher. Sie wäre aufgeteilt worden, und er hätte dumm dagestanden. Wozu brauchte sie ihn denn? Sie hätte leicht ein halbes Dutzend Männer gefunden, die ihn hätten ersetzen können, aber er umgekehrt nicht. Ohne sie war er aufgeschmissen. Aber wenn sie starb, würde die Firma ganz an ihn fallen ... so gut wie ganz. Isabelles Teil sollte zwar Shelby erben, aber von einer Vierjährigen hatte David ja nichts zu befürchten. An dem Punkt hatte Isabelle bereits so viele Rohentwürfe gezeichnet, dass er sich ein bequemes Leben machen konnte. Außerdem hat er wohl auf ihre Lebensversicherung spekuliert. Auch davon geht natürlich ein Teil an Shelby, aber er streicht immer noch ein hübsches Sümmchen ein.«

»Wenn er gewinnt«, sagte ich. »Wo steht das Haus, das er bei ihrer Trennung gemietet hat?«

Sie wedelte mit der Hand in Richtung Meer. »Vorn an der Ausfahrt links, dann eine halbe Meile weiter. Ein großes, weißes Monstrum, eins dieser modernen Dinger aus Glas und Beton. Es ist so hässlich – Sie können es gar nicht verfehlen.«

»Kann man hinlaufen?«

»Sogar hinkriechen, wenn es sein muss.«

»Waren Sie hier in Ihrem Häuschen, als sie umgebracht wurde?«

»Ja, das schon, aber ich habe keinen Schuss gehört. Sie hatte mich vorher noch angerufen, um mich vorzuwarnen, dass die Seegers später kommen würden. Sie hatten ja Bescheid gesagt, dass sie eine Panne hatten, und sie wollte nicht, dass ich mir Sorgen machte, wenn ich noch Licht bei ihr sah. Wir haben ein Weilchen geschwatzt, und sie klang ganz munter. Sie war zu jener Zeit ja fix und fertig.«

»Wegen seiner Aufdringlichkeit?«

»Und wegen der Streitereien und der Drohungen. Ihr Leben war ein einziger Albtraum, aber sie freute sich auf San Francisco, auf ein bisschen Ablenkung – Einkaufen, Theater, Essengehen.«

»Um wie viel Uhr haben Sie mit ihr gesprochen?«

»Ich glaube, so um neun. Jedenfalls noch nicht sehr spät. Isabelle war eine Nachteule, aber sie wusste, dass ich normalerweise um zehn im Bett lag. Dass etwas nicht stimmte, merkte ich erst, als Don Seeger rüberkam: Er meinte, sie seien besorgt, weil Isabelle nicht aufmachte. Der Spion sei abmontiert und das Loch sehe versengt aus. Ich warf mir einen Morgenrock über, nahm meinen Schlüssel und ging mit ihm rüber zum Haupthaus. Wir nahmen die Hintertür und fanden Isabelle in der Diele. Ich war wie erstarrt. Völlig betäubt. Gefroren. Es war furchtbar, die schrecklichste Nacht meines Lebens.« Ich sah zum ersten Mal Tränen in ihren Augen, und ihr Gesicht war schmerzverzerrt. Sie kramte in ihrer Tasche nach einem Taschentuch und schnäuzte sich. »Entschuldigung«, murmelte sie.

Ich musterte sie einen Moment. »Und Sie glauben also, dass er sie erschossen hat?«

»Ohne jeden Zweifel. Ich weiß nur nicht, wie Sie das beweisen wollen.«

»Ich auch nicht«, sagte ich.

Es war 14 Uhr 34, als ich mich von Simone verabschiedete und zu meinem Wagen zurückging. Vom Meer her zog Nebel auf. Das Nachmittagslicht war schon dämmrig grau, und die Luft war kalt. Mich überkam ein unbehagliches Gefühl, als ich am Haupthaus vorbei musste. Ich warf einen raschen Blick auf die Fenster zur Hofseite. Im Wohnzimmer brannte Licht, während oben alles dunkel war. Niemand schien mich zu bemerken. Der BMW stand noch am selben Platz. Der Lincoln war weg. Ich schloss meinen Wagen auf und rutschte auf den Sitz. Ich steckte den Schlüssel ins Zündschloss und musterte noch einmal das Haus.

Auf dieser Seite hatte das Obergeschoss eine Loggia, deren rotes Ziegeldach auf einer Reihe weißer Säulen ruhte. Ein Klettergewächs hatte sich die Stützen emporgerankt und zog sich die überhängende Dachkante entlang, filigranes Grün mit weißen Blüten, wahrscheinlich wohlduftend. Der Schatten des Balkons zerschnitt die Eingangstür in zwei Hälften, und die Sicht wurde zudem durch das Geäst der immergrünen Eichen behindert, die sich in dem mauerumfriedeten Vorgarten drängten. Da sich die Zufahrt in einem steilen Bogen hinaufzog, war das Haus selbst von der Straße unten nicht sichtbar. Ein Passant hätte vielleicht jemanden kommen oder gehen sehen können, aber wer war schon nachts um halb zwei unterwegs? Teenager vielleicht, auf dem Heimweg von einer abendlichen Unternehmung. Ich fragte mich, ob es an dem bewussten Abend vielleicht ein Konzert oder ein Theaterstück gegeben hatte, irgendeine Wohltätigkeitsveranstaltung, die die Bewohner der Gegend bis nach Mitternacht hätte aus dem Haus locken können. Ich würde noch einmal die Zeitungen durchsehen müssen. Isabelle war in der Nacht nach Weihnachten erschossen worden, was die Chancen nicht gerade erhöhte. Die Tatsache, dass sich nie jemand gemeldet hatte, machte die Existenz eines Augenzeugen ziemlich unwahrscheinlich.

Ich ließ den Wagen an, legte den Rückwärtsgang ein und bog scharf nach links, damit ich die Ausfahrt vorwärts nehmen konnte. David Barney hatte behauptet, zur Tatzeit eine nächtliche Jogging-Runde gedreht zu haben. Joggen um halb zwei Uhr morgens, in einer stockfinsteren Gegend. Horton Ravine war weitestgehend ländlich – unbeleuchtete waldige Straßenabschnitte und Gehwege. Niemand konnte seine Aussage bestätigen, aber es konnte sie auch niemand widerlegen. Es erleichterte die Sache nicht gerade, dass die Polizei bislang nichts zu Tage gefördert hatte, was Barney in irgendeiner Weise mit dem Tatort in Verbindung gebracht hätte. Keinen Zeugen, keine Waffe, keine Fingerabdrücke. Wie wollte Lonnie den Kerl drankriegen, wenn er keinerlei Munition hatte?

Ich ließ den VW die Zufahrt hinunterrollen und bog links ab. Ich hielt ein Auge auf den Meilenzähler und das andere auf die Straße und fuhr an etlichen Häusern vorbei, bis ich sah, was ich suchte – das Haus, das David Barney gemietet hatte, nachdem er bei Isabelle ausgezogen war. Es war das architektonische Äquivalent zu einem Zirkuszelt: weißer Gussbeton, mit einem Dach aus keilförmigen Teilen, das sich von einem Mittelpfeiler nach außen spannte. Jedes Dreieck wurde von drei bunt gestrichenen Metallstützen getragen. Die meisten Fenster waren unregelmäßig geformt, eigens darauf angelegt, einen bestimmten Ausschnitt des Seeblicks einzufangen. Ich vermutete, dass die Fußböden aus rohem Estrich und die Wasser- und Heizungsrohre offen sichtbar waren. Dazu noch ein paar Trennwände aus Wellplastik und ein Innenhof mit Kunstrasen, und es war genau die Sorte Haus, die Metropolitain Home als »geradlinig«, »kompromisslos« oder auch »genial-ikonoklastisch« bezeichnen würde. »Gnadenlos ungemütlich« träfe es auch. Man muss nur genügend Geld dafür hinlegen, und alles gilt als geschmackvoll.

Ich stellte meinen Wagen auf dem Randstreifen ab und marschierte die Straße entlang zurück. In genau sieben Minuten war ich bei Isabelles Einfahrt angelangt. Bis zum Haus waren es höchstens noch einmal fünf. Wenn man die Strecke nachts zurücklegte und nicht gesehen werden wollte, musste man sich in die Büsche drücken, wenn ein Auto vorbeikam. Zu Fuß würde einem so spät wohl niemand begegnen. Als ich zu meinem Wagen zurückging, sah ich wieder auf die Uhr. Acht Minuten diesmal, aber ich hatte mich auch nicht beeilt. Ich notierte mir die Namen auf den Briefkästen an der Straße. Vielleicht wussten die Nachbarn irgendetwas, was uns weiterhalf. Um das herauszufinden, würde ich Klinken putzen müssen.

Ich hatte mich für halb vier bei den Weidmanns angemeldet. Also blieben mir noch zwanzig Minuten. Bei den meisten Aufträgen, die ich übernehme, geht es darum, Übeltäter aufzustöbern: Einbrecher, abgetauchte Schuldner, Unterschlagungstäter, Schwindler, Versicherungsbetrüger. Gelegentlich forsche ich auch nach vermissten Personen, aber das Vorgehen ist immer mehr oder weniger gleich: als ob man an einem gestrickten Teil herumzupft, bis man ein loses Fadenende gefunden hat. Man muss nur an der richtigen Stelle ziehen, und das ganze Ding ribbelt sich auf. Aber das hier war etwas anderes. Diesmal war der Bösewicht bekannt. Die Frage war nicht, wer es war, sondern, wie man ihn zur Strecke bringen konnte. Morley Shine hatte schon ausgiebige (wenn auch schlampig durchgeführte) Ermittlungen angestellt und keinerlei Ergebnis zu Tage gefördert. Jetzt war ich dran, aber was blieb mir noch zu tun? Ich kritzelte auf meinem Notizblock vor mich hin, in der Hoffnung auf einen Geistesblitz. Die meisten meiner Kritzeleien sahen aus wie dicke, fette Gänseeier.

Dringender Verdacht

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