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Ich holte meinen Wagen aus dem Parkhaus und fuhr raus zur Haft- und Besserungsanstalt des Santa Teresa County Sheriffs Department. Morleys Aufzeichnungen über sein Gespräch mit Curtis McIntyre gehörten zu den Unterlagen, die ich im richtigen Ordner gefunden hatte, wenn auch die Vorladung nie zugestellt worden war. Er hatte offenbar Mitte September mit Curtis geredet, und seither hatte niemand mehr nachgehakt. Morleys Notizen zufolge hatte McIntyre in Barneys erster Nacht im Knast mit ihm in einer Zelle gesessen. Er behauptete, es habe sich eine Art Freundschaft entwickelt, mehr von seiner Seite aus als von Barneys. Die Sache habe ihn beschäftigt, da Barney doch offensichtlich jemand gewesen sei, der alles gehabt habe. Da er sonst im Gefängnis immer nur mit armen Schluckern zusammengekommen sei, habe er den Fall in den Zeitungen verfolgt. Als dann der Prozess angelaufen sei, habe er unbedingt dabei sein wollen. Er und Barney hätten bis zum Tag des Freispruchs kaum miteinander geredet. Als David Barney den Gerichtssaal verlassen habe, sei er auf ihn zugegangen, um ihm zu gratulieren. Da habe Barney jene bewusste Bemerkung gemacht, sinngemäß, dass er gerade mit einem Mord davongekommen sei. Ich konnte den Aufzeichnungen nicht entnehmen, ob Curtis sich dazu noch näher geäußert hatte oder nicht.

Ich parkte vor dem Gefängnis, gegenüber dem Parkplatz des Santa Teresa Sheriffs Department mit seiner Flotte von schwarzweißen Streifenwagen. Ich marschierte die Zufahrt hinauf und durch den Haupteingang in die kleine Vorhalle, wo ich an den L-förmigen Anmeldeschalter mit dem Trennglas trat. Ich hatte sechs Wochen zuvor eine Nacht im Gefängnis verbracht und war froh, diesmal in legaler Mission zu kommen. Es war sehr viel angenehmer, durch die Vordertür hereinzuspazieren, als von einem Beamten durch den Hintereingang geführt zu werden.

Ich meldete mich an und füllte einen Besucher-Passierschein aus. Die Frau hinter dem Schalter nahm das Formular und verschwand. Ich wartete in der Eingangshalle und studierte die Anschlagtafel, während sie durchgab, dass jemand Curtis in den Besuchsraum bringen solle. An der Wand neben dem öffentlichen Münzfernsprecher waren alle empfehlenswerteren Kautions-Bürgen sowie die Taxi-Unternehmen von Santa Teresa aufgelistet. Verhaftet zu werden ist meist ein unerwarteter Schlag. Wenn man dann gegen Kaution wieder rauskommt und kein Auto hat, weil es konfisziert wurde, sitzt man hier fest – ein zusätzlicher Schlag nach einer demütigenden Nacht.

Die Frau hinter dem Schalter machte mir ein Zeichen. »Ihr Klient kommt gleich rauf. Kabine zwo.«

»Danke.«

Ich überquerte den kurzen Flur und ging durch die Tür zu den Sprechkabinen. Es gab in diesem Trakt nur drei, so angeordnet, dass die Häftlinge unter vier Augen mit ihren Anwälten, Bewährungshelfern oder sonstigen legitimierten Besuchern sprechen konnten. Ich trat in den zweiten »Raum«, der etwa eins-zwanzig breit war. Die Ausstattung bestand aus einem gläsernen Sprechfenster über einer Art Tresen und einer Fußstange, wie man sie in Bars findet. Ich trat an den Tresen, stützte die Ellbogen auf die Platte und einen Fuß auf die Stange. Hinter der Scheibe war ein Gelass, das genauso aussah wie meines, mit einer Tür in der Rückwand, durch die die Häftlinge hereingeführt wurden. Kurz darauf ging die Tür auf, und Curtis McIntyre wurde hereingebracht. Er schien erstaunt über den außerplanmäßigen Besuch und verblüfft, als er mich sah, denn wahrscheinlich hatte er seinen Anwalt erwartet.

Er war achtundzwanzig, hager, mit langem Oberkörper und so schmalen Hüften, dass seine Hose kaum Halt fand. Er sah gut aus in der blauen Gefängniskluft. Das Hemd war kurzärmlig und gab lange, glatte Arme frei, der perfekte Untergrund für einen tätowierten Drachen. Irgendjemand musste Curtis wohl erzählt haben, er habe seelenvolle Augen, denn er schien wild entschlossen, mir tief und bedeutungsvoll in die meinen zu sehen. Er war glatt rasiert, mit einem unschuldigen Gesicht (für einen verurteilten Straftäter). Sein Haar war schlecht geschnitten, was nicht weiter verwunderlich war, da er ja seit Monaten im Gefängnis saß. Aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass er selbst unter optimalen Umständen regelmäßig zum Schneiden und Föhnen einen Friseur aufsuchte.

Ich stellte mich vor und erklärte den Zweck meines Hierseins, nämlich, eine schriftliche Aussage von ihm zu bekommen. »Soweit ich Mr. Shines Aufzeichnungen entnehmen konnte, haben Sie David Barney in der ersten Nacht nach seiner Verhaftung in einer Zelle kennen gelernt.«

»Sind Sie allein?«

Ich sah hinter mich. »Wer, ich?«

Er lächelte die Sorte Lächeln, die man vor dem Spiegel üben muss, und bohrte seinen Blick in meine Augen. »Sie haben mich schon verstanden.«

»Was hat das damit zu tun?«

Seine Stimme nahm jenen für streunende Hunde und Frauen reservierten sanften Gut-Zurede-Ton an. »Ach, kommen Sie. Sagen Sie’s mir. Ich bin ein netter Kerl.«

Ich sagte: »Ich bezweifle nicht, dass Sie ein netter Mensch sind, aber das geht Sie nichts an.«

Das belustigte ihn. »Wieso haben Sie Angst, es zu sagen? Finden Sie mich attraktiv? Ich finde Sie nämlich attraktiv.«

»Hm, Sie sind sehr offen, und ich weiß das zu schätzen, Curtis. Aber, äh, könnten Sie mir jetzt vielleicht von Ihrer Bekanntschaft mit David Barney erzählen?«

Er lächelte schwach. »Immer hübsch sachlich. Das gefällt mir. Sie nehmen sich selbst ernst.«

»Stimmt. Und ich hoffe, Sie nehmen mich auch ernst.«

Er räusperte sich und schlug einen nüchternen Ton an, sichtlich bemüht, einen guten Eindruck zu machen. »Wir waren in einer Zelle, er und ich. Er ist an einem Dienstag verhaftet worden, und wir sind erst am Mittwochnachmittag vor den Richter gekommen. Schien ganz nett, der Typ. Als sein Prozess anfing, war ich gerade draußen. Also hab ich mir gedacht, ich setz mich rein und guck mir an, was da läuft.«

»Haben Sie beide nach seiner Verhaftung über den Mord gesprochen?«

»Nee, nicht richtig. Er war ziemlich fertig. Konnte ich auch verstehen. Die Frau erschossen, ins Auge, hässliche Sache. Ich frag mich, wer so was tut«, sagte er. »Aber wie’s scheint, war er’s ja wohl selbst.«

»Worüber haben Sie geredet?«

»Ich weiß nicht. Nichts Besonderes. Er hat gefragt, wieso ich hier drin sei und solche Sachen und was ich glaube, was für einen Richter wir bei der Anklagevernehmung am nächsten Tag kriegen würden. Ich hab ihm einen Schnellkurs gegeben, welche Richter gemein sind, und das sind die meisten. Na ja, der eine Typ ist locker, aber die anderen sind ganz schön scharf.«

»Und weiter?«

»Nichts weiter.«

»Und das war für Sie Grund genug, sich den ganzen Prozess anzuhören?«

»Nicht den ganzen. Haben Sie sich schon mal einen ganzen Prozess angehört? Todlangweilig, was? Ich bin froh, dass ich kein Rechtsanwalt bin.«

»Das glaube ich.« Ich überflog meine Notizen. »Ich habe die Aussage gelesen, die Mr. Kingman –«

»Sind Sie allein?«

»Das haben Sie mich schon mal gefragt.«

»Ich wette, Sie sind’s. Wollen Sie wissen, woher ich das weiß?« Er klopfte sich gegen die Schläfe. »Ich kann hellsehen.«

»Nun, dann können Sie mir wahrscheinlich auch sagen, was ich Sie als Nächstes fragen werde.«

Er grinste errötend. »Nicht ganz. So gut kenn ich Sie nicht, aber ich würd’s gern.«

»Vielleicht reicht Ihre Intuition ja aus, um mir ein paar Fragen zu beantworten.«

»Ich will’s gern versuchen. Werd mich bemühen. Schießen Sie los. Ich bin ganz Ohr.« Sein Gesicht wurde ernst.

»Erzählen Sie mir noch mal, was er zu Ihnen gesagt hat, nachdem der Freispruch verkündet worden war.«

»Also ... Moment mal. Wie er rauskommt, sagt er so was wie ... ›Hey, Mann. Wie geht’s? Was sagen Sie dazu? Sehen Sie jetzt, wieso sich ein teurer Anwalt lohnt?‹ Und ich sage: ›Klar, Mann. Spitze. Ich hab nie geglaubt, dass Sie’s gewesen sind.‹ Da grinst er über sein ganzes Arsch- ’tschuldigung – über beide Backen. Er beugt sich dicht an mich ran und sagt: ›Ha, ha, die haben wir ganz schön reingelegt.‹«

Das schien mir ein äußerst unglaubwürdiger Dialog. Ich kannte David Barney nicht, aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass er so redete. Ich musterte Curtis’ Gesicht. »Und was haben Sie daraus geschlossen?«

»Daraus hab ich geschlossen, dass er’s war. Haben Sie einen Freund?«

»Er ist Polizist.«

»Sie verschaukeln mich. Das glaub ich nicht. Wie heißt er?« »Lieutenant Dolan.«

»Was macht er?«

»Mordkommission, Stadtpolizei Santa Teresa.«

»Gehen Sie nie mit anderen Männern aus?«

»Dazu ist er viel zu eifersüchtig. Er würde Ihnen den Kopf abreißen, wenn er wüsste, dass Sie sich an mich ranmachen. Rahen Sie sonst je mit David Barney gesprochen?«

»Außer im Bau und im Gericht? Glaube nicht. Nur die beiden Male.«

»Es kommt mir komisch vor, dass er so was gesagt haben soll.«

»Wieso? Das möcht ich wissen.« Er stützte das Kinn auf die Faust, offenbar bereit, mich in einen längeren Disput zu verwickeln.

»Der Mann kennt Sie doch kaum, Curtis. Wieso sollte er Ihnen etwas so Wichtiges anvertrauen? Noch dazu mitten im Gericht ...«, ich legte die eine Hand ans Ohr, »wo das Pochen des Richterhammers noch nicht ganz verklungen ist.«

Curtis runzelte nachdenklich die Stirn. »Das müssen Sie ihn fragen, aber wenn Sie mich fragen, würd’ ich sagen, weil er wusste, dass ich aus dem Knast kam. Vielleicht hat er mir einfach mehr getraut als seinen hochgestochenen Freunden. Und wieso sollte er’s mir nicht sagen? Der Prozess war doch vorbei. Was sollten sie denn schon machen? Selbst wenn es jemand mitgekriegt hätte, hätten sie ihm doch nicht mehr ans Leder gekonnt, weil sie ihn ja nicht zwei Mal vor Gericht stellen können.«

»Wo hat sich dieser Wortwechsel abgespielt?«

»Gleich vor der Tür. Abteilung sechs. Er kam raus, und ich hab ihm auf die Schulter geklopft und die Hand geschüttelt –«

»Und die Journalisten? War er denn in dem Moment nicht von Reportern umlagert?«

»Klar doch, und wie. War alles voll. Sie haben seinen Namen gerufen, ihm Mikrofone unter die Nase gehalten und ihn gefragt, wie er sich fühlt.«

Ich merkte, wie meine Skepsis wuchs. »Und mitten in dem ganzen Rummel hat er das gesagt?«

»Ja, so war’s. Er hat sich zu mir hingebeugt und mir ins Ohr geflüstert, genau wie ich gesagt habe. Sind Sie Privatdetektivin?«

Ich zuckte im Geist mit den Schultern und fing an, seine Aussage schriftlich festzuhalten. »Das ist mein Job.«

»Das heißt, wenn ich hier rauskomme und ein Problem habe, kann ich Sie im Telefonbuch finden?«

Ich achtete nicht sonderlich auf ihn, da ich damit beschäftigt war, seine Worte in eine schriftliche Form zu bringen. »Theoretisch schon.« Wenn du lesen kannst.

»Wie viel nehmen Sie für so was? Was kostet das?«

»Kommt darauf an, worum es geht.«

»Nur so etwa?«

»Dreihundert die Stunde«, log ich automatisch. Fünfzig würde er am Ende noch berappen können.

»Ey, Mann, das glaub ich nicht.«

»Plus Spesen.«

»Verdammt, das kann doch nicht sein. Wollen Sie mich verarschen oder was? Dreihundert die Stunde? jede Stunde, die Sie arbeiten?«

»So ist es.«

»Da machen Sie ja eine Menge Geld. Für eine Frau? Heiliger Strohsack«, sagte er. »Könnten Sie mir nich’ was pumpen? Fünfzig oder hundert. Nur bis ich draußen bin, dann kann ich’s Ihnen zurückzahlen.«

»Ich finde, Männer sollten sich von Frauen kein Geld leihen.«

»Von wem soll ich mir’s denn sonst leihen? Ich kenn keine Männer, die Kohle haben. Außer, sie sind Drogen-Bosse oder so was. Und hier in Santa Teresa gibt’s noch nicht mal richtig dicke Fische. Hier gibt’s höchstens Heringe.« Er lachte verächtlich. »Haben Sie eine Kanone?«

»Natürlich«, sagte ich.

Er erhob sich halb von seinem Sitz und spähte durch die Glasscheibe, als hätte ich womöglich einen Trommelrevolver an der Hüfte hängen. »Hey, zeigen Sie mal her.«

»Ich habe sie nicht dabei.«

»Wo ist sie?.

»In meinem Büro. Ich habe sie immer dort liegen, für den Fall, dass jemand seine Rechnung nicht bezahlen will. Können Sie das hier mal durchlesen und schauen, ob es Ihre Schilderung des Gesprächs mit Mr. Barney zutreffend wiedergibt?« Ich schob das Blatt samt Stift unter der Glasscheibe durch.

Er sah kaum darauf. »So in etwa schon. Hey, Sie können ja toll Druckschrift schreiben.«

»Ich war ein Ass in der Grundschule«, sagte ich. »Dürfte ich Sie um Ihre Unterschrift bitten?«

»Wieso?«

»Damit wir eine schriftliche Zeugenaussage von Ihnen haben. Dann können wir vor Gericht ihr Gedächtnis wieder auffrischen, falls Sie bis dahin etwas vergessen.«

Er kritzelte seine Unterschrift darunter und gab mir das Blatt zurück. »Fragen Sie mich ruhig noch mehr«, sagte er. »Ich sag Ihnen alles.«

»Das ist nett. Vielen Dank. Wenn ich noch eine Frage habe, werde ich mich mit Ihnen in Verbindung setzen.«

Nachdem ich Curtis verlassen hatte, setzte ich mich in mein Auto. Ich beobachtete, wie die Polizeiwagen kamen und losfuhren. Das war einfach zu perfekt, um wahr zu sein. Da war dieser Curtis McIntyre, der munter Nägel zu Barneys Sarg lieferte, aber was er sagte, klang einfach nicht stimmig. David Barney weigerte sich, irgendetwas zu sagen, fast fünf Jahre nach der Tat und zwei Jahre nach seinem Freispruch. Nach dem, was Lonnie erzählte, war es schon ein Kraftakt gewesen, ihm auch nur die harmloseste Information aus der Nase zu ziehen. Wieso sollte er einem Tropf wie Curtis ein spontanes Geständnis ins Ohr flüstern? Ach ja, die Widersprüche der menschlichen Natur waren ein ewiges Rätsel. Ich ließ den Wagen an und fuhr vom Parkplatz.

Den Akten zufolge wohnte Isabelle Barneys Schwester, Simone Orr, noch immer auf dem Barneyschen Grundstück in Horton Ravine, einem der beiden Edel-Wohnviertel von Santa Teresa. Werbebroschüren des Verkehrsamts nennen Horton Ravine ein »funkelndes Juwel in parkartiger Umgebung«, woraus man entnehmen kann, wie dick solche Prospekte auftragen. Nach Norden hin ragen die Santa-Ynez-Berge in den Himmel. Im Süden erstreckt sich der Pazifische Ozean. Das Panorama wird stets »atemberaubend«, »fantastisch« oder »einmalig« genannt.

Immobilienanzeigen, die diese Gegend preisen, strotzen von Worten wie »Lieblichkeit« und »Ruhe«. Jedem Substantiv ist ein Adjektiv beigefügt, das ihm das rechte Flair verleihen soll. Die »luxuriösen, gepflegten« Grundstücke sind groß, im Schnitt bestimmt fünf Morgen, mit Pferdekoppeln. Die »gediegenen, geräumigen« Häuser stehen ein gutes Stück abseits der Straße, die sich durch die mit Lorbeer, Platanen, immergrünen Eichen und Zypressen »gezierten« Hügel windet. Jede Menge zieren und inmitten.

Ich merkte, wie ich im Werbejargon vor mich hin rhapsodierte, während ich meinen Weg suchte, die lange, geschwungene Zufahrt entlang, zu dem stattlichen, geschützten Portal dieses klassisch-mediterranen Anwesens mit seinem weiten Panorama-Blick auf die heiteren Berge und den glitzernden Ozean. Ich fuhr in den prächtigen Steinplatten-Hof und parkte meinen gebrauchten VW in einer Lücke zwischen einem Lincoln und einem Beamer. Ich stieg aus, betrat einen mauerumfriedeten Garten und ging den mosaikgepflasterten, überdachten Zugangsweg entlang. Das gesamte Vier-Morgen-Areal zierten vielfältige Stauden, üppige Farne und importierte Palmen, und dazu zwei Gärtner, die vierhundert Meter Schlauch herumschleppten.

Ich hatte mich bei Simone telefonisch angemeldet, und sie hatte mir genau erklärt, wie ich zu ihrem kleinen Häuschen kam, das auf dem unteren Grundstücksteil lag, inmitten üppiger Rasenflächen und diverser Nebengebäude wie Poolhäuschen und Geräteschuppen. Ich umrundete den Ostflügel des Hauses, das, wie mir erläutert worden war, von einem bekannten hiesigen Architekten stammte, dessen Namen ich noch nie gehört hatte. Ich überquerte die im spanischen Stil geflieste Terrasse mit individuell gestaltetem, schwarzgrundigem Pool, Lavagestein-Wasserfall, Planschbecken und Koi-Bassin, umgeben von niedrigen, perfekt gestutzten Lantana- und Eibenhecken. Ich ging eine Treppe hinunter und folgte einem Plattenweg zu einem an den Hügel gekauerten flachen Holzhäuschen.

Das Haus war winzig, bretterverschalt, mit einem steilen Schindeldach und einer Bohlenterrasse an drei Seiten. Außen war es shaker-blau, mit Weiß abgesetzt. Die höher gelegene Partie sämtlicher Außenwände bildeten Holzrahmen-Fenster. Die obere Hälfte der zweiteiligen Tür stand offen. In Santa Teresa kann der Dezember so sein wie in anderen Teilen der Staaten der Frühling – graue Tage, ein bisschen Regen, aber zwischendurch eine Menge blauer Himmel.

Ich blieb stehen, hingerissen von dem Anblick. Ich habe eine Schwäche für kleine, geschlossene Räume, eine kaum verhohlene Sehnsucht nach der Rückkehr in den Mutterleib. Als ich nach dem Tod meiner Eltern zu meiner unverheirateten Tante kam, richtete ich mir in einem riesigen Karton ein eigenes Plätzchen ein. Ich war gerade erst fünf, aber ich erinnere mich noch, mit welcher Hingabe ich dieses kleine Wellpappe-Refugium einrichtete. Der Boden war mit Kopfkissen ausgelegt. Ich hatte eine Decke und eine Lampe mit einem dicken blauen Keramikfuß und einer Sechzig-Watt-Birne, die meine Höhle auf tropische Temperaturen aufheizte. Hier pflegte ich auf dem Rücken zu liegen und endlos Bilderbücher zu lesen. Meine Lieblingsgeschichte handelte von einem Mädchen, das einen winzigen Däumling namens Twig entdeckte, der in einer umgestülpten Tomatensaft-Dose lebte. Fantasien innerhalb der Fantasie. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich geweint hätte. Vier Monate lang fraß ich mich durch meine aus der Bücherei geliehenen Bücher, ein kleines, geschlossenes System, dazu geschaffen, mit der Trauer fertig zu werden. Ich aß Käse- und Gürkchen-Sandwichs, wie sie meine Mutter gemacht hatte. Ich machte sie selbst, weil sie ganz richtig sein mussten. Manchmal nahm ich statt Käse Erdnussbutter, und das war gut. Meine Tante ging ihren eigenen Beschäftigungen nach und ließ mich ungestört meine Gefühle durcharbeiten. Meine Eltern starben am Memorial Day, Ende Mai. Im Herbst kam ich in die Schule ...

»Sind Sie Kinsey?«

Ich drehte mich um und sah die Frau an, als erwachte ich aus tiefem Schlaf. »Die bin ich. Und Sie sind wohl Simone?«

»Genau. Freut mich.« Sie hatte eine Gartenschere in der einen Hand und in der anderen einen flachen Korb voller frisch geschnittener Blumen, den sie jetzt absetzte. Sie lächelte kurz, während sie mir die Hand hinstreckte. Ich schätzte sie auf Ende dreißig bis Anfang vierzig. Sie war etwas kleiner als ich, breitschultrig und untersetzt, was sie jedoch durch ihre Kleidung geschickt kaschierte. Ihr Haar war rötlich-blond, an den Wurzeln eine winzige Nuance dunkler, schulterlang geschnitten und dauergewellt. Ihr Gesicht war breit, der Mund ebenfalls. Die Augen unscheinbar-blau, mit getuschten Wimpern und feinen, rötlichen Brauen. Sie trug ein Ensemble in einem geometrischen Schwarzweiß-Muster: eine Jacke aus Waschseide über einer langen, schwarzen Tunika und einen weiten Rock, der bis auf die schwarzen Wildlederstiefel reichte. Sie hatte kurze, stumpfe Finger und farblos lackierte Nägel. Sie trug keinen Schmuck und kaum Make-up. Ich merkte erst jetzt, dass sie sich auf einen Stock stützte. Ich sah zu, wie sie ihn von der einen Hand in die andere nahm. Sie suchte einen festen Stand und verlagerte einen Teil ihres Gewichts auf den Stock, während sie sich herunterbeugte, um den Korb zu ihren Füßen aufzunehmen.

»Die müssen ins Wasser. Kommen Sie rein.« Sie öffnete den unteren Teil der Tür, und ich folgte ihr.

Ich sagte: »Tut mir Leid, dass ich Sie noch mal mit der Sache belästigen muss. Ich weiß, dass Sie vor ein paar Monaten mit Morley Shine gesprochen haben. Ich nehme an, Sie haben gehört, dass er tot ist.«

»Ich habe heute Morgen den Nachruf in der Zeitung gelesen. Ich habe sofort bei Lonnie angerufen, und er meinte, Sie würden sich bei mir melden.« Sie ging hinüber zu der kleinen, gekachelten Küchentheke, die gleichzeitig als Arbeitsfläche und, im Verbund mit den beiden darunter verstauten Hockern, als Frühstücksbar diente. Sie hängte den Stock über die Kante, nahm einen durchsichtigen Glaskrug aus dem Schrank und füllte ihn mit Leitungswasser. Sie bündelte die Blumen zu einem hübschen Strauß, steckte ihn in die improvisierte Vase, stellte dann das ganze Arrangement auf die Fensterbank und trocknete sich die Hände an einem Handtuch.

»Setzen Sie sich doch«, sagte sie. Sie zog den einen Hocker hervor und ließ sich darauf nieder, während ich mir den anderen nahm. »Ich werde mich bemühen, Ihre Zeit nicht allzu lange in Anspruch zu nehmen«, sagte ich.

»Hören Sie, wenn es dazu beiträgt, dass dieser Scheißkerl überführt wird, können Sie meine Zeit so lange in Anspruch nehmen, wie Sie wollen.«

»Ist das nicht ein bisschen ungemütlich, so auf demselben Grundstück zusammenzuleben, nur ein paar Hundert Meter auseinander?«

»Das will ich hoffen«, sagte sie. Die tiefe Bitterkeit in ihrer Stimme schien sich sogar auf die Tonhöhe auszuwirken. Sie sah zu dem großen Haus hinüber. »Wenn es für mich ungemütlich ist, können Sie sich vorstellen, wie es erst für ihn sein muss. Ich weiß, es treibt ihm die Galle hoch, dass ich mich nicht vertreiben lasse. Nichts würde er lieber tun, als mich zu zwingen, von hier zu verschwinden.«

»Kann er das?«

»Nicht, solange ich noch ein Wörtchen mitzureden habe. Izzy hat mir das Häuschen vererbt. Das stand in ihrem Testament. Sie und Kenneth haben das Anwesen vor vielen Jahren gekauft. Sie haben ein kleines Vermögen dafür hingelegt. Als die Ehe zerbrach, fiel es im Zuge der Güteraufteilung ihr zu. Sie ließ es als ihr Alleineigentum eintragen, als sie David heiratete. Außerdem hat sie auf einem Ehevertrag bestanden.«

»Klingt sehr geschäftsmäßig. Hat sie das bei den anderen auch so gemacht?«

»Das brauchte sie nicht. Die ersten beiden hatten Geld. Kenneth war ihr zweiter Mann. Bei David war es anders. Jeder hat sie gewarnt, er sei hinter ihrem Geld her. Ich glaube, der Ehevertrag sollte der Beweis dafür sein, dass das nicht stimmte. Ein Witz«

»Also hat er überhaupt keinen Anspruch auf dieses Haus?«

Simone schüttelte den Kopf. »Sie hat ihr Testament noch einmal geändert und ihm den lebenslangen Nießbrauch eingeräumt. Wenn er stirbt – was hoffentlich bald der Fall sein wird –, fällt es an seine Tochter Shelby. Das kleine Häuschen gehört mir – solange ich lebe natürlich nur. Wenn ich sterbe, fällt es in die Erbmasse zurück.«

»Und da haben Sie keine Angst?«

»Vor David? Nicht die geringste. Er ist einmal mit einem Mord davongekommen, aber der Mann ist ja nicht dumm. Er braucht doch weiter nichts zu tun als abzuwarten. Wenn er den Zivilprozess gewinnt, gehört doch alles ihm, oder nicht?«

»Sieht so aus.«

»Vielleicht kommt er ja so rein wie eine Rose aus der ganzen Sache heraus. Warum in aller Welt sollte er das aufs Spiel setzen? Wenn mir etwas zustößt, ist er doch der Erste, den sie unter die Lupe nehmen.«

»Und wenn er verliert?«

»Ich vermute, dass er sich dann sofort in die Schweiz absetzen würde. Wahrscheinlich schafft er längst Geld beiseite. Er ist zu klug, um noch einen Mord zu begehen. Was würde ihm das nützen?«

»Aber wieso hat Isabelle das alles so arrangiert? Das heißt doch, das Schicksal herauszufordern. Soweit ich es verstehe, hat sie mit dem Ehevertrag und dem Testament geradezu den Kopf in die Schlinge gesteckt.«

»Sie hat diesen Mann geliebt. Sie wollte, dass für ihn gesorgt ist. Aber sie war auch realistisch. Er war ihr dritter Mann, und sie wollte nicht ausgenommen werden. Sehen Sie es doch mal von ihrem Standpunkt aus. Wenn Sie jemanden heiraten, denken Sie doch nicht, dass er Sie umbringen könnte. Sonst würden Sie ihn doch nie heiraten.« Ihr Blick wanderte zu ihrer Armbanduhr. »O je, fast eins. Ich weiß nicht, wie’s Ihnen geht, aber ich sterbe vor Hunger. Haben Sie schon zu Mittag gegessen?«

»Kümmern Sie sich nicht um mich«, sagte ich. »Ich halte Sie bestimmt nicht mehr lange auf. Ich werde mir auf dem Rückweg ins Büro irgendwo ein paar Bissen genehmigen.«

»Aber es ist wirklich kein Problem. Bitte essen Sie doch mit mir. Ich mache nur Sandwiches. Ich würde mich freuen.«

Die Einladung klang aufrichtig, und ich lächelte. »Tja, dann nehme ich gern an.«

Dringender Verdacht

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