Читать книгу Kopf in der Schlinge - Sue Grafton - Страница 3
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ОглавлениеManchmal denke ich darüber nach, wie seltsam es wäre, einen Moment lang in die Zukunft sehen zu können, einen kurzen Blick auf die Ereignisse zu werfen, die uns zu einem unbekannten Zeitpunkt erwarten. Stellen Sie sich vor, wir könnten durch ein winziges Guckloch in der Zeit schauen und einen zufälligen Ausschnitt von dem aufschnappen, was in den nächsten Jahren auf uns zukommt. Manche Momente, die wir erblickten, würden uns völlig unverständlich sein, und manche, so fürchte ich, würden uns maßlos erschrecken. Wenn wir wüßten, was uns droht, würden wir manche Entscheidungen nicht treffen und am Scheideweg Alternative B statt Alternative A wählen; der Arbeitsplatz, die Ehe, der Umzug in eine andere Stadt, der Nachwuchs, der geplante medizinische Eingriff, der langersehnte Skiurlaub, der soviel Spaß zu machen schien – bis das dunkle Rumpeln der Lawine ertönte. Wären uns die Konsequenzen jeder Handlung klar, könnten wir nach Gutdünken entscheiden und unser Schicksal selbst umgestalten. Aber natürlich verläuft die Zeit nur in eine Richtung, und das offenbar in geordneter Abfolge. Hier, in der nüchternen und kalten Gegenwart, sind wir abgeschirmt vor dem Wissen um die Gefahren, die auf uns warten, durch blinde Unschuld geschützt vor zukünftigen Schrecken.
Nehmen wir nur einmal meinen Fall. Ich kurvte in einem preisreduzierten Mietwagen auf dem Highway 395 durch die Berge, und zwar in südlicher Richtung auf den Ort Nota Lake in Kalifornien zu, wo ich eine potentielle Klientin befragen wollte. Die Straße war trocken und die Sicht einwandfrei, da klares Wetter herrschte. Der Auftrag der Klientin war nichts Besonderes, jedenfalls nicht, soweit ich informiert war. Ich hatte keine Ahnung, daß irgendwelche Risiken lauerten, sonst hätte ich mich nicht darauf eingelassen.
Ich hatte Dietz in Carson City zurückgelassen, wo ich die letzten zwei Wochen damit verbracht hatte, für ihn Krankenschwester und Gesellschafterin zu spielen, während er sich von einem Krankenhausaufenthalt erholte. Er hatte sich einer Knieoperation unterziehen müssen, und ich hatte mich bereit erklärt, ihn in seinem schnieken, kleinen roten Porsche nach Nevada zurückzufahren. Mit meiner Fürsorglichkeit ist es nicht weit her, aber ich bin praktisch veranlagt, und die neunstündige Fahrt erschien mir als die naheliegendste Lösung für das Problem, wie man sein Auto zu ihm nach Hause zurückbefördern sollte. Ich bin eine geübte Fahrerin, und er konnte sich darauf verlassen, daß ich uns ohne unnötige Verzögerungen oder belangloses Geplapper nach Carson City bringen würde. Die vergangenen zwei Monate hatte er bei mir gewohnt, und da unser Abschied nahte, gingen wir persönlichen Gesprächen lieber aus dem Weg.
Der Vollständigkeit halber: Ich heiße Millhone, mit Vornamen Kinsey. Ich bin weiblich, zweimal geschieden, stehe sieben Wochen vor meinem sechsunddreißigsten Geburtstag und bin einigermaßen durchtrainiert. Ich besitze eine Lizenz als Privatdetektivin und wohne in Santa Teresa, Kalifornien, einem Ort, an dem ich hänge wie ein Ball an einer ganz kurzen Schnur. Gelegentlich führt mich mein Beruf zwar in andere Landesteile, aber im Grunde bin ich eine Kleinstadtschnüfflerin und werde es vermutlich mein Leben lang bleiben.
Dietz’ Operation, die für den ersten Montag im März angesetzt war, verlief ohne Komplikationen, also können wir uns diesen Teil sparen. Danach kehrte ich in seine Eigentumswohnung zurück und sah mich interessiert dort um. Ich war verblüfft gewesen, als ich seine Räumlichkeiten zum ersten Mal sah, da sie großzügiger und wesentlich besser eingerichtet waren als meine bescheidene Behausung in Santa Teresa. Dietz ist ein Nomade, und ich hätte nie gedacht, daß er über nennenswerten materiellen Besitz verfügt. Während ich in einer umgewandelten Einzelgarage hause (die kürzlich umgebaut worden ist und nun im Obergeschoß ein Loft zum Schlafen und ein zweites Badezimmer umfaßt), residiert Dietz in einem Penthouse mit drei Schlafzimmern, das inklusive Dachterrasse und einem Dachgarten mit einem richtigen Gewächshaus schätzungsweise 280 Quadratmeter Wohnraum umfaßt. Sicher, das siebenstöckige Gebäude liegt in einem Gewerbegebiet, aber die Aussicht ist umwerfend und die Abgeschiedenheit vollkommen.
Ich war zu höflich gewesen, um herumzuschnüffeln, während er direkt neben mir stand, aber als er in der sicheren Obhut der orthopädischen Abteilung des Carson/Tahoe Hospital lag, durchsuchte ich ohne Skrupel alles in meiner direkten Reichweite, was bedeutet, daß ich einen Stuhl mit mir herumschleppen mußte, auf den ich hin und wieder kletterte. Ich durchsuchte Schränke und Akten, Kisten, Papiere und Schubladen, Jackentaschen und Koffer und fühlte mich ebenso erleichtert wie enttäuscht darüber, daß er nichts Besonderes zu verbergen hatte. Ich meine, was bringt die ganze Schnüffelei, wenn sie nichts Interessantes zutage fördert? Allerdings bekam ich ein Foto seiner Exfrau Naomi in die Finger, die auf jeden Fall wesentlich hübscher war, als er je hatte durchblicken lassen. Darüber hinaus schienen seine Finanzen in Ordnung zu sein, sein Medizinschränkchen barg keine düsteren pharmazeutischen Enthüllungen, und sein privater Briefwechsel bestand fast ausschließlich aus Briefen voller Rechtschreibfehler von seinen beiden Söhnen im College-Alter.
Falls Sie mich für indiskret halten, so kann ich Ihnen versichern, daß Dietz mein Domizil genauso sorgfältig durchsucht hat, als er bei mir wohnte. Das weiß ich, weil ich ein paar Fallen gelegt habe, von denen er eine übersehen hat, als er meine abgesperrten Schreibtischschubladen knackte. Auch wenn seine Lizenz abgelaufen sein mochte, war er beruflich nach wie vor in Form. Keiner von uns hatte je sein Eindringen in meine Privatangelegenheiten zur Sprache gebracht, doch ich hatte mir geschworen, bei ihm das gleiche zu tun, falls sich die Gelegenheit ergab. Unter Detektiven gilt das als berufsspezifische Höflichkeitsgeste: Du durchwühlst meine Wohnung und ich deine.
Am Freitagmorgen der gleichen Woche wurde er aus der Klinik entlassen. Den anschließenden Heilungsprozeß verbrachte er mit viel Herumsitzen, während sein Knie so dick verbunden war, daß es wie eine Nackenrolle aussah. Wir sahen uns Schund im Fernsehen an, spielten Gin-Rommé und setzten ein Puzzle zusammen, das ein derart lebensechtes Bild eines wuselnden Regenwurmnests ergab, daß es mir fast den Appetit raubte. In den ersten drei Tagen übernahm ich das Kochen, was heißt, daß ich Sandwiches zubereitete und zwischen meiner berühmten Erdnußbutter-Essiggurken-Kreation und meiner geliebten Kombination aus heißem, hartgekochtem Ei in Scheiben mit tonnenweise Hellmann’s Mayonnaise und Salz abwechselte. Danach wollte Dietz offenbar unbedingt selbst wieder die Küche übernehmen, und unser Speiseplan wurde reichhaltiger und umfaßte Pizza, Gerichte vom Chinesen und Campbell’s-Suppen – Tomate oder Spargelcreme, je nach Laune.
Nach Ablauf von zwei Wochen kam Dietz ganz gut wieder allein zurecht. Die Fäden waren gezogen, und er hinkte zwischen seinen krankengymnastischen Terminen mit einer Krücke herum. Er hatte noch einen langen Heilungsprozeß vor sich, aber er konnte allein zu seinen Behandlungen fahren und schien auch sonst imstande zu sein, für sich zu sorgen. Mittlerweile hielt ich es nicht mehr für ausgeschlossen, daß ich durchdrehen würde, wenn ich noch länger hinter ihm herlief. Es war Zeit, mich auf den Weg zu machen, bevor unsere Zweisamkeit lästig zu werden begann. Ich war gern mit ihm zusammen, doch ich kannte meine Grenzen. Ich hielt meine Abschiedsworte oberflächlich; jede Menge lässiges »Okay«, »Prima«, »Vielen Dank« und »Bis bald«. Das war meine Art, den schmerzhaften Kloß in meinem Hals zu verdrängen und peinliches Geheule zu verhindern, das meiner Meinung nach lieber unterbleiben sollte. Verlangen Sie bloß nicht von mir, den Jammer, den ich empfand, mit dem fast schwindelerregenden Gefühl von Erleichterung in Einklang zu bringen. Niemand hat je behauptet, daß Gefühle schlüssig sein müßten.
Und hier war ich nun und raste auf der Suche nach Arbeit die Landstraße entlang, alles andere als wählerisch, was meinen nächsten Auftrag anging. Ich wollte Ablenkung. Ich wollte Geld, Zerstreuung, alles, um meine Gedanken vom Thema Robert Dietz fernzuhalten. Ich habe kein Talent fürs Abschiednehmen. Ich habe schon zu viele Trennungen erlebt und kann das Gefühl nicht ausstehen. Andererseits habe ich aber auch kein Talent für Beziehungen. Man kommt jemandem nahe, und im Handumdrehen hat man ihm schon die Macht gegeben, einen zu verletzen, zu betrügen, zu ärgern, zu verlassen oder zu Tode zu langweilen. Meine gewohnte Strategie ist es, auf Distanz zu bleiben und damit einer Menge unkontrollierbarer Gefühle aus dem Weg zu gehen. In psychiatrischen Kreisen gibt es Bezeichnungen für Menschen wie mich.
Ich schaltete das Autoradio ein und erwischte einen knisternden Sender aus Los Angeles, 450 Kilometer weiter südlich. Nach und nach begann ich mich an die Landschaft um mich herum zu gewöhnen. Der Highway 395 verläßt Carson City in südlicher Richtung, durch Minden und Gardnerville. Nördlich von Topaz hatte ich die Staatsgrenze überquert und befand mich nun in Ostkalifornien. Das Rückgrat des Bundesstaates bildet die steil aufragende Sierra Nevada Range, die hochgekippte Kante eines riesigen Verwerfungsblocks, der später von mehreren Gletschern abgeschliffen wurde. Zu meiner Linken lag der Mono Lake, der pro Jahr um einen halben Meter Umfang schrumpft, immer salzhaltiger wird und wenig Leben im und am Wasser zuläßt, außer Salzwasserkrabben und Vögel, die sich von ihnen ernähren. Irgendwo zu meiner Rechten, hinter einem dunkelgrünen Wald aus Jeffreykiefern, lag der Yosemite-Nationalpark mit seinen hohen Gipfeln, zerklüfteten Canons, Seen und tosenden Wasserfällen. Wiesen, die jetzt von einer dünnen Schneeschicht überzuckert waren, bildeten einst den Grund eines pleistozänischen Sees. Später im Frühling würden diese Wiesen von Wildblumen übersät sein. In den höheren Lagen war die winterliche Schneedecke noch nicht geschmolzen, doch die Pässe waren offen. Es war die Art von Landschaft, die von Leuten, die sich leicht beeindrucken lassen, »atemberaubend« genannt wird. Ich bin kein großer Natur-Fan, doch selbst ich war fasziniert genug, um »wow« zu murmeln, während ich mit 110 Stundenkilometern an einem Aussichtspunkt vorbeiraste.
Bei der potentiellen Klientin, zu der ich unterwegs war, handelte es sich um eine Frau namens Selma Newquist, deren Mann irgendwann in den letzten Wochen gestorben war. Dietz hatte früher einmal für sie gearbeitet, indem er ihr half, sich aus einer unerquicklichen ersten Ehe zu lösen. Ich hatte nicht alle Einzelheiten erfahren, aber er hatte durchblicken lassen, daß das, was er über die Finanzgeschäfte ihres Ehemannes ausgegraben hatte, ihr genug Macht gab, um sich aus der Beziehung zu befreien. Dann kam die zweite Ehe, und offensichtlich hatte der Tod ihres zweiten Ehemannes Fragen aufgeworfen, die seine Witwe beantwortet haben wollte. Sie hatte angerufen und Dietz engagieren wollen, doch weil er momentan außer Gefecht gesetzt war, hatte er mich empfohlen. Ich bezweifelte, daß Mrs. Newquist unter normalen Umständen eine Detektivin von der anderen Seite des Bundesstaates in Betracht gezogen hätte, aber meine Heimreise stand ohnehin an, und ich war in ihre Richtung unterwegs. Wie sich herausstellen sollte, war meine Verbindung zu Santa Teresa zweckdienlicher, als es zunächst den Anschein hatte. Dietz hatte sich für meine Zuverlässigkeit verbürgt und mir im Gegenzug versichert, daß Mrs. Newquist geleistete Arbeit gewissenhaft bezahlte. Es sprach nichts dagegen, lange genug haltzumachen, um mir anzuhören, was die Frau zu sagen hatte. Wenn sie mich dann nicht engagieren wollte, hätte ich lediglich eine halbstündige Unterbrechung meiner Fahrt investiert.
Ich erreichte Nota Lake (2356 Einwohner, 1314 m ü. d. M.) nach gut drei Stunden. Der Ort sah nach nicht viel aus, obwohl die Umgebung spektakulär war. Auf drei Seiten ragten Berge empor, und da noch Schnee lag, zeichneten sich die Gipfel in bauschigem Weiß vor den zahlreichen Haufen wölken am Himmel ab. Auf der schattigen Straßenseite sah ich übriggebliebene Schneeflächen und Eisklumpen, die sich vor den blattlosen Bäumen zusammengedrängt hatten. Die Luft duftete nach Kiefern, mit einem leicht süßlichen Nebengeruch. Der eisige Dampf, den ich einatmete, kam mir vor, als steckte ich den Kopf in eine halbleere Vierliterpackung Vanilleeis und saugte den zuckrigen Duft ein. Der See selbst war nicht mehr als drei Kilometer lang und anderthalb breit. Seine Oberfläche war glasig, und in ihr spiegelten sich die Granitzacken der Berge und die Umrisse von Weißtannen und Flußzedern, die auf den Hängen wuchsen. Ich hielt an einer Tankstelle und besorgte mir einen Plan der Stadt, die sich wie ein Fleck am östlichen Ende des Nota Lake ausnahm.
Die wichtigsten Geschäfte schienen sich in fünf Häuserblocks an der Hauptstraße aneinanderzureihen. Ich fuhr einmal alles ab und zählte zehn Tankstellen und zweiundzwanzig Motels. In Nota Lake gab es preiswerte Unterkünfte für die Skifahrer von den Mammoth Lakes. Der Ort hatte außerdem eine große Zahl von Fast-food-Restaurants zu bieten, darunter Burger King, Carl’s Jr., Jack in the Box, Kentucky Fried Chicken, Pizza Hut, ein Waffle House, ein International House of Pancakes, ein House of Donuts, ein Sizzler, ein Subway, ein Taco Bell und meinen persönlichen Lieblingsladen McDonald’s. Die weiteren Lokale mit Sitzplätzen unterteilten sich gleichmäßig in mexikanisch, Bar-B-Que und »Familienrestaurants«, was auf Massen plärrender Kleinkinder und ein Verbot harter Drinks schließen ließ.
Die Adresse, die ich bekommen hatte, lag am Ortsrand, zwei Blocks von der Hauptdurchgangsstraße entfernt in einer Siedlung, die aussah, als sei jedes Haus vom gleichen Bauunternehmer errichtet worden. Die Straßen des Viertels waren nach verschiedenen Indianerstämmen benannt – Shawnee, Iroquois, Cherokee, Modoc, Crow, Chippewa. Selma Newquist wohnte in einer Sackgasse namens Pawnee Way, und ihr Haus war das exakte Ebenbild des Nachbarhauses: Fachwerkverkleidung, ein Schindeldach, eine Veranda mit Fliegengittern am einen Ende und eine Doppelgarage am anderen. Ich parkte in der Einfahrt neben einem dunklen Ford. Aus Gewohnheit schloß ich meinen Wagen ab, stieg die zwei Stufen zur Veranda hinauf und klingelte – bim bam – wie eine Avon-Beraterin. Ich wartete eine Weile und versuchte es dann noch einmal.
Die Frau, die mir die Tür öffnete, war Ende Vierzig und von kleiner, kompakter Statur. Sie hatte braune Augen und kurzes, dunkles, zerzaustes Haar und trug eine rot-blau-gelb karierte Bluse über einem gelben Faltenrock.
»Hallo, ich bin Kinsey Millhone. Sind Sie Selma?«
»Nein, ich bin ihre Schwägerin Phyllis. Mein Mann Macon ist Toms jüngerer Bruder. Wir wohnen zwei Häuser weiter. Womit kann ich Ihnen helfen?«
»Ich bin mit Selma verabredet. Vermutlich hätte ich vorher anrufen sollen. Ist sie da?«
»Oh, entschuldigen Sie. Jetzt fällt es mir wieder ein. Sie hat sich gerade ein bißchen hingelegt, aber sie hat mir gesagt, daß Sie vorbeikommen würden. Sie sind sicher die Bekannte dieses Detektivs aus Carson City, mit dem sie telefoniert hat.«
»Genau«, bestätigte ich. »Wie geht es ihr denn?«
»Selma hat ihre schlechten Tage, und ich fürchte, heute ist einer davon. Tom ist heute vor sechs Wochen gestorben, und sie hat mich in Tränen aufgelöst angerufen. Ich bin, so schnell ich konnte, rübergekommen. Sie zitterte und war ganz verstört. Die Ärmste sieht aus, als hätte sie seit Tagen nicht geschlafen. Ich habe ihr ein Valium gegeben.«
»Ich kann auch später wiederkommen, wenn Sie das für besser halten.«
»Nein, nein. Sie ist bestimmt wach, und ich weiß, daß sie mit Ihnen sprechen will. Kommen Sie doch herein.«
»Danke.«
Ich folgte Phyllis durch die Diele und einen mit Teppich ausgelegten Flur entlang bis zu Selmas Schlafzimmer. Im Vorübergehen warf ich einen kurzen Blick durch die Türen rechts und links des Flurs. Ich gewann den Eindruck, daß alle Räume hoffnungslos überladen waren. Die Vorhänge und Bezugsstoffe im Wohnzimmer waren auf eine rosa-grüne Tapete abgestimmt, die mit Blumensträußen und pinkfarbenen Schleifen bedruckt war. Auf dem Couchtisch stand ein üppiges Bouquet pinkfarbener Seidenblumen. Der Velours-Teppichboden war blaßgrün und verströmte jenen intensiv chemischen Geruch, der darauf schließen ließ, daß er erst kürzlich verlegt worden war. Das Mobiliar im Eßzimmer war streng und unpersönlich: überall dunkles, glänzendes Holz, wobei der Raum im Verhältnis zu seiner Größe überladen war mit Möbelstücken. An den Fensterscheiben hatte sich ein weißer Kondensationsfilm angesammelt. Die Dämpfe von Zigarettenrauch und Kaffee vermischten sich zu einem penetranten Geruch.
Phyllis klopfte an die Tür. »Selma? Ich bin’s, Phyllis.«
Ich vernahm eine gemurmelte Antwort. Phyllis öffnete einen Spaltweit die Tür und spähte um den Türrahmen herum. »Du hast Besuch. Es ist eine Dame – diese Detektivin aus Carson City.«
Ich wollte sie schon korrigieren, überlegte es mir dann aber anders. Ich war nicht aus Carson City, und ich war mit Sicherheit keine Dame, aber was spielte das schon für eine Rolle? Durch den Türspalt konnte ich einen Blick auf die Frau im Bett werfen: ein Gewirr platinblonden Haares, eingerahmt von den Pfosten eines Himmelbetts.
Offenbar war ich hereingebeten worden, denn Phyllis trat einen Schritt zurück und sagte, als ich vorüberging, halblaut zu mir: »Ich muß jetzt nach Hause, aber Sie können jederzeit vorbeikommen, falls Sie etwas brauchen.«
Ich nickte ihr dankend zu, betrat das Schlafzimmer und schloß die Tür hinter mir. Die Vorhänge waren zugezogen und das Licht gedämpft. Zierkissen lagen rings um das Bett auf dem Teppich. Es gab Unmengen von Rüschen, und knallbunte Stoff- und Tapetenmuster bedeckten Wände, Fenster und die bauschige Bettwäsche. Das Motiv schien auf Berührung explodierende Rosen darzustellen.
»Es tut mir leid, wenn ich Sie störe«, begann ich, »aber Phyllis meinte, es würde Ihnen nichts ausmachen. Ich bin Kinsey Millhone.«
Selma Newquist setzte sich in ihrem ausgebleichten Flanellnachthemd auf und strich die Bettdecke glatt, wobei sie mich an eine Kranke erinnerte, die ihr Essenstablett erwartet. Nach einem Blick auf ihre Handrücken, die mit Leberflecken übersät und von Venen durchzogen waren, schätzte ich sie auf Ende Fünfzig. Ihr Teint ließ auf einen dunklen Typ schließen, doch ihr Haar war ein Wust weißblonder Locken und wirkte wie Zuckerwatte. Momentan hing der ganze Turm zur Seite und schien von Haarspray verklebt zu sein. Sie hatte sich die Augenbrauen mit einem rotbraunen Stift nachgezogen, aber Eyeliner oder Lidschatten waren schon lange abgegangen. Durch die Streifen in ihrem dicken Make-up konnte ich die fleckige Gesichtshaut sehen, die auf zuviel Sonneneinwirkung hinwies. Sie griff nach ihren Zigaretten, indem sie auf dem Nachttisch herumtastete, bis sie Päckchen und Feuerzeug gefunden hatte. Ihre Hand zitterte leicht, als sie sich die Zigarette anzündete. »Kommen Sie doch hier rüber«, sagte sie und zeigte auf einen Stuhl. »Nehmen Sie die Sachen runter und setzen Sie sich hierhin, damit ich Sie besser sehen kann.«
Ich nahm ihren gesteppten Morgenmantel vom Stuhl und legte ihn aufs Bett. Dann zog ich den Stuhl näher heran und setzte mich.
Sie starrte mich mit ihren geschwollenen Augen an, während ihr beim Sprechen ein dünner Rauchfaden aus dem Mund quoll. »Tut mir leid, daß Sie mich so sehen müssen. Normalerweise bin ich um diese Zeit schon auf, aber heute war ein harter Tag.«
»Aha«, sagte ich. Der Rauch senkte sich langsam auf mich herab wie die feinen Tröpfchen, wenn einen jemand angeniest hat.
»Hat Phyllis Ihnen Kaffee angeboten?«
»Bitte machen Sie sich keine Umstände. Sie ist wieder zu sich nach Hause gegangen, und ich brauche nichts, danke. Ich möchte nicht mehr Zeit in Anspruch nehmen als nötig.«
Sie sah mich ausdruckslos an. »Ist doch egal«, sagte sie. »Ich weiß nicht, ob Sie je einen Menschen verloren haben, der Ihnen nahestand, aber es gibt Tage, da fühlt man sich, als bekäme man die Grippe. Der ganze Körper tut einem weh, und der Kopf ist so verstopft, daß man nicht mehr richtig denken kann. Ich bin froh, daß ich Gesellschaft habe. Man lernt jede Ablenkung zu schätzen. Seinen Gefühlen kann man nicht aus dem Weg gehen, aber eine kurzfristige Erleichterung nützt auch schon etwas.« Sie neigte dazu, sich beim Sprechen die Hand vor den Mund zu halten. Offenbar war ihr die Verfärbung an ihren beiden Schneidezähnen peinlich, die, wie ich nun sah, auffallend grau waren. Vielleicht war sie als Kind gestürzt oder hatte Medikamente einnehmen müssen, die den Zahnschmelz dunkel färbten. »Woher kennen Sie Robert Dietz?« fragte sie.
»Ich habe ihn selbst vor ein paar Jahren engagiert, damit er mich beschützt. Jemand hat mein Leben bedroht, und Dietz hat dann als mein Leibwächter gearbeitet.«
»Was macht sein Knie? Es hat mir leid getan, zu hören, daß er das Bett hüten muß.«
»Das wird bald verheilt sein. Er ist ja zäh. Außerdem ist er schon wieder auf den Beinen.«
»Hat er Ihnen von Tom erzählt?«
»Nur, daß Sie erst seit kurzem verwitwet sind. Weiter weiß ich nichts.«
»Dann kläre ich Sie mal auf, obwohl ich eigentlich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll. Womöglich halten Sie mich ja für verrückt, aber ich kann Ihnen versichern, daß ich das nicht bin.« Sie nahm einen Zug von ihrer Zigarette und seufzte eine Handvoll Rauch aus. Ich erwartete Tränen, während sie erzählte, doch die Geschichte rollte in valiumbedingter Gelassenheit ab. »Tom hatte einen Herzinfarkt. Er war auf der Straße unterwegs ... etwa zehn Kilometer von hier entfernt. Es war zehn Uhr abends. Er muß es früh genug gemerkt haben, um am Straßenrand anzuhalten. Ein Officer der Highway Patrol namens James Tennyson – ein Freund von uns – erkannte Toms Geländewagen, sah, daß er die Warnblinkanlage eingeschaltet hatte, und hielt an, um nachzusehen, ob er Hilfe brauchte. Tom war über dem Lenkrad zusammengesunken. Ich war auf einer kirchlichen Versammlung, und als ich nach Hause kam, standen zwei Streifenwagen in der Einfahrt. Sie wissen doch, daß Tom als Detective im Sheriffbüro gearbeitet hat?«
»Das wußte ich nicht.«
»Ich hatte ständig Angst, daß er eines Tages bei seiner Arbeit ums Leben kommen würde. Nie hätte ich gedacht, daß er auf diese Weise stirbt.« Sie hielt inne, zog an ihrer Zigarette und benutzte den Rauch als eine Art Interpunktion.
»Das muß schwer gewesen sein.«
»Es war entsetzlich«, sagte sie. Erneut führte sie die Hand vor ihren Mund, während ihr die Tränen in die Augen stiegen. »Ich kann immer noch nicht daran denken. Ich meine, soweit ich weiß, hatte er nie irgendwelche Symptome. Oder sagen wir mal so: Falls er welche hatte, hat er mir nichts davon erzählt. Er litt an hohem Blutdruck, und der Arzt hat ihn bedrängt, das Rauchen aufzugeben und Sport zu treiben. Sie wissen ja, wie Männer sind. Er hat alles abgetan und einfach so weitergemacht, wie es ihm paßte.« Sie legte die Zigarette beiseite, damit sie sich die Nase putzen konnte. Warum spähen die Leute eigentlich immer in ihre Taschentücher, um nachzusehen, was ihnen ihr lärmendes Schneuzen eingebracht hat?
»Wie alt war er?«
»Kurz vor dem Ruhestand. Dreiundsechzig«, antwortete sie. »Aber er hat nie auf sich geachtet. Ich glaube, die einzige Phase, in der er in Form war, war während seiner Armeezeit und direkt danach, als er auf der Polizeischule war und als Hilfssheriff eingestellt wurde. Danach gab’s während der Arbeit nur noch Koffein und Fast food und Bourbon, wenn er nach Hause kam. Er war kein Alkoholiker – verstehen Sie mich nicht falsch –, aber er trank abends gern einen Cocktail. In letzter Zeit hatte er Schlafstörungen. Er ist immer im Haus umhergeschlichen. Ich habe gehört, wie er auf war, um zwei, drei, fünf Uhr morgens, und Gott weiß was gemacht hat. In den letzten Monaten hat er immer mehr abgenommen. Der Mann aß kaum noch, er rauchte nur, trank Kaffee und starrte aus dem Fenster in den Schnee hinaus. Manchmal dachte ich, er würde bald die Nerven verlieren, aber das kann auch nur meine Einbildung gewesen sein. Er hat nie ein Wort gesagt.«
»Klingt, als wäre er irgendwie unter Anspannung gestanden.«
»Genau. Das dachte ich auch. Tom war eindeutig gestreßt, aber ich weiß nicht, warum, und das macht mich wahnsinnig.« Sie griff nach ihrer Zigarette, nahm einen tiefen Zug und streifte die Asche dann in einem Keramikaschenbecher ab, der wie eine Hand geformt war. »Jedenfalls habe ich deswegen Dietz angerufen. Ich finde, ich habe ein Recht darauf, es zu wissen.«
»Ich möchte nicht unhöflich klingen, aber spielt das wirklich eine Rolle? Was auch immer es war, jetzt läßt sich doch nichts mehr daran ändern, oder?«
Sie wandte kurz den Blick von mir ab. »Das habe ich mir auch schon gesagt. Manchmal denke ich, ich kannte ihn im Grunde gar nicht richtig. Wir sind ziemlich gut miteinander ausgekommen, und er hat immer für mich gesorgt, aber er war nicht der Typ Mann, der gern Rechenschaft über sich selbst ablegt. In seinen letzten beiden Wochen war er manchmal stundenlang weg, und wenn er zurückkam, sagte er kein Wort. Ich habe ihn nicht gefragt, wo er war. Ich hätte es wohl tun können, aber er hatte irgend etwas an sich, was mich abhielt. Er wurde wütend, wenn ich ihn bedrängte, also habe ich gelernt, auf Distanz zu bleiben. Aber ich halte nichts davon, bis ans Ende meines Lebens rätseln zu müssen. Ich weiß nicht einmal, wohin er an jenem Abend unterwegs war. Er hat zu mir gesagt, er bleibe daheim, aber irgend etwas muß dazwischengekommen sein.«
»Er hat Ihnen keine Nachricht hinterlassen?«
»Nichts.« Sie legte ihre Zigarette auf den Aschenbecher und griff nach einer Puderdose unter dem Kopfkissen. Dann klappte sie den Deckel auf und musterte ihr Gesicht im Spiegel. Sie berührte ihre Schneidezähne, als wollte sie einen Fleck entfernen. »Ich sehe gräßlich aus«, sagte sie.
»Keine Sorge. Sie sehen gut aus.«
Sie rang sich ein zaghaftes Lächeln ab. »Es ist wohl ohnehin sinnlos, eitel zu sein. Seit Tom weg ist, kümmert es niemanden mehr, mich eingeschlossen, wenn ich ehrlich bin.«
»Darf ich Sie etwas fragen?«
»Bitte.«
»Ich möchte nicht aufdringlich sein, aber waren Sie glücklich verheiratet?«
Mit einem kurzen, verlegenen Lachen klappte sie die Puderdose zu und schob sie wieder in ihr Versteck. »Ich auf jeden Fall. Wie es für ihn war, weiß ich nicht. Es war nicht seine Art zu klagen. Er nahm das Leben mehr oder weniger so, wie es kam. Ich war schon einmal verheiratet... mit einem gewalttätigen Mann. Und ich habe einen Sohn aus dieser Ehe. Er heißt Brant.«
»Aha. Und wie alt ist er?«
»Fünfundzwanzig. Brant war zehn, als ich Tom kennenlernte, also hat Tom ihn im Grunde aufgezogen.«
»Und wo lebt Brant?«
»Hier in Nota Lake. Er arbeitet als Sanitäter bei der Feuerwehr. Seit der Beerdigung wohnt er bei mir, aber er hat eine eigene Wohnung im Ort«, sagte sie. »Ich habe ihm erzählt, daß ich mit dem Gedanken spiele, jemanden zu engagieren. Seiner Meinung nach ist es sinnlos, aber er wird sicher mithelfen, so gut er kann.« Ihre Nase färbte sich rötlich, doch dann gewann sie wieder die Kontrolle über sich.
»Sie und Tom waren wie lange verheiratet, vierzehn Jahre?«
»Knapp zwölf. Nach meiner Scheidung wollte ich nichts überstürzen. Die meiste Zeit verstanden wir uns gut, aber vor kurzem begann sich alles zum Schlechten zu wenden. Ich meine, er tat seine Pflicht, aber mit dem Herzen war er nicht bei der Sache. In letzter Zeit hatte ich das Gefühl, daß er etwas verbirgt. Ich weiß nicht, er war so... irgendwie verschlossen. Warum war er an diesem Abend draußen auf der Landstraße? Ich meine, was hat er da gemacht? Was war so heikel, daß er es mir nicht erzählen konnte?«
»Könnte es ein Fall gewesen sein, an dem er gearbeitet hat?«
»Möglich wäre das schon.« Sie dachte darüber nach und drückte ihre Zigarette aus. »Ich meine, es hätte etwas mit seinem Beruf zu tun haben können. Tom hat nur selten ein Wort über die Arbeit verloren. Andere Männer – einige der Hilfssheriffs – haben in Gesellschaft oft Geschichten erzählt, aber Tom nicht. Er nahm seinen Beruf sehr ernst, fast schon zu ernst.«
»Jemand aus dem Präsidium muß doch seine Arbeit übernommen haben. Haben Sie mit dem Betreffenden gesprochen?«
»Sie sagen ›Präsidium‹, als wäre es eine Art Großstadtrevier. Nota Lake ist zwar der Sitz der Kreisverwaltung, aber das hat nicht viel zu sagen. Es gab nur zwei Ermittlungsbeamte, Tom und seinen Partner Rafer. Mit ihm habe ich gesprochen – aber nicht, daß ich irgend etwas erfahren hätte. Er war freundlich. Rafer ist oberflächlich betrachtet immer recht freundlich«, fuhr sie fort. »Aber trotz seines vielen Geplappers ist es ihm gelungen, sehr wenig zu sagen.«
Ich musterte sie einen Augenblick und unterzog das Gespräch meinem Testprogramm für Ungereimtheiten, um festzustellen, was hängenblieb. Mir kam nichts davon abwegig vor, aber ich begriff immer noch nicht, was sie wollte. »Glauben Sie, daß irgend etwas an Toms Tod verdächtig ist?«
Die Frage schien sie zu verblüffen. »Ganz und gar nicht«, erwiderte sie, »aber er hat über irgend etwas nachgegrübelt, und ich will wissen, was das war. Ich weiß, das klingt vage, aber es läßt mir keine Ruhe, wenn ich daran denke, daß er mir etwas verschwiegen hat, das ihn offenbar so stark belastet hat. Ich bin ihm eine gute Ehefrau gewesen, und ich will nicht im ungewissen bleiben, jetzt, wo er gestorben ist.«
»Was ist mit seinen persönlichen Sachen? Haben Sie die durchsucht?«
»Der Leichenbeschauer hat mir die Gegenstände gegeben, die Tom bei sich hatte, als er starb, aber das war nur das Übliche. Uhr, Brieftasche, etwas Kleingeld in der Hosentasche und sein Ehering.«
»Und was ist mit seinem Schreibtisch? Hat er hier im Haus ein Arbeitszimmer gehabt?«
»Ja, schon, aber da wüßte ich gar nicht, wo ich anfangen sollte. Sein Schreibtisch ist ein einziges Chaos. Überall stapeln sich Papiere. Es könnte ganz offen vor mir liegen, was auch immer es ist. Ich kann mich nicht dazu überwinden nachzusehen, ich kann die Sache aber auch nicht ruhen lassen. Damit würde ich Sie gern beauftragen... daß Sie versuchen herauszufinden, was ihn so beunruhigt hat.«
Ich zögerte. »Versuchen kann ich es. Aber es würde mir weiterhelfen, wenn Sie sich etwas konkreter äußern würden. Sie haben mir nicht viele Anhaltspunkte gegeben.«
Selmas Augen füllten sich mit Tränen. »Ich habe mir das Hirn zermartert und habe trotzdem keine Ahnung. Bitte tun Sie einfach irgendwas. Ich kann sein Arbeitszimmer nicht einmal betreten, ohne mich in Tränen aufzulösen.«
O Mann, das hatte mir gerade noch gefehlt – ein Auftrag, der nicht nur unklar war, sondern mir auch noch aussichtslos erschien. Ich hätte mich auf der Stelle davonmachen sollen, doch ich tat es nicht. Was ich noch sehr bedauern sollte.