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Gegen Ende meines Besuchs bei ihr schien das Valium zu wirken, und sie nahm sich zusammen. Irgendwie schaffte sie es, in erstaunlich kurzer Zeit auf die Beine zu kommen. Ich wartete im Wohnzimmer, während sie duschte und sich anzog. Als sie eine halbe Stunde später wiederkam, erklärte sie, sich fast wie neugeboren zu fühlen. Ich staunte über ihre Verwandlung. Frisch geschminkt strahlte sie mehr Selbstvertrauen aus, obwohl sie immer noch häufig mit erhobener Hand sprach, um ihren Mund zu verbergen.

Während der nächsten zwanzig Minuten diskutierten wir das Geschäftliche und einigten uns schließlich auf eine Lösung. Mittlerweile stand fest, daß Selma Newquist sich durchzusetzen wußte. Sie griff nach dem Telefon und buchte mir mit einem einzigen Anruf nicht nur eine Unterkunft, sondern setzte auch noch eine Ermäßigung von zehn Prozent auf den bereits gesenkten Preis der Nebensaison durch.

Ich fuhr um zwei Uhr nachmittags bei Selma weg und machte lange genug im Ort halt, um meine gewohnte Junk-food-Ernährung durch eine Portion Fish and Chips von Capt’n Jack und eine große Cola zu ergänzen. Danach war es an der Zeit, ins Motel zu gehen. Es sah ganz danach aus, als würde ich Nota Lake frühestens übermorgen wieder verlassen. Das Motel, das Selma mir gebucht hatte, hieß Nota Lake Cabins und bestand aus zehn rustikalen Hütten auf einem waldigen Grundstück, direkt neben der Hauptdurchgangsstraße etwa neun Kilometer außerhalb der Stadt. Toms verwitwete Schwester Cecilia Boden war Besitzerin und Geschäftsführerin der Anlage. Als ich in den Parkplatz einbog, merkte ich, daß die Gegend für meinen Geschmack etwas zu abgelegen war. Ich bin im Tiefsten meines Herzens ein Stadtmensch und fühle mich umgeben von Restaurants, Banken, Schnapsläden und Kinos eigentlich am wohlsten. Da Selma für mich bezahlte, wollte ich keinen Protest einlegen, und offen gestanden sahen die Fassaden aus rohen Baumstämmen auch interessanter aus als die Motels im Ortskern. Schön blöd von mir.

Cecilia telefonierte gerade, als ich hereinkam. Ich schätzte sie auf sechzig, doch sie war so klein und kurvenlos wie ein zehnjähriges Mädchen. Sie trug ein rotkariertes Flanellhemd, das sie in dunkle, steife Blue jeans gesteckt hatte. Einen nennenswerten Po besaß sie nicht, hinten war lediglich eine flache Ebene. Ich wünschte jetzt schon, sie würde aufhören, ihr kurzgeschnittenes Haar mit Dauerwellen zu Tode zu quälen. Außerdem fragte ich mich, was wohl geschehen würde, wenn sie unter dem eintönigen Braun des Färbemittels, mit dem sie es behandelt hatte, das natürliche Grau hervorkommen ließe.

Der Empfangsbereich war klein, ein mit Kiefernholz getäfeltes Kabuff, kaum groß genug für einen schmalen gepolsterten Stuhl und das Regal mit den Prospekten, die die unzähligen Freizeitangebote in der Umgebung anpriesen. Eine Seitentür mit der Aufschrift DIREKTION führte vermutlich in ihre Privatwohnung. Die Rezeption bestand aus einer dreißig Zentimeter breiten Schreibunterlage auf der unteren Hälfte der teilbaren Tür, die die Mini-Lobby vom Büro trennte, wo die üblichen Utensilien zu sehen waren: Aktenschränke, Schreibmaschine, Registrierkasse, Karteikasten, Quittungsblock und das große Buch mit den Reservierungen, das sie zur Beantwortung der Fragen ihres Anrufers zu Rate zog. Sie schien ein klein wenig verärgert über die Fragen zu sein, die ihr gestellt wurden. »Ich habe am vierundzwanzigsten Zimmer frei, aber nicht am Tag danach... Wenn Sie Fische ausgenommen und eingefroren haben wollen, versuchen Sie es im Elms oder im Mountain View... Mhm... Aha... Tja, etwas anderes kann ich Ihnen nicht anbieten ...« Doch dann lächelte sie vor sich hin, als amüsierte sie sich über einen nur ihr bekannten Witz. »Nö... Kein Zimmerservice, kein Kraftraum, und die Sauna ist außer Betrieb...«

Während ich darauf wartete, daß sie zu telefonieren aufhörte, nahm ich aufs Geratewohl ein paar Prospekte aus dem Regal und informierte mich über Werktags-Angebote für Skipässe und Übernachtungen in näher bei Mammoth Lakes und Mammoth Summit gelegenen Orten. Dann studierte ich den lokalen Veranstaltungskalender. Ich hatte das große alljährliche Forellen-Derby verpaßt, das in der Vorwoche stattgefunden hatte. Außerdem war ich für die große Angelshow im Februar zu spät dran. So ein Pech. Ich las, daß die Festlichkeiten im April eine zweite Angelshow umfaßten, dazu den Presseempfang zur Eröffnung der Forellensaison, die offizielle Eröffnung der Forellensaison und eine Leistungsschau des Fischereivereins, eine Feier zum Tag des Maultiers, und später folgte noch ein 30-Kilometer-Lauf im Mai. Es sah ganz danach aus, als hätte ich Gelegenheit, mir die Eastern Sierras wahlweise wandernd, beim Rucksack-Trekking oder auf dem Rücken eines Maultiers zu erschließen. Oben lauerte dann vermutlich eine rasende Horde hungriger wilder Tiere auf uns, die uns ansprangen und nach uns schnappten, während wir uns über gefährlich schmale Pfade den Weg nach unten bahnten und die Felsbrocken die Berghänge hinab in den gähnenden Abgrund polterten.

Ich sah auf und stellte fest, daß Cecilia Boden mich mit verschlossener Miene anstarrte. »Sie wünschen?« fragte sie. Mit den Händen hielt sie die teilbare Tür umklammert, als wollte sie mich davon abhalten, hindurchzugehen.

Ich erklärte ihr, wer ich war, und mit einer Handbewegung lehnte sie die Kreditkarte ab, die ich ihr anbieten wollte. Mit geschürzten Lippen sagte sie: »Selma hat gesagt, ich solle die Rechnung direkt an sie schicken. Ich habe zwei Hütten frei. Sie können sich eine aussuchen.« Sie nahm einen Schlüsselbund vom Haken und öffnete die untere Hälfte der Tür. Indem sie es mir überließ, ihr zu folgen, ging sie zur Vordertür hinaus und einen mit Zedernrinde übersäten Weg entlang. Die Luft draußen war feucht und roch nach Lehm und Kiefernharz. Ich hörte den Wind durch die Bäume wehen und die Eichhörnchen schnattern. Mein Auto ließ ich dort stehen, wo ich es geparkt hatte, und wir gingen zu Fuß weiter. Der schmale Weg, der zu den Hütten führte, war durch eine zwischen zwei Pfosten gespannte Kette abgesperrt. »Ich will keine Autos in diesem Teil der Anlage. Die Erde wird bei schlechtem Wetter zu stark aufgewühlt«, sagte sie, als hätte ich sie danach gefragt.

»Tatsächlich«, murmelte ich, weil mir nichts Besseres einfiel.

»Wir sind fast ausgebucht«, fuhr sie fort. »Ungewöhnlich für März.«

In ihren Augen war das vermutlich Konversation, und so gab ich als Erwiderung entsprechende Laute von mir. Die Hütten vor uns lagen etwa zwanzig Meter auseinander, getrennt durch kahle Ahornbäume, Hartriegelsträucher und genügend Douglastannen, um sich an eine Weihnachtsbaumplantage zum Selberfällen erinnert zu fühlen. »Warum heißt der Ort Nota Lake? Ist das indianisch?«

Cecilia schüttelte den Kopf. »Nö. Früher war die Nota ein Zeichen, das Kriminellen in die Haut eingebrannt wurde, um sie als Gesetzesbrecher zu kennzeichnen. So wußte man immer, wer ein Schurke war. Ein Trupp Desperados ist hier in der Gegend hängengeblieben; Verbrecher, die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts aus England deportiert worden sind. Aus gutem Grund wurden sie allesamt gebrandmarkt: Mörder und Räuber, Taschendiebe, Sittenstrolche – das Übelste vom Üblen. Wenn ihre Strafe verbüßt war, wurden sie freigelassen und verschwanden in den Westen, wobei manche hier endeten. Ihre Nachkommen haben für die Eisenbahngesellschaft gearbeitet und zusammen mit schwarzen und asiatischen Tagelöhnern harte Knochenarbeit geleistet. Die halbe Ortschaft ist mit diesen Sträflingen verwandt. Muß ein lüsterner Haufen gewesen sein. Allerdings weiß kein Mensch, wo sie die Frauen hergeholt haben. Per Post bestellt, nehme ich an.«

Wir waren an der ersten Hütte angekommen, und sie fuhr in wenig verändertem Tonfall fort, ziemlich ausdruckslos und kaum moduliert: »Das ist Willow. Ich gebe ihnen Namen statt Nummern.

Das finde ich hübscher.« Sie steckte ihren Schlüssel ins Schloß. »Jede ist anders. Sie haben die Wahl.«

Willow war geräumig, ein kieferngetäfeltes Zimmer von etwa sechs mal sechs Metern mit einem Kamin aus wulstigen Felsbrocken. Die innere Feuerstelle war rußgeschwärzt, und Holz lag ordentlich gestapelt auf dem Rost. In der Luft hing ein stechender Geruch nach unzähligen Hartholzfeuern. An der einen Wand stand ein Bettgestell aus Messing, dessen Matratze wie ein kleiner Hügel geformt war. Die Steppdecke hatte ein wildes Patchworkmuster und sah aus, als rieche sie nach Moder. Auf dem Nachttisch standen eine Lampe und ein Digitalwecker. Der Teppich war ein Oval aus geflochtenen Flicken, ausgebleicht und völlig flachgetreten.

Cecilia öffnete eine Tür zur Linken. »Hier sind Badezimmer und Wandschrank. Wir haben allen Komfort. Es sei denn, Sie angeln«, fügte sie als kleine Nebenbemerkung zu sich selbst hinzu. »Bügeleisen, Bügelbrett, Kaffeemaschine, Seife.«

»Sehr schön«, sagte ich.

»Die andere Hütte heißt Hemlock. Sie steht drüben bei dem Kiefernwäldchen am Fluß. Sie hat eine Kochnische, aber keinen Kamin. Ich kann Sie hinbringen, wenn Sie möchten.« Meist sprach sie, ohne Blickkontakt aufzunehmen, und richtete ihre Äußerungen an einen Fleck gut anderthalb Meter links von meinen Füßen.

»Ist schon gut. Ich nehme die hier.«

»Wie Sie wünschen«, sagte sie und reichte mir den Schlüssel. »Die Autos bleiben auf dem Parkplatz. Hinterm Haus liegt noch mehr Holz. Achten Sie auf Schwarze Witwen, wenn Sie Holz holen. Ein Münztelefon hängt vor dem Büro. Erspart mir den Zirkus, Telefongespräche abzurechnen. Etwa fünfzig Meter in dieser Richtung die Straße runter ist ein Imbißlokal. Sie können es gar nicht verfehlen. Frühstück, Mittag- und Abendessen. Von sechs Uhr morgens bis halb zehn abends geöffnet.«

»Danke.«

Nachdem sie gegangen war, wartete ich einen angemessenen Zeitraum ab, um ihr genug Zeit zu geben, vor mir am Büro anzukommen.

Ich kehrte zum Parkplatz zurück und holte meine Tasche sowie die Reiseschreibmaschine, die ich mitgebracht hatte. Ich hatte die freien Stunden bei Dietz dazu genutzt, längst fällige Schreibarbeiten zu erledigen. Meine Garderobe besteht in erster Linie aus Blue jeans und Rollkragenpullovern, wodurch das Packen ein Kinderspiel ist, wenn man erst einmal eine Handvoll Unterhosen hineingeworfen hat.

Zurück in der Hütte, stellte ich die Schreibmaschine neben das Bett und legte meine wenigen Kleidungsstücke in eine roh zusammengezimmerte Kommode. Ich packte mein Shampoo aus, legte Zahnbürste und Zahnpasta auf den Waschbeckenrand und sah mich zufrieden um. Welch reizendes Zuhause, wenn man von den Schwarzen Witwen absah. Ich testete die Toilettenspülung, die funktionierte, und inspizierte dann die Dusche, die kunstvoll hinter einem Streifen schweren, weißen Pikeestoffs verborgen war, der von einer Metallstange herabhing. Die Duschwanne sah sauber aus, bestand aber aus der Art Material, die mich unwillkürlich auf Zehenspitzen gehen ließ. Besuche im öffentlichen Schwimmbad in meiner Jugend hatten mich gelehrt, vorsichtig zu sein, und meine nackten Füße schreckten immer noch instinktiv vor Klumpen nasser Papiertaschentücher und verrosteten Haarklemmen zurück. Hier waren zwar keine zu sehen, aber ich spürte die geisterhafte Anwesenheit vom Dreck vergangener Zeiten. Ich nahm den gleichen Chlorgeruch wie damals wahr, vermischt mit dem Shampoo eines Fremden. Ich untersuchte die Kaffeemaschine, doch am Stecker schien ein Stift zu fehlen. Außerdem gab es keine Gratispäckchen mit Kaffeepulver, Zucker oder milchfreiem Kaffeeweißer. Das war also der angepriesene Komfort. Ich war dankbar für die Seife.

Ich kehrte in den Hauptraum zurück und sah mich kurz um. Unter dem Seitenfenster stand eine Sitzgruppe mit einem Holztisch und zwei Stühlen, so angeordnet, daß man auf den Wald hinaussah. Ich nahm die Schreibmaschine und stellte sie auf die Tischplatte. Ich würde mir in der Stadt einen Packen Papier besorgen und einen Copy-Shop ausfindig machen müssen. Heutzutage benutzen die meisten Privatdetektive Computer, aber ich kann mich irgendwie nicht mit ihnen anfreunden. Für meine zuverlässige Smith-Corona brauche ich keinen Stromanschluß, und ich muß mir weder Sorgen über einen Totalabsturz noch über gelöschte Daten machen. Ich zog mir einen Stuhl an den Tisch heran und starrte zum Fenster hinaus in den dürren Baumbestand. Selbst die Nadelbäume sahen schäbig aus. Durch ein Spitzenmuster aus Kiefernnadeln konnte ich ein Stück Zaun sehen, das Cecilias Grundstück von dem dahinterliegenden trennte. Dieser Ortsteil schien aus Ackerland und unerschlossenen Grundstücken zu bestehen, die vielleicht irgendwann einmal bewirtschaftet worden waren. Ich zog einen zerfledderten Schreibblock heraus und machte mir ein paar Notizen.

Genaugenommen hatte Selma Newquist mich engagiert, damit ich die letzten vier bis sechs Wochen im Leben ihres verstorbenen Mannes rekonstruierte, ausgehend von der Theorie, daß das, was ihn belastet hatte, vermutlich innerhalb dieser Zeitspanne aufgetreten war. Ich halte normalerweise nichts davon, wenn Eheleute einander nachspionieren – insbesondere wenn einer der beiden tot ist –, aber sie schien überzeugt davon zu sein, daß die Antworten für sie aufschlußreich wären. Ich hatte da meine Zweifel. Vielleicht hatte Tom Newquist einfach Finanzprobleme, oder er grübelte darüber nach, wie er im Ruhestand seine Zeit ausfüllen konnte.

Ich hatte mich bereit erklärt, ihr alle zwei bis drei Tage mündlich Bericht zu erstatten, ergänzt durch eine schriftliche Zusammenfassung. Selma hatte zuerst abgelehnt und mir versichert, daß mündliche Berichte vollkommen ausreichten, doch ich hatte ihr gesagt, daß ich die Schriftform bevorzugte, unter anderem um die gewonnenen Erkenntnisse genauer auszuführen. Ob ich nun etwas herausfand oder nicht – ich wollte, daß sie sah, wie gründlich ich vorging. Für sie war ebenso wichtig zu erfahren, welche Punkte ich nicht erhärten konnte, wie sie eine Aufstellung der Fakten brauchte, die ich im Lauf meiner Nachforschungen sammelte. Bei mündlichen Berichten geht durch die Übermittlung vieles verloren. Die meisten Menschen sind keine geübten Zuhörer. Aufgrund der Komplexität unseres Denkprozesses schaltet der Empfänger ab, verdrängt, vergißt oder mißversteht achtzig Prozent des Gesagten. Nehmen Sie fünfzehn Minuten eines x-beliebigen Gesprächs und versuchen Sie es später zu rekonstruieren, dann wissen Sie, was ich meine. Wenn die Unterhaltung irgendeinen emotionalen Inhalt hat, nimmt die Qualität der behaltenen Informationen noch weiter ab. Ein schriftlicher Bericht war auch in meinem Interesse. Wenn eine Woche verstrichen ist, kann ich mich kaum noch an den Unterschied zwischen Montag und Dienstag erinnern, geschweige denn daran, welche Stellen ich aufgesucht habe und in welcher Reihenfolge. Ich habe festgestellt, daß die Klienten einen so lange für kompetent halten, bis der Zahltag heranrückt. Dann erscheint ihnen die Gesamtsumme auf einmal unerhört, und sie stehen da und fragen sich, was man eigentlich getan hat, um den Betrag verdient zu haben. Es ist besser, eine Rechnung mit beigefügter Chronologie einzureichen. Ich belege gern alles ganz genau und bis ins kleinste. Zumindest kann man damit seine Intelligenz und seine schriftstellerischen Fähigkeiten beweisen. Wie könnte man jemandem vertrauen, der mit der Rechtschreibung auf Kriegsfuß steht oder es nicht schafft, einen einfachen Aussagesatz zu formulieren?

Das andere Thema, das wir behandelt hatten, war die Form meines Honorars. Als selbständige Detektivin hatte ich eigentlich keine felsenfesten Grundsätze, was die Art der Rechnung betraf, erst recht nicht in einem Fall wie diesem, wo ich an einem anderen Ort arbeitete. Manchmal verlange ich ein Pauschalhonorar, das alle meine Spesen mit abdeckt. Manchmal nehme ich einen Stundensatz und berechne die Spesen extra. Selma hatte mir versichert, daß sie mehr Geld als genug hätte, aber offen gestanden hatte ich Schuldgefühle dabei, wenn ich von Toms Nachlaß profitierte. Andererseits hatte sie ihn überlebt, und ich fand ihr Ansinnen verständlich. Warum sollte sie den Rest ihres Lebens damit zubringen, sich zu fragen, ob ihr Mann etwas vor ihr geheimgehalten hatte? Trauer ist schon allein eine schwere Last, auch ohne zusätzliche Sorgen über ungeklärte Angelegenheiten. Selma hatte genug damit zu kämpfen, mit Toms Tod fertigzuwerden. Sie mußte die Wahrheit wissen und erwartete von mir, daß ich sie ihr lieferte. Begreiflich. Ich hoffte, ich könnte ihr eine Lösung präsentieren, die sie zufriedenstellen würde.

Bis ich abschätzen konnte, wieviel Zeit die Ermittlungen in Anspruch nehmen würden, hatten wir uns auf vierhundert Dollar pro Tag geeinigt. Von Dietz hatte ich mir einen Standardvertrag mitgenommen. Ich hatte das Datum und die Einzelheiten meines Auftrags vermerkt, und Selma hatte mir einen Scheck über fünfzehnhundert Dollar gegeben. Ich würde ihn später auf der Bank überprüfen lassen, bevor ich mich an die Arbeit machte. Leider muß ich zugeben, daß ich es trotz meines Mitgefühls für alle Witwen, Waisen und Zukurzgekommenen auf der Welt für klug halte, sich davon zu überzeugen, daß genug Bares vorhanden ist, bevor man zu jemandes Rettung eilt.

Ich machte die Tür der Hütte zu und sperrte sie ab. Dann ging ich zu meinem Mietwagen und fuhr die neun Kilometer in den Ort. Entlang der Landstraße folgten in größeren Abständen verschiedene Betriebe: Traktorenverkauf, ein Gebrauchtwagenhändler, ein Wohnwagenpark, ein Gemischtwarenladen und eine Tankstelle. Die Felder dazwischen waren goldgelb vom vertrockneten Gras und voller Unkraut. Der weite Bogen des Himmels war von intensivem Blau zu Grau übergegangen, und ein dicker, weißer Nebel verhüllte die Berggipfel. In westlicher Richtung hingen bewegungslos vereinzelte Wolkenfetzen. Sämtliche Hügel in der Nähe waren von einem schmuddeligen Rotbraun und mit weißen Tupfen gesprenkelt. Der Wind rüttelte an den Bäumen. Ich stellte die Heizung im Auto an und drehte das Gebläse auf, bis mir tropische Winde um die Beine wehten.

Für meinen Aufenthalt in Carson City hatte ich für bessere Gelegenheiten meinen Tweed-Blazer und für den Alltag eine blaue Jeansjacke eingepackt. Beides war für diese Gegend zu leicht und zu dünn. Ich fuhr die Einkaufsstraßen im Ort auf und ab, bis ich einen Secondhand-Shop fand. Ich manövrierte den Mietwagen in einen Parkplatz vor dem Geschäft. Im Schaufenster drängten sich Unmengen von Küchenutensilien und Kleinmöbeln: ein Bücherregal, ein Fußschemel, stapelweise unterschiedliche Geschirrteile, fünf Lampen, ein Dreirad, ein Fleischwolf, ein altes Philco-Radio und mehrere rote Werbetafeln von Burma-Shave, die mit Draht zusammengebunden waren. Das oberste auf dem Stapel begann mit IST IHR GATTE. Was, dachte ich. Ist Ihr Gatte was? Die Werbeschilder für Burma-Shave waren zuerst in den zwanziger Jahren aufgetaucht, und viele hatten sich sogar bis in meine Kindheit gehalten, stets mit Variationen dieses einprägsamen, holprigen Verses. Ist Ihr Gatte... unrasiert?... Sprießt sein Bart ganz ungeniert?... Sieht er gar aus wie ein Bär?... dann muß Burma-Shave jetzt her. Oder so ähnlich.

Innen im Laden roch es nach abgelegten Schuhen. Ich bahnte mir den Weg durch Gänge, die eng mit Kleidungsstücken vollgehängt waren. Vor mir erstreckten sich unzählige Ständer voller Einzelteile, die alle entweder im Hinblick auf Zweckmäßigkeit oder einem festlichen Anlaß gekauft worden sein mußten: Abschlußballkleider, Cocktailkleider, Kostüme, Acrylpullover, Blusen und Hawaiihemden. Die Wollsachen wirkten schlaff und die Baumwollstoffe matt, ihre Farben von zu vielen Runden in der Waschmaschine ausgelaugt. Weiter hinten beugte sich eine Stange unter der Last von Winterjacken und Mänteln.

Ich schlüpfte in eine schwere braune Bomberjacke aus Leder. Vom Gewicht her fühlte sie sich an wie eine dieser Bleischürzen, die einem die MTA über den Körper legt, während sie einem aus der Sicherheit eines anderen Raumes heraus die Zähne röntgt. Das Futter der Jacke bestand aus noch kaum verfilztem Vlies, und die Taschen hatten diagonal verlaufende Reißverschlüsse, von denen einer kaputt war. Ich musterte die Krageninnenseite. Die Größe war M, also weit genug für einen dicken Pullover, falls nötig. Das Preisschild war an das braune Strickbündchen an einem der Ärmel gesteckt: vierzig Dollar. Ein echtes Schnäppchen. Ist Ihr Gatte wüst und roh? Kratzt sich den behaarten Po? Wollen Sie ihn baden schicken... Burma-Shave wird ihn erquicken. Ich hängte mir die Jacke über den Arm, während ich an den anderen Ständern entlangschlenderte. Ich fand ein blaues Flanellhemd und ein Paar Wanderstiefel. Auf dem Weg hinaus blieb ich stehen und löste den Draht, der die Burma-Shave-Schilder zusammenhielt, und las eines nach dem anderen.

IST IHR GATTE VOLLER GROLL?

SCHIMPFT IHNEN DIE OHREN VOLL?

SEINE STIMMUNG WIRD SICH HEBEN,

WENN SIE BURMA-SHAVE IHM GEBEN.

Ich lächelte vor mich hin. Ich hatte sogar Talent für solches Zeug. Mit meinen Einkäufen in der Hand ging ich wieder auf die Straße hinaus. Ein Hurra auf die gute alte Zeit. Neuerdings geht den Amerikanern ein wenig der Humor aus.

Auf der anderen Straßenseite entdeckte ich ein Geschäft für Bürobedarf. Ich ging hinüber, besorgte mir Schreibpapier und ein paar Päckchen Karteikarten. Zwei Häuser weiter sah ich eine Filiale von Selmas Bank, wo ich mich vergewisserte, daß ihr Scheck gedeckt war, und mir ein Bündel Zwanzigdollarscheine besorgte, das ich in meine Umhängetasche steckte. Danach holte ich mein Auto, fuhr los und kreiste um den Block, bis ich in der richtigen Richtung unterwegs war. Der Ort kam mir bereits vertraut vor; er war ordentlich angelegt und sauber. Die Hauptstraße war vierspurig. Die Häuser rechts und links waren meist ein- oder zweistöckig und in uneinheitlichem Stil gebaut. Die Atmosphäre erinnerte entfernt an eine Westernstadt. An jeder Kreuzung fiel mein Blick auf einen Bergkamm, und die schneebedeckten Gipfel bildeten eine Art Vorhang, der den ganzen Ort entlang verlief. Es herrschte nicht viel Verkehr, und mir fiel auf, daß überwiegend Nutzfahrzeuge unterwegs waren: Pickups und Kombis mit Skiständern auf dem Dach.

Als ich wieder bei Selma anlangte, stand das Garagentor offen. Der Parkplatz links war leer. Rechts sah ich einen blauen Pickup neuester Bauart stehen. Als ich aus meinem Wagen stieg, kam zwei Häuser weiter ein uniformierter Hilfssheriff zur Tür heraus. Er überquerte die beiden Rasenflächen zwischen uns und kam auf mich zu. Ich wartete, da ich annahm, daß es sich um Toms jüngeren Bruder Macon handelte. Auf den ersten Blick konnte ich nicht sagen, wieviel jünger er war. Ich schätzte ihn auf Ende Vierzig, aber vielleicht trog sein Äußeres auch. Er hatte dunkles Haar, dunkle Augenbrauen und ein angenehmes, unauffälliges Gesicht. Er war ungefähr einsachtzig groß und von kompakter Statur. Er trug eine schwere Jacke, die an der Taille endete, um schnellen Zugriff zu dem Pistolenhalfter an seiner linken Hüfte zu gewähren. Der breite Gürtel und die Waffe verliehen ihm ein schweres, bulliges Aussehen, das ohne seine Kluft vermutlich nicht entstanden wäre.

»Sind Sie Macon?« fragte ich.

Er reichte mir die Hand. »Genau. Ich habe Sie herfahren sehen und dachte mir, ich komme mal rüber und stelle mich vor. Meine Frau Phyllis haben Sie ja schon kennengelernt.«

»Das mit Ihrem Bruder tut mir leid.«

»Danke. Es war ganz schön hart, das kann ich Ihnen sagen«, erklärte er. Er deutete mit dem Daumen aufs Haus. »Selma ist nicht da. Ich glaube, sie ist vor kurzem zum Markt gegangen. Wollen Sie rein? Die Tür steht meistens offen, aber Sie können auch gern zu uns kommen. Das ist allemal besser, als hier draußen in der Kälte zu stehen.«

»Danke, aber das macht mir nichts aus. Selma kommt bestimmt gleich, und wenn nicht, bringe ich die Zeit auch so herum. Ich würde gern morgen oder übermorgen mal mit Ihnen sprechen.«

»Na klar. Kein Problem. Ich erzähle Ihnen alles, was Sie wissen wollen, obwohl ich gestehen muß, daß wir uns keinen Reim auf Selmas Vorhaben machen können. Worüber zerbricht sie sich eigentlich den Kopf? Phyllis und ich begreifen einfach nicht, was sie ausgerechnet mit einer Privatdetektivin will. Bei allem Respekt, aber das ist doch lächerlich.«

»Vielleicht sollten Sie das mit ihr besprechen«, sagte ich.

»Ich kann Ihnen jetzt schon sagen, was Sie über Tom herausfinden werden. Er war ein so grundanständiger Kerl, wie man selten einen findet. Die ganze Stadt hat zu ihm aufgesehen, mich eingeschlossen.«

»Dann werde ich mich ja vielleicht nur kurz hier aufhalten.«

»Wo hat Selma Sie untergebracht? Ich hoffe, in einem angenehmen Haus.«

»Nota Lake Cabins. Cecilia Boden ist Ihre Schwester, oder? Haben Sie noch mehr Geschwister?«

Macon schüttelte den Kopf. »Wir waren nur drei«, sagte er. »Ich bin der Jüngste. Tom ist drei Jahre älter als Cecilia und fast fünfzehn Jahre älter als ich. Seit ich denken kann, bin ich hinter den beiden hergerannt. Ich habe erst Jahre nach Tom angefangen, im Sheriffbüro zu arbeiten. In der Schule war’s genauso. Immer bin ich in die Fußstapfen von jemand anderem getreten.« Sein Blick schweifte zur Straße ab, als Selmas Auto auftauchte, langsamer wurde und in die Einfahrt bog. »Da kommt sie, also will ich Sie mal nicht länger aufhalten. Lassen Sie mich wissen, womit ich Ihnen helfen kann. Sie können uns anrufen oder einfach vorbeikommen. Es ist das grüne Haus mit den weißen Zierleisten.«

Inzwischen war Selma in die Garage gefahren und ausgestiegen. Sie und Macon begrüßten einander mit einer kaum wahrnehmbaren Unterkühltheit. Während sie den Kofferraum ihrer Limousine öffnete, verabschiedeten Macon und ich uns und tauschten die typischen Floskeln aus, die das Ende einer Unterhaltung signalisieren. Selma lud eine braune Papiertüte mit Lebensmitteln und zwei Reinigungspaketen aus und schlug den Kofferraum zu. Unter ihrem Pelzmantel trug sie akkurat gebügelte, anthrazitfarbene Hosen und eine langärmlige Bluse aus kirschfarbener Seide.

Während Macon zu seinem Haus zurückging, betrat ich die Garage. »Darf ich Ihnen damit helfen?« fragte ich und griff nach der Tüte mit den Lebensmitteln, die sie mir daraufhin überließ.

»Ich hoffe, Sie stehen noch nicht lange hier«, sagte sie. »Ich bin zu dem Schluß gekommen, daß ich genug Zeit damit zugebracht habe, mir selbst leid zu tun. Das beste ist, sich zu beschäftigen.«

»Wem gehört der Pickup ? War das Toms Wagen?« wollte ich wissen.

Selma nickte und schloß die Tür auf, die von der Garage ins Haus führte. »Ich habe jemanden von der Werkstatt am Tag nach seinem Tod gebeten, ihn hierherzuschleppen. Der Officer, der ihn gefunden hat, hat die Schlüssel abgezogen und den Wagen stehenlassen, wo er war. Ich kann mich nicht dazu überwinden, ihn zu fahren. Wahrscheinlich verkaufe ich ihn irgendwann oder überlasse ihn Brant.« Sie drückte einen Knopf, und das Garagentor fuhr rumpelnd herab.

»Sie haben also Macon kennengelernt.«

»Er ist herübergekommen, um sich vorzustellen«, antwortete ich und folgte ihr ins Haus. »Eines sollte ich noch erwähnen. Ich habe vor, mich mit ziemlich vielen Leuten hier am Ort zu unterhalten, und ich weiß noch nicht, welchen Weg ich einschlagen will. Wenn man Sie auf irgend etwas anspricht, bestätigen Sie es einfach.«

Sie legte ihre Schlüssel wieder in die Handtasche und betrat mit mir im Schlepptau die Waschküche. Dann schloß sie hinter uns die Tür. »Warum wollen Sie nicht die Wahrheit sagen?«

»Das tue ich ja, soweit möglich, aber ich gehe davon aus, daß Tom ein sehr geachtetes Mitglied der Gemeinde war. Wenn ich anfange, mich nach seinen Privatangelegenheiten zu erkundigen, erzählt mir kein Mensch etwas. Deshalb versuche ich es vielleicht mit einem anderen Ansatz. Nicht allzu abwegig, aber eventuell verdrehe ich die Tatsachen ein bißchen.«

»Was ist mit Cecilia? Was sagen Sie ihr?«

»Das weiß ich noch nicht. Mir fällt schon was ein.«

»Die wird Ihnen die Ohren vollquasseln. Im Grunde konnte sie mich nie leiden. Egal, worin Toms Probleme bestanden haben mögen, sie wird mich zur Schuldigen abstempeln, wenn sie kann. Bei seinem Bruder ist es das gleiche. Macon hat Tom ständig um irgend etwas gebeten – einen Kredit, einen Rat, ein gutes Wort für ihn im Büro. Wenn ich nicht eingeschritten wäre, hätte er Tom ausgesaugt. Tun Sie mir einen Gefallen: Nehmen Sie nicht alles, was die beiden sagen, für bare Münze.«

Die Verdrossenen sind ideal. Sie erzählen einem alles, dachte ich.

In der Küche angelangt, hängte Selma ihren Pelzmantel auf eine Stuhllehne. Ich sah ihr zu, wie sie die Lebensmittel auspackte und alles verstaute. Ich hätte ihr ja geholfen, doch sie lehnte mein Angebot mit der Begründung ab, daß es schneller ginge, wenn sie es selbst machte. Die Küchenwände waren hellgelb gestrichen und der Fußboden mit nahtlos verlegtem, weiß-gelbem Linoleum bedeckt. Eine gepolsterte Eßecke aus Chrom und gelbem Plastik füllte eine Nische mit einem Erkerfenster, das mit – ich äugte genauer hin – künstlichen Pflanzen geschmückt war. Sie wies mir einen Platz auf der anderen Seite des Tischs an, faltete die Tüte ordentlich zusammen und legte sie in ein Regal, das bereits von anderen Einkaufstüten überquoll.

Dann ging sie an den Kühlschrank und öffnete ihn. »Was nehmen Sie in Ihren Kaffee? Ich habe Haselnuß-Kaffeeweißer oder ein bißchen Halb-und-halb.« Sie nahm eine kleine Milchtüte heraus und schnüffelte forschend am Ausgießer. Sie verzog das Gesicht und stellte die Tüte in die Spüle.

»Schwarz ist mir recht.«

»Ganz sicher?«

»Ehrlich. Kein Problem. Ich bin nicht wählerisch«, sagte ich. Ich zog die Jacke aus und hängte sie an meine Stuhllehne, während Selma zwei Kaffeebecher, die Zuckerdose und einen Löffel für sich selbst holte.

Sie schenkte Kaffee ein und stellte die gläserne Kanne wieder auf die Heizplatte der Kaffeemaschine. Ihre Absätze klapperten auf dem Fußboden, wenn sie im Raum hin und her ging. Ihre Energie strahlte einen Anflug von Nervosität aus. Sie setzte sich wieder und zückte auf der Stelle ein kleines goldenes Dunhill-Feuerzeug, um sich eine neue Zigarette anzuzünden. Sie inhalierte tief. »Wo wollen Sie anfangen?«

»Ich dachte, ich beginne mit Toms Arbeitszimmer. Vielleicht ist die Lösung ja ganz einfach und liegt offen herum.«

Kopf in der Schlinge

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