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Den Rest des Nachmittags verbrachte ich damit, mich durch Tom Newquists unerträglich schlampiges Arbeitszimmer zu wühlen. Ich überspringe die ermüdende Liste von Unterlagen, die ich durchsah, Akten, die ich sortierte, Schubladen, die ich ausleerte, und Quittungen, die ich nachprüfte, um irgendeinen Hinweis auf seine Probleme zu finden. In meinem Bericht gegenüber Selma übertrieb ich das Ausmaß meiner Bemühungen (leicht), damit sie zu schätzen wußte, was man heutzutage für fünfzig Dollar die Stunde bekam. Binnen zweier Stunden hatte ich es geschafft, mich durch die Hälfte dieses Durcheinanders zu kämpfen. Was auch immer Tom belastet hatte, er hatte – jedenfalls bis jetzt – ausgesprochen wenig an Hinweisen hinterlassen.

Offenbar bewahrte er zwanghaft jeden Zettel auf, aber wie auch immer sein Ordnungssystem funktionierte, der Haufen, den er zurückgelassen hatte, war bestenfalls chaotisch zu nennen. Sein Schreibtisch war ein Wirrwarr von Aktendeckeln, Briefen, bezahlten und unbezahlten Rechnungen, Einkommensteuerformularen, Zeitungsartikeln und Unterlagen über Fälle, an denen er arbeitete. Die Schichten waren dreißig bis vierzig Zentimeter dick, und manche Stapel kippten bereits seitlich in die anderen Stapel hinein. Vermutlich wußte er, wo er fand, was er jeweils suchte. Dennoch war die Aufgabe, vor der ich stand, gewaltig. Vielleicht hatte er sich eingebildet, er hätte das Durcheinander im Handumdrehen sortiert und gebändigt. Wie die meisten Schlamper glaubte er wahrscheinlich, das Kuddelmuddel sei nur vorübergehend und er stünde kurz davor, all seine Papiere ordentlich zu sortieren. Leider hatte ihn der Tod überrascht, und nun lag es an mir, aufzuräumen. Ich nahm mir vor, sobald ich nach Hause kam, meine Unterwäsche zu sortieren.

In der untersten Schublade seines Schreibtischs fand ich einiges von seinen Utensilien – Handschellen, Gummiknüppel und die Taschenlampe, die er dabeigehabt haben mußte. Vielleicht hätte sein Bruder Macon die Sachen gern für sich. Ich würde Selma später danach fragen.

Ich durchsuchte zwei große Umschläge voller Plunder und nahm mir die Freiheit, bezahlte Strom- und Gasrechnungen von vor zehn Jahren wegzuwerfen. Eine zufällige Auswahl bewahrte ich auf, für den Fall, daß Selma das Haus verkaufen wollte und potentiellen Käufern die durchschnittlichen Unterhaltskosten nachweisen mußte. Ich ließ die Tür zum Arbeitszimmer offen und führte nebenbei eine Unterhaltung mit Selma in der Küche, während ich die Spreu vom Weizen zu trennen versuchte. »Ich hätte gern ein Foto von Tom.«

»Wozu?«

»Weiß ich noch nicht. Es erscheint mir nur ganz praktisch.«

»Nehmen Sie eines von denen an der Wand am Fenster.«

Ich blickte über die Schulter und entdeckte mehrere Schwarzweißfotos von ihm in verschiedenen Umgebungen. »Gut«, sagte ich. Ich legte den Papierstapel beiseite, den ich gerade sortierte, und ging auf die nächstgelegenen Bilder zu. Im größten Rahmen waren ein nicht lächelnder Tom Newquist und ein gewisser Sheriff Bob Staffer gemeinsam bei etwas abgebildet, das wie ein Festessen aussah. Mehrere Paare saßen an einem Tisch, der mit einem stattlichen Tafelaufsatz und der Nummer zwei auf einer Karte in der Mitte geschmückt war. Staffer hatte das Foto in der rechten unteren Ecke signiert: »Für den verflucht besten Fahnder in der ganzen Branche! Wie immer, Bob Staffer.« Datiert war es vom April vorigen Jahres. Ich nahm das gerahmte Foto von der Wand und hielt es gegen das nachlassende Licht, das zum Fenster hereinkam.

Tom Newquist war ein jugendlich aussehender Dreiundsechzig-jähriger mit kleinen Augen, einem runden, sanften Gesicht und dunklem, sich lichtendem Haar, das ganz kurz geschnitten war. Sein Gesichtsausdruck war der gleiche, den ich seit Urzeiten von anderen Polizisten kannte – neutral, wachsam, intelligent. Es war ein Gesicht, das nichts über den Mann dahinter verriet. Wurde man als Verdächtiger verhört, so durfte man sich nicht täuschen – dieser Mann würde unangenehme Fragen stellen, und er gäbe einem keinen Hinweis darauf, welche Antworten einen von seiner Aufmerksamkeit erlösen würden. Machte man einen Witz, käme als Reaktion ein dünnes Lächeln. Unterstellte man ihm Gutmütigkeit, bräche sein Temperament erstaunlich heftig aus ihm heraus. Wurde man als Zeuge befragt, bekäme man eine andere Seite von ihm zu sehen – vorsichtig, mitfühlend, geduldig, gewissenhaft. Wenn er wie die anderen Polizeibeamten aus meinem Bekanntenkreis war, so konnte er unerbittlich, sarkastisch und gnadenlos sein – alles im Interesse der Wahrheitsfindung. Egal in welchem Umfeld, die Worte »impulsiv« und »leidenschaftlich« kämen einem wohl kaum in den Sinn. Auf privater Ebene mochte er ganz anders sein, und ein Teil meiner Aufgabe hier war, herauszufinden, worin diese Unterschiede wohl bestanden. Ich fragte mich, was er an Selma gefunden hatte. Sie wirkte zu grell und zu emotional für einen Mann, der sich gut verstellen konnte.

Ich sah auf und stellte fest, daß sie in der Tür stand und mich beobachtete. Obwohl ihre Kleider teuer aussahen, hatte ihre Erscheinung etwas unbeschreiblich Billiges. Ihr Haar war bis zur Struktur einer Puppenperücke gebleicht worden, und ich fragte mich, ob ich wohl aus der Nähe einzelne Häufchen wie die Büschel von einer Haartransplantation ausmachen könnte. Ich hielt das Bild in die Höhe. »Kann ich das mitnehmen? Ich würde gern einen Ausschnitt und ein paar Abzüge davon machen lassen. Wenn ich seine Aktivitäten die letzten paar Monate zurückverfolgen soll, könnte das Gesicht dort etwas auslösen, wo ein Name zu nichts führt.«

»Einverstanden. Ich hätte vielleicht auch gern eines. Das ist ein schönes Bild von ihm.«

»Er hat nicht viel gelächelt?«

»Nicht oft. Erst recht nicht bei gesellschaftlichen Anlässen. Im Kreis seiner Freunde wurde er lockerer... bei den anderen Hilfssheriffs. Wie kommen Sie denn voran?«

Ich zuckte mit den Achseln. »Bis jetzt habe ich nichts als Plunder gefunden.« Ich wandte mich wieder den Papierbergen vor mir zu. »Schade, daß Sie nicht diejenige waren, die sich um die Rechnungen gekümmert hat.«

»Ich habe kein Talent für Zahlen. Mathe habe ich schon in der Schule gehaßt«, sagte sie. Nach einem Moment fuhr sie fort: »Langsam bekomme ich Schuldgefühle, weil ich Sie in seinen Sachen herumschnüffeln lasse.«

»Zerbrechen Sie sich nicht darüber den Kopf. Das ist mein Beruf. Ich bin Diagnostikerin, wie ein Gynäkologe, wenn Sie auf dem Untersuchungsstuhl liegen und Ihr Po in der Luft hängt. Ich habe kein persönliches Interesse. Ich sehe nur nach und betrachte, was da ist.«

»Er war ein anständiger Mann. Das weiß ich.«

»Das glaube ich Ihnen«, sagte ich. »Womöglich kommt nichts dabei heraus, dann fühlen Sie sich auch besser. Sie haben ein Recht auf Ihren Seelenfrieden.«

»Brauchen Sie Hilfe?«

»Eigentlich nicht. Im Moment bahne ich mir erst mal einen Weg. Jedenfalls werde ich bald Schluß für heute machen. Ich komme morgen wieder und versuche es noch einmal.« Ich stopfte eine Handvoll Kataloge und Werbeprospekte in die Mülltüte. Dann sah ich erneut auf, da ich spürte, daß sie immer noch in der Tür stand.

»Würden Sie mit mir zu Abend essen? Brant arbeitet, also wären wir nur zu zweit.«

»Lieber nicht, aber trotzdem danke. Vielleicht morgen. Ich muß noch ein paar Anrufe erledigen, und dann wollte ich nur schnell einen Happen essen und früh schlafen gehen. Morgen vormittag müßte ich hier fertig werden. Irgendwann sollten wir die Telefonrechnungen durchgehen. Das ist ein enormer Aufwand, deshalb schiebe ich es bis zum Schluß auf. Wir setzen uns nebeneinander und halten fest, wie viele Telefonnummern Sie kennen.«

»Na gut«, sagte sie zögerlich. »Dann lasse ich Sie jetzt mal weiterarbeiten.«

Als ich meine Arbeit für diesen Tag beendet hatte, gab mir Selma einen Hausschlüssel, versicherte mir jedoch, daß sie die Türen meist unversperrt ließ. Sie erklärte mir, daß sie oft weg sei, aber wolle, daß ich auch in ihrer Abwesenheit jederzeit freien Zutritt zum Haus hätte. Ich sagte ihr, daß ich Toms persönliche Dinge durchsehen wolle, wogegen sie nichts einzuwenden hatte. Ich wollte ja nicht, daß sie mich eines Tages unvorbereitet dabei erwischte, wie ich seine Kleider durchwühlte.

Als ich ging, war es völlig dunkel, und die Straßenlampen trugen wenig dazu bei, mein Gefühl der Isoliertheit zu vertreiben. Der Verkehr durch den Ort war lebhaft. Die Menschen fuhren zum Essen nach Hause, und die Geschäfte schlossen nach und nach. In den Restaurants ging der Betrieb los, und die Türen der Bars standen offen, um überflüssigen Lärm und Zigarettenrauch hinauszulassen. Ein paar abgehärtete Jogger hatten sich mit einzelnen Hundebesitzern, deren Schützlinge hinter Büschen Erleichterung suchten, auf die Gehsteige gewagt.

Wieder auf der Landstraße, wurde mir bewußt, auf welch weiten Flächen keinerlei menschliche Behausungen zu sehen waren. Am Tag vermittelten die Zäune und vereinzelten Nutzbauten den Eindruck, die Landschaft sei kultiviert worden. Doch bei Nacht waren die Bergketten pechschwarz, und die bleiche Scheibe des Mondes betupfte die schneebedeckten Gipfel nur ein wenig mit Silber. Die Temperatur war gefallen, und ich roch die finstere Feuchtigkeit des Sees. Einen Moment lang sehnte ich mich nach Santa Teresa mit seinen roten Ziegeldächern, den Palmen und dem tosenden Pazifik.

Ich bremste ab, als ich das Schild »Nota Lake Cabins« sah. Vielleicht würden mich ein knisterndes Feuer und eine heiße Dusche aufmuntern. Ich parkte meinen Wagen auf dem kleinen Platz neben der Rezeption. Cecilia Boden hatte auf dem Weg zu den Hütten entlang ein paar Niedervoltlampen installieren lassen, kleine pilzförmige Schirme, die mattgelbe Kreise auf die Zedernspäne warfen. An der Tür zur Hütte hing eine kleine, leuchtende Lampe. Ich hatte kein Licht für mich angelassen, da ich (womöglich) gespürt hatte, daß die Geschäftsleitung eine derartige Verschwendungssucht nicht gern sähe. Ich schloß auf, ging hinein und tastete nach dem Lichtschalter. Die Deckenbeleuchtung ergoß ihren matten Vierzigwattschein. Ich ging zum Bett hinüber und schaltete die Nachttischlampe ein, die weitere vierzig Watt beisteuerte. Der Digitalwecker blinkte immer wieder 12:00, was auf einen kurzen Stromausfall im Laufe des Tages schließen ließ. Ich sah auf meine Uhr und korrigierte die Zeit auf den momentanen Stand: 06:22 Uhr.

Das Zimmer wirkte trist und kalt. Es roch penetrant nach früheren Feuern und der Feuchtigkeit, die durch die Fußbodendielen von unten in die Hütte drang. Ich musterte das Holz auf dem Rost.

Daneben lag ein Stapel Zeitungspapier, um das Feuer zu entfachen. Natürlich gab es keinen Gasanzünder, und ich nahm an, daß es länger dauern würde, das Feuer zum Brennen zu bringen, als ich Zeit hätte, es zu genießen. Ich ging im Zimmer herum und zog die Vorhänge an den Fenstern zu. Dann schlüpfte ich aus den Kleidern und stieg in die Dusche. Ich bin keine Wasserverschwenderin, aber trotzdem ließ das warme Wasser nach, bevor meine vier Minuten um waren. Einen Sekundenbruchteil, bevor das kalte Wasser mit voller Wucht auf mich herunterprasselte, wusch ich mir den letzten Rest Shampoo aus den Haaren. Langsam kam mir das Ganze wie ein Erlebnisurlaub in der Wildnis vor.

Wieder angezogen, schloß ich die Hütte ab und ging zur Straße zurück, die ich eilig entlangmarschierte, bis ich das Lokal erreichte. Das Rainbow Café war etwa doppelt so groß wie ein Wohnanhänger. Die Einrichtung bestand aus einer Resopaltheke mit acht Hockern an der Längsseite des Lokals und acht mit Kunstleder gepolsterten Nischen an den Wänden. Zu sehen waren eine Kellnerin, eine Schnellköchin und ein Hilfskellner. Ich bestellte mir Frühstück zum Abendessen. Es gibt nichts Tröstlicheres als Rührei am Abend; weiches, heiteres Gelb, von Butter glänzend und mit Pfeffer gesprenkelt. Ich aß drei Streifen knusprigen Speck, einen Berg Kartoffelbrei mit Röstzwiebeln und zwei Scheiben Roggentoast, in Butter getränkt und von Marmelade triefend. Ich hätte beinahe laut aufgestöhnt, als sich die Aromen in meinem Mund vermischten.

Auf dem Rückweg zur Hütte machte ich am Münztelefon vor dem Büro halt. Die Vorrichtung bestand aus einer altmodischen Zelle aus Glas und Metall, an der die ursprüngliche Falttür fehlte. Ich rief auf Kreditkarte bei Dietz an. »Hey, Babe! Wie geht’s dem Patienten?« sagte ich, als er sich meldete.

»Prima. Und dir?«

»Nicht schlecht. Momentan auf Vorschuß.«

»In Nota Lake?«

»Wo sonst? Ich stehe in einer Telefonzelle in den Kiefernwäldern«, antwortete ich.

»Wie läuft’s?«

»Ich fange gerade erst an, daher ist es schwer abzuschätzen. Selma hat dir ja bestimmt schon von Tom erzählt.«

»Nur daß sie den Eindruck hatte, ihm ginge etwas im Kopf herum. Klingt vage.«

»Und wie! Hast du ihn je kennengelernt?«

»Nö. Offen gestanden habe ich sie auch über fünfzehn Jahre nicht gesehen. Wie hält sie sich denn?«

»Sie ist in guter Verfassung. Bestürzt zwar, aber wer wäre das nicht in ihrer Situation?«

»Womit willst du anfangen?«

»Wie üblich. Heute habe ich mich damit beschäftigt, seinen Schreibtisch zu durchsuchen. Morgen fange ich an, mit seinen Freunden und Bekannten zu sprechen, dann sehen wir ja, was dabei herauskommt. Ich gebe mir Zeit bis Donnerstag, dann weiß ich, wie der Hase läuft. Ich wäre gern am Wochenende zu Hause, falls sich dieser Auftrag nicht noch in die Länge zieht. Was macht dein Knie?«

»Dem geht’s viel besser. Die Krankengymnastin ist zwar eine Landplage, aber ich gewöhne mich langsam daran. Deine Sandwiches fehlen mir.«

»Lügner.«

»Nein, das ist mein Ernst. Sobald du dort fertig bist, mußt du unbedingt wieder herkommen.«

»Hmmm. Nein danke. Ich will in meinem eigenen Bett schlafen. Und ich habe Henry seit einem Monat nicht gesehen.« Henry Pitts war mein sechsundachtzigjähriger Vermieter. Wenn der Rentnerbund je einen Kalender mit männlichen Pin-ups über Achtzig machen würde, käme er aufs Titelblatt.

»Tja, überleg’s dir«, sagte Dietz.

»Klar, unbedingt. Hör mal, meine Florence-Nightingale-Phase ist vorüber. Ich habe einen Auftrag zu erledigen. Außerdem muß ich jetzt Schluß machen. Es ist verflucht kalt hier.«

»Na gut, einverstanden. Paß auf dich auf.«

»Gleichfalls«, sagte ich.

Ich wählte Henrys Nummer und erwischte ihn gerade noch, bevor er zur Tür hinausging. »Wohin willst du denn?« fragte ich.

»Zu Rosie’s. Sie und William brauchen heute Hilfe mit den Abendgästen«, antwortete er. Rosie war die Besitzerin der Kneipe, die einen halben Block von meiner Wohnung entfernt lag. Sie und Henrys älterer Bruder William hatten letztes Thanksgiving geheiratet, und jetzt wurde William im Handumdrehen zum Wirt.

»Und was ist mit dir? Von wo aus rufst du an?«

Ich wiederholte meine Geschichte und informierte ihn über meine momentane Lage. Ich nannte ihm sowohl Selmas Nummer als auch die Nummer von Nota Lake Cabins, falls er mich erreichen mußte. Wir plauderten noch ein Weilchen, bevor er wegmußte. Nachdem er aufgelegt hatte, rief ich noch in Lonnies Büro an und hinterließ eine Nachricht für Ida Ruth, der ich ebenfalls meinen Aufenthaltsort und Selmas Nummer nannte, falls sie mich aus irgendeinem Grund sprechen mußte. Eine andere Methode, um in Verbindung zu bleiben, fiel mir nicht ein. Nachdem ich aufgelegt hatte, steckte ich die Hände in die Jackentaschen und hoffte vergebens auf Schutz vor dem Wind. Der Gedanke, den Abend in der Hütte zu verbringen, erschien mir deprimierend. Mit nur zwei Vierzigwattbirnen wäre selbst Lesen anstrengend. Ich stellte mir vor, wie ich zusammengekauert und blinzelnd unter dieser feucht aussehenden Steppdecke lag und die Spinnen aus dem Holzstoß gekrochen kamen, sobald meine Wachsamkeit nachließ. Es war eine trostlose Vorstellung, wenn man bedachte, daß ich lediglich ein Buch über die Identifizierung von Reifen- und Fußspuren dabeihatte.

Ich ging zur Motelrezeption hinüber und spähte durch die Glastür hinein. Es brannte Licht, doch Gecilia war nirgends zu sehen. Auf einem handgeschriebenen Schild stand BITTE KLINGELN. Ich marschierte hinein, ignorierte die Tischglocke und klopfte an die Tür mit der Aufschrift DIREKTION. Kurz darauf erschien Cecilia in einem pinkfarbenen Chenille-Bademantel und flauschigen pinkfarbenen Hausschuhen. »Ja?«

»Hallo, Cecilia. Kann ich Sie kurz sprechen?«

»Stimmt etwas nicht mit dem Zimmer?«

»Nein, nein. Alles in Ordnung. Mehr oder weniger. Ich wollte Sie fragen, ob Sie ein paar Minuten erübrigen könnten, um mit mir über Ihren Bruder zu sprechen.«

»Was ist mit ihm?«

»Hat Selma Ihnen erzählt, warum ich hier in Nota Lake bin?«

»Sie hat nur gesagt, daß sie Sie engagiert hat. Ich weiß nicht einmal, was Sie von Beruf sind.«

»Tja, also ich führe für die California Fidelity Insurance Ermittlungen durch. Selma macht sich Gedanken wegen der Haftung in bezug auf Toms Tod.«

»Haftung wofür?«

»Gute Frage. Leider darf ich mich nicht näher dazu äußern. Wissen Sie, offiziell war er nicht im Dienst, aber sie glaubt, er sei an dem Abend, als er starb, womöglich in einer dienstlichen Sache unterwegs gewesen. In diesem Fall kann sie Ansprüche geltend machen.« Ich erwähnte nicht, daß Tom Newquist gar nicht bei der CFI versichert war oder daß der Laden mich vor etwa anderthalb Jahren gefeuert hatte. Ich hätte ihr sogar den eingeschweißten Mitarbeiterausweis mit dem Foto gezeigt, den ich nach wie vor besaß. Vorne drauf prangte das Firmenlogo der CFI und darunter ein Foto von mir, das aussah, als würde es der Grenzschutz an der Wand hängen lassen, um es immer parat zu haben.

Sie starrte mich ausdruckslos an, und einen beklemmenden Augenblick lang fragte ich mich, ob sie kürzlich erst aus irgendeiner undurchsichtigen Kreisverwaltungsbehörde in den Ruhestand getreten war. Sie machte den Eindruck, als grübelte sie über sämtliche Regeln und Vorschriften nach, um zu ergründen, welche an dem betreffenden Abend gegolten hatten. Ich war versucht, meine Angaben weiter auszuschmücken, fürchtete dann aber, mich zu weit vorzuwagen. Beim Lügen ist es am besten, wenn man wie eine Libelle über die Oberfläche hüpft. Je mehr man zu Beginn behauptet hat, desto mehr muß man später widerrufen, falls sich herausstellt, daß man wirklich ins Fettnäpfchen getreten ist. Sie hielt die Tür auf, um mich durchzulassen. »Kommen Sie lieber rein. Ich muß Ihnen allerdings sagen, daß das ein schmerzliches Thema ist.«

»Das kann ich mir vorstellen, und es tut mir leid, wenn ich Sie belästige. Macon habe ich auch schon kennengelernt.«

»Der taugt nichts«, erklärte sie. »Wir können uns nicht leiden. Natürlich hat Selma in meinen Augen auch nie zur Familie gehört, und ich wette, sie sieht es umgekehrt genauso.«

Cecilia Bodens Wohnung war mit meiner Hütte vergleichbar, also trist, schwach beleuchtet und ein wenig schäbig. Der Hauptunterschied bestand darin, daß meine Unterkunft eiskalt war, während sie die Raumtemperatur bei sich irgendwo auf der Stufe »Vorglühen« zu halten schien. Der Fußboden war mit Linoleum bedeckt, das einem Holzparkett nachgebildet war. Sie hatte kieferngetäfelte Wände und zu dick gepolsterte Sitzmöbel mit veilchenfarbenen Häkelüberwürfen. Ein großer Fernseher beherrschte die eine Ecke, und sämtliche Möbel waren auf ihn ausgerichtet. Cecilias Lesebrille lag auf der Armlehne des Sofas, das dem Fernseher am nächsten stand. Ich sah, daß sie gerade dabei war, das Kreuzworträtsel in der Lokalzeitung zu lösen. Dies tat sie mit Kugelschreiber und ohne sichtbare Korrekturen. Ich revidierte meine Meinung von ihr nach oben. Ich würde so etwas nicht einmal schaffen, wenn man mir eine Pistole an den Kopf hielte.

Wir setzten uns ein paar Minuten ins Wohnzimmer. Meine Geschichte klang zwar plausibel, ließ mir aber nicht viel Spielraum, um mich nach Toms Charakter zu erkundigen. Und wie kam ich überhaupt darauf, daß Cecilia irgend etwas darüber wissen könnte, was er am Abend seines Todes vorhatte? Ich merkte jedoch, daß sie meine Absichten nicht in Frage stellte, und je länger wir plauderten, desto deutlicher zeichnete sich ab, daß sie vollkommen bereitwillig über Tom und seine Frau, ihre Ehe und alles andere redete, wonach ich sie hatte fragen wollen.

»Selma sagt, Tom sei in den letzten paar Wochen wegen irgend etwas bedrückt gewesen. Haben Sie eine Ahnung, was das gewesen sein könnte?«

Cecilias Augen wurden schmal, während sie ein Stück Fußboden musterte. »Wie kommt sie darauf, daß er irgendwelche Probleme hatte?«

»Also, genau weiß ich das auch nicht. Sie hat gesagt, daß er angespannt wirkte, mehr rauchte als sonst und sie auch den Eindruck hatte, daß er Gewicht verlor. Sie hat mir berichtet, daß er schlecht schlief und ohne Erklärung das Haus verließ. Soweit ich weiß, war das nicht typisch für ihn. Hat er Ihnen irgend etwas erzählt?«

»Er hat mir nichts Spezielles anvertraut«, antwortete sie vorsichtig. »Darüber müßten Sie mit Macon reden. Die beiden standen sich wesentlich näher als ich ihnen.«

»Aber was hatten Sie für einen Eindruck? Hatten Sie das Gefühl, daß er unter Anspannung stand?«

»Möglich.«

Ewig schade, daß ich mir keine Notizen mache, da doch so viele Informationen hervorsprudelten. »Haben Sie ihn je danach gefragt?«

»Ich fand nicht, daß mir das zustand. Wir hatten kein solches Verhältnis zueinander. Er hat sich um seine Angelegenheiten gekümmert und ich mich um meine.«

»Haben Sie irgendwelche Vermutungen, was ihn belastet haben könnte?«

Sie zögerte einen Moment. »Ich glaube, Tom war unglücklich. Er hat es zwar mir gegenüber nie ausgesprochen, aber das ist meine Meinung.«

Ich machte so etwas wie »Mmm«, ein verbales Füllsel, begleitet von einem Blick, der hoffentlich Mitgefühl ausdrückte.

Sie faßte dies als Ermutigung auf und setzte zu ihrer Analyse an. »Es liegt mir fern, Selma zu kritisieren. Er hat sie geheiratet, nicht ich. Womöglich steckt ja mehr in ihr, als man auf den ersten Blick sieht. Jedenfalls müssen wir das hoffen. Falls Sie meine Meinung interessiert: Mein Bruder hätte etwas wesentlich Besseres haben können. Selma ist ein Snob, wenn Sie’s genau wissen wollen.«

Diesmal murmelte ich: »Tatsächlich.«

Ihr Blick streifte über mein Gesicht und schweifte dann wieder ab. »Sie sehen aus, als hätten Sie eine gute Menschenkenntnis, also habe ich nicht das Gefühl, indiskret zu sein, wenn ich das sage. Sie ist nicht religiös, selbst wenn sie in die Kirche geht. Sie ist ein bißchen materialistisch und scheint sich einzubilden, sie könnte mit Anschaffungen die Leere in ihrem Leben füllen, aber das funktioniert nicht.«

»Zum Beispiel?«

»Haben Sie den neuen Teppich im Wohnzimmer gesehen?«

»Ja, habe ich.«

Cecilia warf mir einen selbstzufriedenen Blick zu. »Den hat sie sich vor etwa zehn Tagen legen lassen. Ich fand es geschmacklos, das so früh zu tun, aber Selma hat mich gar nicht gefragt. Außerdem hat sie mir einmal erzählt, daß sie sich die Schneidezähne überkronen lassen will, was nicht nur eitel, sondern absolut unnütz ist. Geldverschwendung ist gar kein Ausdruck. Aber jetzt, wo sie Witwe ist, kann sie ja wohl machen, was sie will.«

Ich fragte mich, was gegen Eitelkeit einzuwenden sei. Angesichts der Bandbreite menschlicher Verfehlungen ist Egozentrik doch harmlos im Vergleich mit einigen anderen, die ich anführen könnte. Warum sollte man nicht tun, was man wichtig fand, um sich in seiner Haut wohler zu fühlen – innerhalb vernünftiger Grenzen natürlich. Wenn Selma sich die Zähne Überkronen lassen wollte, warum sollte Cecilia das auch nur die Bohne interessieren? Was ich allerdings sagte, war: »Ich habe den Eindruck, sie hing sehr an Tom.«

»Das ist ja wohl nicht mehr als recht und billig. Er übrigens auch an ihr, könnte ich hinzufügen. Tom hat sein Leben damit zugebracht, diese Frau zufriedenzustellen. Wenn es nicht das eine war, dann war es das andere. Zuerst mußte sie ein Haus haben. Dann wollte sie etwas Größeres in einer besseren Gegend. Dann mußten sie Mitglieder im Country Club werden. Es ging immer weiter und weiter. Und wenn sie einmal nicht bekam, was sie wollte? Tja, dann schmollte und grollte sie, bis er nachgab und es für sie besorgte. In meinen Augen war es erbärmlich. Tom tat, was er konnte, aber es war einfach unmöglich, sie glücklich zu machen.«

Ich sagte: »Du liebe Güte!« So rede ich immer in solchen Situationen. Doch mir fiel beim besten Willen nicht ein, wie ich nun weitermachen sollte. »Er war ein gutaussehender Mann. Ich habe drüben ein Bild von ihm gesehen«, fuhr ich anbiedernd fort.

»Er war ausgesprochen attraktiv. Warum er Selma geheiratet hat, war mir ein Rätsel. Und dann noch dieser Sohn!« Cecilia zog den Mund zusammen wie einen Tabaksbeutel. »Brant war mir vom ersten Moment an zuwider. Er hatte eine Ausdrucksweise wie ein Fernfahrer und war maßlos frech. Widerworte und Unverschämtheiten! So was haben Sie noch nie gehört. War auch in der Schule schlecht. Hatte Probleme mit seinem Temperament und dem, was sie seine ›Reizkontrolle‹ nannten. Selma hielt ihn natürlich für einen Heiligen. Sie ließ kein Wort der Kritik durchgehen, egal, was er anstellte. Der arme Tom war der Verzweiflung nahe. Ich glaube, irgendwie hat er es schließlich geschafft, den Jungen zur Vernunft zu bringen, aber ohne ihre Hilfe.«

»Sie hat erwähnt, daß Brant als Sanitäter arbeitet. Das ist doch ein verantwortungsvoller Beruf.«

»Ja, das stimmt wohl«, räumte sie widerwillig ein. »Wurde auch Zeit, daß er Fuß faßt. Das können Sie Tom zugute halten.«

»Wissen Sie zufällig, wohin Tom an jenem Abend wollte? Soweit ich weiß, wurde er ein Stück außerhalb des Orts gefunden.«

»Eineinhalb Kilometer nördlich von hier.«

»Er ist nicht kurz bei Ihnen vorbeigekommen?«

»Ich wünschte, er hätte es getan«, sagte sie. »Ich war zu Besuch bei einer Freundin drunten in Independence und bin erst kurz nach Viertel nach zehn oder so wieder hier gewesen. Ich habe den Krankenwagen vorbeifahren sehen, hatte aber keine Ahnung, daß er für Tom bestimmt war.«

Kopf in der Schlinge

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