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Am Dienstagmorgen um neun suchte ich das Büro des Leichenbeschauers von Nota County auf. Ich hatte in der Nacht zuvor nicht gut geschlafen. Die Hütte war schlecht isoliert und die Nachtluft frostig. Ich hatte den Thermostat auf 21 Grad aufgedreht, doch er tat nichts, als sich nutzlos ein- und wieder auszuschalten. Mit Jogginghose, Rollkragenpullover und einem Paar dicken Socken war ich ins Bett gekrochen. Die Matratze war so schwammig wie ein Trog Lehm. Ich rollte mich unter einer Daunendecke, einer Steppdecke und einer Wolldecke zusammen, beschwert von meiner massigen Lederjacke. Gerade als mir warm wurde, kündigte meine Blase an, daß sie ihre maximale Füllmenge erreicht hatte und meiner sofortigen Aufmerksamkeit bedurfte, da sonst ein nasses Bett die Folge wäre. Ich versuchte, diese Unannehmlichkeit zu ignorieren, merkte jedoch, daß ich kein Auge zutun würde, wenn ich der Botschaft keine Beachtung schenkte. Bis ich wieder unter die Decken schlüpfte, war sämtliche Wärme daraus verschwunden, und ich sah mich gezwungen, erneut die Kälte zu ertragen, bis ich einschlief.

Als ich um sieben Uhr aufwachte, fühlte sich meine Nase an wie ein Eis am Stiel, und mein Atem zeichnete sich in Wölkchen gegen das matte Morgenlicht ab. Ich duschte unter lauwarmem Wasser, trocknete mich fröstelnd ab und zog mich hastig an. Dann trabte ich die Straße zum Rainbow Café hinunter, wo ich mir ein weiteres Frühstück gönnte, bei dem ich Orangensaft, Kaffee, Würstchen und mit Butter und Sirup getränkte Pfannkuchen vertilgte. Ich sagte mir, daß ich den vielen Zucker und das Fett brauchte, um meine erschöpften Reserven wieder aufzufüllen, doch in Wirklichkeit tat ich mir leid, und das Essen war die einfachste Form von Trost.

Das Büro des Leichenbeschauers lag in einer Seitenstraße mitten im Ort. Der Leichenbeschauer ist in Nota County ein auf vier Jahre gewählter Beamter, der in diesem Fall zugleich als Bestatter für die einzige Leichenhalle des Bezirks fungierte. Nota County ist klein: Gerade einmal fünftausend Quadratkilometer umfassend, liegt es wie ein Nachsatz zwischen Inyo und Mono County. Der Leichenbeschauer William Kirchner III, allgemein Trey genannt, hatte die Position bereits seit zehn Jahren inne. Da keine formelle gerichtsmedizinische Ausbildung verlangt war, wurden alle Autopsien von einem Gerichtspathologen vorgenommen, der beim County unter Vertrag stand.

Wenn im Landkreis ein Mord geschieht, übernimmt der amtliche Leichenbeschauer von Nota County die Spurensicherung zusammen mit dem Ermittler vom Sheriffbüro und einem Ermittler der Staatsanwaltschaft von Nota County. Die gerichtsmedizinische Autopsie wird dann in der »Großstadt« von einem Pathologen vorgenommen, der jeden Monat mehrere Autopsien in Mordfällen durchführt und mehrmals im Jahr vor Gericht geladen wird, um dort auszusagen. Da es in Nota County nur etwa alle zwei Jahre einen Mord gibt, ist es dem Leichenbeschauer lieber, wenn bei Autopsien und gerichtlichen Aussagen eine unabhängige Stelle ihr Fachwissen beisteuert.

Das Bestattungsunternehmen Kirchner & Sons schien früher einmal ein privates Wohnhaus gewesen zu sein, das vermutlich in den zwanziger Jahren gebaut worden war, während der Ort darum herum wuchs. Es war im Tudor-Stil gehalten und hatte eine Fassade aus blaßroten Backsteinen mit dunkelgestrichenen hölzernen Zierleisten. Dünnes, kaltes Sonnenlicht brach sich in den bleiverglasten Fenstern. Das Gras auf den umliegenden Wiesen war so matt und spröde wie braunes Plastik, nur die Stechpalmen verliehen der Landschaft noch etwas Farbe. Ich konnte mir vorstellen, wie das Haus früher einmal auf einem stattlichen Stück Land gestanden hatte, doch nun war das Grundstück geschrumpft, und rechts und links davon hatte sich Gewerbe angesiedelt: eine Immobilienfirma und ein bescheidenes Ärztehaus.

Trey Kirchner kam in den Empfangsbereich heraus, als er mich hörte, und streckte mir zum Gruß die Hand entgegen, während er sich vorstellte. »Trey Kirchner«, sagte er. »Selma hat angerufen und mir gesagt, daß Sie heute kämen. Erfreut, Sie kennenzulernen, Miss Millhone. Kommen Sie doch mit in mein Büro, dann können wir besprechen, wie ich Ihnen weiterhelfen kann.«

Kirchner war Mitte Fünfzig, groß und breitschultrig und hatte eine Taille, die nur wenig schlaffer war als vermutlich vor zehn Jahren. Seine Haare waren von einem hellen Grau, seitlich gescheitelt und um die Ohren kurz geschnitten. Sein Lächeln war einnehmend und rief konzentrische Falten auf beiden Seiten seines Mundes hervor. Er trug eine Brille mit großen Gläsern und einer dünnen Metallfassung.

Seine Augenwinkel sackten leicht ab und erzeugten irgendwie einen Ausdruck tiefsten Mitgefühls. Sein Anzug saß knapp, war perfekt gebügelt, und sein Hemd sah frisch gestärkt aus. Seine Krawatte war konservativ, aber nicht düster. Alles in allem bot er ein Bild tröstlicher Kompetenz. Er hatte etwas Solides an sich: ein Mann, der von Natur aus so aussah, als könne er sämtliche vom Tod hervorgerufenen Gefühle wie Schmerz, Verwirrung und Wut auffangen.

Ich folgte ihm einen langen Flur entlang in sein Büro, das wohl früher als Eßzimmer gedient hatte. Der Teppich war blaß und der Holzboden zur Farbe gelaugter Kiefer gebeizt. Die Vorhänge waren beige, aus Seide oder Schantung, jedenfalls ein schimmernder Stoff. Leichenhallendekor beinhaltet oft eine Wandtäfelung und darüber Bilder, auf denen sanfte Berglandschaften zu sehen sind, immergrüne Wälder mit Wegen, die sich zwischen den Bäumen hindurchwinden. Hier lag eine Aquarellwelt vor mir: pastellfarbene Himmel voller Wolken und die Andeutung eines Lüftchens, das die Wipfel der Tapetenbäume streifte. Auf beiden Seiten des Flurs befanden sich in regelmäßigen Abständen breite Schiebetüren, die offenstanden und den Blick auf die Aufbahrungsplätze freigaben, allerdings ohne Bewohner und leer, abgesehen von mehreren Reihen grauer Klappstühle aus Metall und ein paar Farnen in Töpfen. Die Luft war frisch und durchzogen von Nelkenduft, obwohl keine Blumen zu sehen waren. Vielleicht war es irgendein merkwürdiger Duftstoff für Leichenhallen, der durch die Klimaanlage geblasen wurde. Die gesamte Umgebung schien auf schlafwandlerische Ruhe ausgerichtet.

Das Büro, das wir betraten, war offenbar für Publikumsverkehr bestimmt, da kein Buch, kein Aktenordner und kein Blatt Papier zu sehen waren. Ich nahm an, daß Kirchner woanders im Haus ein Büro hatte, wo die wirkliche Arbeit erledigt wurde. Irgendwo außer Sichtweite mußten sich auch die Utensilien für die Autopsien befinden: Kameras, Röntgengeräte, ein rostfreier Stahltisch, Knochensäge, Skalpell und Hängewaage. Der Raum, in dem wir uns aufhielten, war so fad wie Pudding – kein Formalingeruch, keine trüben Deckelgläser voller Organschnipsel – und lieferte keinen Hinweis auf die Vorgänge, mittels deren eine Leiche zur Verbrennung oder Beerdigung vorbereitet wird.

»Nehmen Sie Platz«, sagte er und zeigte auf zwei identisch aussehende Polsterstühle, die auf der einen Seite eines kleinen Beistelltischs standen. Seine Art war entspannt, angenehm, freundlich und seltsam unpersönlich. »Sie sind also wegen Toms Tod hier.« Er griff über den Tisch, öffnete die Schublade und nahm einen flachen braunen Aktendeckel heraus, in dem ein fünfseitiger Bericht steckte. »Ich habe Ihnen eine Kopie des Autopsieberichts anfertigen lassen, falls Sie das interessiert.«

Ich nahm den Aktendeckel. »Danke. Ich dachte schon, ich müßte Sie dazu überreden.«

Er lächelte. »Die Unterlagen sind öffentlich zugänglich. Ich hätte die Kopie mit der Post schicken und Ihnen den Weg ersparen können, wenn Selma früher darum gebeten hätte.«

»Toms Tod wurde also als Fall für den amtlichen Leichenbeschauer eingestuft?«

»Zwangsläufig«, antwortete er. »Sie wissen ja, daß er ohne Zeugen und vermutlich ohne große Vorzeichen draußen auf dem Highway 395 gestorben ist. Er war seit fast einem Jahr nicht mehr beim Arzt gewesen. Wir nahmen an, daß es sein Herz war, aber vor der Obduktion weiß man das ja nie genau. Es hätte auch ein Aneurysma sein können. Jedenfalls hat Calvin Burkey die Autopsie vorgenommen. Das ist der Gerichtspathologe für die Landkreise Nota und Mono. Zwei von uns waren dabei. Es wurde nichts Auffälliges gefunden. Keine Überraschungen, nichts Unerwartetes. Tom starb an einem schweren, akuten Herzinfarkt infolge massiver Arteriosklerose. Sie werden sehen. Es steht alles hier drin. Teile der Koronararterien waren zu fünfundneunzig bis hundert Prozent verstopft. Er war dreiundsechzig Jahre alt. Eigentlich ist es ein Wunder, daß er so lange gelebt hat.«

»Sonst hat sich nichts ergeben?«

»Was aus dem Rahmen fiele? Nein. Leber, Gallenblase, Milz und Nieren waren allesamt ohne Befund. Die Lungen sahen schlimm aus. Er hat zeit seines Lebens geraucht, aber es gab keine Hinweise auf eine invasive Erkrankung. Er hat kurz zuvor Nahrung zu sich genommen. Unserem Bericht zufolge hat er in einem Lokal etwas zu Abend gegessen. In seinem Verdauungstrakt waren weder Pillen noch Kapseln zu finden, und die Untersuchung auf Gifte hat auch nichts ergeben. Warum fragen Sie?«

»Selma hat gesagt, er hätte abgenommen. Ich frage mich, ob er etwas wußte, das er ihr verschwiegen hat.«

»Nein. Kein Krebs, falls Sie das meinen. Keine Tumoren, keine Blutgerinnsel und keine inneren Blutungen, vom Herzmuskel abgesehen«, erklärte er. »Der Doc meinte, es gebe Anzeichen für einen kleinen Herzinfarkt in der Vergangenheit.«

Ich dachte darüber nach. »Also wußte er vielleicht, daß seine Tage gezählt waren. Das könnte ihm Anlaß zum Grübeln gegeben haben.«

»Möglich«, sagte er. »Tom war jedenfalls nicht bei bester Gesundheit, das kann ich Ihnen versichern. Das Fehlen pathologischer Merkmale besagt nicht unbedingt, daß man sich besonders wohl fühlt. Ich kannte ihn seit Jahren und habe ihn nie klagen hören, aber er hatte fast dreißig Kilo Übergewicht. Er hat geraucht wie ein Schlot und gesoffen wie ein Fisch, um beide Klischees zu bemühen. Aber er war ein phänomenaler Fahnder, das kann ich Ihnen sagen. Worüber zerbricht sich Selma denn den Kopf?«

»Schwer zu sagen. Ich glaube, sie hat das Gefühl, daß er etwas vor ihr verborgen hat, daß er irgendwelche Geheimnisse hatte. Sie hat ihn nicht um Antworten bedrängt, daher ist die Sache jetzt ungeklärt, und das belastet sie sehr.«

»Und sie hat keine Ahnung, was es war?«

»Vielleicht ist es auch überhaupt nichts; so sieht es jedenfalls für mich aus. Haben Sie irgendwelche Theorien?«

»Ich glaube nicht, daß Sie irgend etwas Skandalöses aufdecken werden. Tom war Kirchgänger und eine gute Seele. Beliebt und geachtet im ganzen Ort und großzügig mit seiner Zeit. Wenn er irgendwelche Fehler hatte, so würde ich sagen, daß er zu streng, zu puritanisch war. Er sah die Welt in Reinschwarz und Reinweiß mit nicht viel dazwischen. Vermutlich konnte er das Grau wahrnehmen, wußte aber nicht viel damit anzufangen. Er hielt nichts davon, die Regeln zu verletzen, obwohl ich es ihn ab und zu habe tun sehen. Er war ein ganz geradliniger Mann, aber das ist in meinen Augen positiv. Wir könnten ein paar mehr von seiner Sorte gebrauchen. Er wird uns hier fehlen.«

»Haben Sie ihn in den letzten paar Wochen einmal länger gesprochen?«

»Eigentlich nicht. Ich sah ihn meist in beruflichem Rahmen. Verständlicherweise stehen das Sheriffbüro und der amtliche Leichenbeschauer so miteinander«, sagte er und kreuzte zwei Finger. »Ich bin ihm manchmal im Ort begegnet. Einmal hab’ ich mit ihm Billard gespielt, ein paar Biere gekippt. Letzten Herbst sind wir mit ein paar Leuten auf einen Angelausflug gefahren, aber wir sind nicht gerade nachts dagelegen und haben uns gegenseitig das Herz ausgeschüttet. Der Mann, mit dem Sie sprechen müssen, ist sein Partner Rafer.«

»Den hat Selma schon erwähnt. Wie heißt er denn mit Nachnamen?«

»LaMott.«

Ich saß in meinem Mietwagen auf dem Parkplatz vor Kirchner & Sons und blätterte Tom Newquists Autopsiebericht durch. Aus dem Totenschein gingen weitere Einzelheiten sowie die genaue Todesursache hervor. Alter, Geburtsdatum, Sozialversicherungsnummer und Anschrift; Ort und Ursache seines Todes und wie mit seinen sterblichen Überresten verfahren worden war. Er war bereits tot in der Notaufnahme des Nota County Hospital eingetroffen, die Autopsie wurde einen Tag später vorgenommen und noch einen Tag später wurde er beigesetzt. Auf dem Papier wirkte sein Gang ins Grab übereilt, aber wenn der Tod erst einmal eingetreten ist, ist der menschliche Körper im Grunde nur noch ein großes Stück Fleisch, das schnell schlecht wird. Die Einzelheiten hatten etwas Flaches und Abruptes an sich... Tom Newquist gestorben... sein Leben ordentlich verpackt; Anfang, Mitte und Ende. Unter dem Totenschein lag die Kopie einer handgeschriebenen Notiz, die offenbar von dem Officer der Highway Patrol verfaßt worden war, der Tom in seinem Wagen gefunden hatte.

Ca. 21.50 Uhr 2/3 Krankenwagenruf an Stelle 11,5 km außerhalb auf Highway 395. Pers. in Pickup, an Straßenrand geparkt. Beginn der Wiederbelebungsmaßnahmen @ 22.00 Uhr. Notarzt aus Nota Lake übernimmt @ ca. 22.15 Uhr. Pers. bei Eintreffen in Notaufnahme Nota Lake tot. Leichenbeschauer verständigt.

Die Notiz war mit »J. Tennyson« unterzeichnet. Nun folgte der Autopsiebericht: drei maschinengeschriebene Seiten, deren Inhalt dem entsprach, was Trey Kirchner mir erzählt hatte.

Ich hatte gehofft, die Erklärung möge eindeutig sein und besagen, daß sich Tom Newquist im Endstadium einer tödlichen Krankheit befunden hatte und seine Besorgnis ganz einfach von einer Todesahnung herrührte. Doch dies war nicht der Fall. Wenn Selmas Wahrnehmungen zutrafen und er über irgend etwas nachgrübelte, so jedenfalls nicht über eine unmittelbare Bedrohung seiner Gesundheit. Es war zwar trotzdem möglich, daß er unter Herzbeschwerden gelitten hatte – Anginaschmerzen, Rhythmus-Störungen oder Atemnot bei Anstrengung. Wenn ja, so hatte er womöglich die Schwere seiner Symptome gegen die Konsequenzen eines Arztbesuchs abgewogen. Tom Newquist hatte vielleicht schon genug vom Tod gesehen, um den Prozeß philosophisch zu betrachten. Vielleicht hatte er größere Angst vor medizinischen Maßnahmen als vor seinem möglichen Tod.

Ich legte den Aktendeckel auf den Beifahrersitz und ließ den Motor an. Ich wußte nicht genau, wo ich weiterforschen sollte, hielt es aber für folgerichtig, als nächsten Schritt Toms Partner Rafer LaMott aufzusuchen. Ich sah auf meinen Plan von Nota Lake und fand die Außenstelle des Sheriffbüros, die im Gemeindezentrum auf der Benoit Street etwa sechs Häuserblocks weiter westlich untergebracht war. Die Sonne war durch eine dünne Wolkenschicht gedrungen. Die Luft war kühl, doch das Licht hatte etwas sehr Angenehmes. Die Häuser an der Hauptdurchgangsstraße bestanden aus Stein und Holz und hatten Dächer aus Wellblech: Tankstellen, ein Drugstore, ein Sportgeschäft und ein Friseursalon. Die unberührte Schönheit der fernen Berge zog sich wie ein Ring um die Stadt. Das digitale Thermometer einer Werbetafel zeigte eine Temperatur von sechs Grad an.

Ich parkte gegenüber dem Gemeindezentrum von Nota Lake, das außerdem das Polizeirevier, das Landgericht und verschiedene Ämter beherbergte. Der Komplex mit den Verwaltungsbüros war in einem Gebäude untergebracht, das früher eine Schule gewesen war. Dies wußte ich, weil die Worte »Nota Lake Grundschule« in Blockbuchstaben in den Architrav gemeißelt waren. Ich hätte schwören können, daß ich noch den schwachen Abdruck von Hexen und Kürbissen aus Transparentpapier erkannte, die einst mit Klebeband an den Fenstern gehangen hatten – die Geister vergangener Halloween-Feiern. Ich für meinen Teil haßte Grundschulen, da ich seinerzeit mit einer seltsamen Kombination aus Schüchternheit und Aufsässigkeit geschlagen war. Die Schule war ein Minenfeld ungeschriebener Regeln, die offenbar alle außer mir nachvollziehen und akzeptieren konnten. Meine Eltern waren bei einem Autounfall ums Leben gekommen, als ich fünf war, und so kam mir die Schule wie die Fortführung ebendieser Gemeinheit und ebendieses Verrats vor. Ich neigte dazu, mich ohne Grund zu übergeben, was mich weder beim Hausmeister noch bei den Klassenkameraden in meiner Nähe beliebt machte. Ich kann mich heute noch an das Gefühl gerade ausgestoßener, heißer Säfte erinnern, die sich in meinem Schoß sammelten, während rechts und links von mir die Schüler angewidert davonstoben. Weit davon entfernt, mich zu schämen, empfand ich eine klammheimliche Befriedigung, die Macht des Opfers, das seine Rache über die Verdauung ausübt. Jedesmal wurde ich zur Schul-Krankenschwester geschickt, wo ich mich auf eine Ottomane legen konnte, bis meine Tante Gin mich holen kam. Zur Mittagszeit bat ich (bevor ich lernte, nach Belieben zu kotzen) oft darum, nach Hause gehen zu dürfen, versprach, nach rechts und links zu sehen, wenn ich über die Straße ging, und nicht mit Fremden zu sprechen, auch wenn sie mir Süßigkeiten anboten. Meine Lehrer lehnten die klagende Bitte regelmäßig ab, und so war ich zum Bleiben gezwungen; ängstlich, beklommen und zu klein geraten, kämpfte ich gegen die Tränen an. Als ich acht war, lernte ich, nicht mehr zu fragen. Ich ging einfach, wenn es mir paßte, und stand hinterher die Folgen durch. Was wollten sie denn machen – mich kaltblütig erschießen?

Der Eingang zum Gemeindezentrum führte in einen breiten Korridor, der als Empfangshalle diente und gerade renoviert wurde. Aktenschränke und Lagerregale waren auf die nicht mit Teppich ausgelegte Fläche gestellt worden. Die Wände waren mit irgendeinem undefinierbaren Holz getäfelt, die Decke ein niedriges Gitterwerk aus Schalldämmplatten. Teile des Flurs waren durch Leitkegel abgeteilt, die untereinander mit Plastikband verbunden waren, und handgeschriebene Schilder wiesen zu den derzeitigen Räumen verschiedener umgesiedelter Behörden.

Ich fand die Außenstelle des Sheriffbüros. Sie war klein und bestand aus mehreren zusammenhängenden Räumen, die aussahen wie die »Vorher«-Fotos in einer Einrichtungszeitschrift. Die Leuchtstofflampen trugen wenig dazu bei, die Atmosphäre zu verbessern, die aus einem Kuddelmuddel aus technischen Handbüchern, Wandplakaten, glänzender Holztäfelung, Büromaschinen, Drahtkörben und an sämtlichen glatten Flächen haftenden Notizen bestand. Die Schreibkraft war eine Frau Mitte Dreißig, die Laufschuhe, Jeans und ein blaues Sweatshirt über einem weißen Rollkragenpullover trug. Ihr Namensschild identifizierte sie als Margaret Brine. Sie hatte kurzgestutztes schwarzes Haar, eine ovale Brille mit schwarzer Fassung und zahlreiche Sommersprossen unter ihrem Puder und dem Rouge. Ihre Zähne waren groß und quadratisch und standen deutlich sichtbar auseinander.

Ich holte eine Visitenkarte heraus und legte sie auf den Tresen. »Ich wollte fragen, ob ich Rafer LaMott sprechen könnte.«

Sie nahm meine Karte und musterte sie kurz. »Weiß er, worum es geht?«

»Der Leichenbeschauer hat mir empfohlen, mit ihm über Tom Newquist zu sprechen.«

Für einen kurzen Moment trafen sich unsere Blicke. »Warten Sie bitte«, sagte sie und verschwand durch eine Tür nach hinten, die vermutlich in die anderen Büros führte. Ich konnte ein Murmeln hören, und kurz darauf erschien Rafer LaMott, der soeben in ein braunkohlefarbenes Sportsakko schlüpfte. Er war Afroamerikaner, etwa Mitte Vierzig, gut einsachtzig groß, hatte einen karamelfarbenen Teint, kurzes schwarzes Haar und faszinierende haselnußbraune Augen. Bis auf einen schmalen Schnurrbart war er glattrasiert. Die Falten auf seiner Stirn ähnelten parallel verlaufenden Narben in feinem Leder. Das Sakko über seiner schwarzen Gabardinehose sah aus, als wäre es aus Kaschmir. Sein Hemd war blaßbeige und die Krawatte von sanftem Braun mit einem Muster aus schwarzen Büroklammern, die in diagonalen Reihen auf und ab verliefen.

Er hielt meine Karte in der Hand und las in leicht hochnäsigem Tonfall die darauf abgedruckten Daten ab. »Kinsey Millhone, Privatdetektivin aus Santa Teresa, Kalifornien. Was kann ich für Sie tun?«

Ich spürte ein Prickeln im Nacken. Rafers Gesichtsausdruck war unverbindlich. Genaugenommen war er nicht unhöflich, aber er war alles andere als freundlich, und ich merkte seiner Art an, daß er mir keine große Hilfe sein würde. Ich zeigte ein auf Außenwirkung angelegtes Lächeln ohne jede Aufrichtigkeit oder Wärme. »Selma Newquist hat mich engagiert. Sie hat ein paar Fragen in bezug auf Tom.«

Er warf mir einen raschen Blick zu und schritt dann durch die Klappe am einen Ende des Tresens. »Ich habe einen Termin, aber Sie können mit mir hinausgehen. Was für Fragen denn?«

Mir blieb nichts anderes übrig, als neben ihm herzutrotten, während er den Flur entlang auf einen Hinterausgang zuging. »Sie sagt, er habe sich über irgend etwas den Kopf zerbrochen. Sie will wissen, was das war.«

Er stieß die Tür auf und ging hindurch. Sein Schritt wurde immer schneller, was mich auf seine wachsende Erregung schließen ließ. Ich erwischte die Tür gerade noch, bevor sie zufiel, und ging direkt hinter ihm hinaus. Ich mußte mein Tempo verdoppeln, um mit ihm Schritt zu halten. Als er die Stufen hinabstieg, nahm er seine Autoschlüssel aus der Jackentasche. Eilig schritt er über den Parkplatz und hielt erst inne, als er an einem unauffälligen weißen Kleinwagen angelangt war und Anstalten machte, ihn aufzuschließen. Während er die Fahrertür öffnete, wandte er sich um und sah mich an. »Hören Sie, ich kann Ihnen folgendes sagen, ohne damit jemandem zu nahe treten zu wollen: Selma hat andauernd versucht, sich in Toms Angelegenheiten einzumischen, sie hat ihn ständig wegen irgend etwas bedrängt, nur für den Fall, daß der arme Kerl mal vorübergehend einen eigenen Gedanken faßte. Diese Frau hat eine emotionale Radaranlage eingebaut und tastet ununterbrochen ihre Umgebung auf der Suche nach Dingen ab, die sie nichts angehen. Wenn Sie das weitersagen, bestreite ich es, also können Sie sich die Atemluft sparen.«

»Ich habe nicht die Absicht, es weiterzusagen. Ich weiß Ihre Offenheit zu schätzen...«

»Dann wissen Sie sicher auch folgendes zu schätzen«, sagte er. »Tom hat nie ein Wort gegen Selma gesagt, aber ich kann Ihnen aus eigener Erfahrung sagen, daß es anstrengend ist, mit ihr zusammenzusein. Tom war ein anständiger Kerl, aber jetzt, wo er tot ist, bin ich erleichtert darüber, daß ich sie nicht mehr sehen muß. Meine Frau und ich hatten im Grunde nie Lust, mit Selma zusammenzusein. Wir haben uns eben getroffen, wenn wir es ihm zuliebe mußten. Falls das gehässig klingt, tut es mir leid, aber so ist es eben. Der beste Rat, den ich Ihnen geben kann, ist, den Mann in Frieden zu lassen. Er ist in seinem Grab noch nicht einmal ganz kalt geworden, und schon versucht sie, ihn wieder auszugraben.«

»Könnte er sich über einen Fall den Kopf zerbrochen haben?«

Mit einem kurzen, ungläubigen Lächeln darüber, daß ich nicht lockerließ, wandte er den Blick von mir ab. Ich sah ihm an, wie er an sich hielt und um Geduld rang, während er hoffte, mich loszuwerden. »Als er starb, hatte er zehn, fünfzehn Akten auf seinem Tisch liegen. Und nein, die können Sie nicht einsehen, also fragen Sie gar nicht erst.«

»Aber nichts besonders Verstörendes?«

»Ich sehe mich leider außerstande, Ihnen zu sagen, was Tom verstört hat und was nicht.«

»Wer hat seine Arbeit übernommen?«

»Ein paar Fälle habe ich übernommen. Vor kurzem hat ein neuer Kollege angefangen, und der erledigt den Rest. Diese Informationen sind allesamt nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Ich habe nicht vor, laufende Ermittlungen zu gefährden, nur um Selmas morbide Neugier zu befriedigen, also können Sie sich diese Idee abschminken.«

»Glauben Sie, daß Tom private Probleme hatte, die er vor ihr geheimhalten wollte?«

»Fragen Sie jemand anderen. Ich will nichts mehr über Tom sagen.«

»Was ist denn schon dabei? Wenn Sie mir ein bißchen weiterhelfen würden, wäre ich schon wieder weg«, sagte ich.

Anstelle einer Antwort stieg er ins Auto und schlug die Tür zu. Er drehte den Schlüssel im Zündschloß und drückte einen Knopf am Armaturenbrett. Das Seitenfenster fuhr mit leisem Surren herunter. Als er wieder sprach, wirkte sein Tonfall freundlicher. »He, das klingt jetzt vielleicht unhöflich, aber tun Sie sich selbst einen Gefallen und lassen Sie die Sache fallen, ja? Selma ist eine Narzißtin. Sie bildet sich ein, alles dreht sich um sie.«

»Und das ist hier nicht der Fall?«

Er drückte erneut auf den Knopf, und das Fenster glitt wieder nach oben. Ende der Debatte. Ende des Frage-und-Antwort-Spiels. Er legte den Rückwärtsgang ein, fuhr aus der Parklücke und rauschte mit einem leisen Quietschen davon, als er in den ersten Gang schaltete. Ich konnte ihm nur noch nachstarren. Zu spät merkte ich, wie mir eine brennende Hitze ins Gesicht stieg. Ich hob eine Hand an die Wange, als hätte man mich geohrfeigt.

Kopf in der Schlinge

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