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Ich stieg in meinen Wagen und fuhr zu Selma zurück, nach wie vor völlig ahnungslos. Ich konnte nicht sagen, ob Rafer etwas wußte oder ob er nur verärgert darüber war, daß Selma eine Privatdetektivin engagiert hatte. Seltsamerweise fand ich seine Schroffheit eher anregend als entmutigend. Tom war ohne große Vorwarnung gestorben, draußen auf der Landstraße, ohne noch die Möglichkeit zu haben, seine Angelegenheiten zu ordnen. Fürs erste ging ich davon aus, daß Selmas Vermutung zutraf.

Ich ließ mein Auto vor dem Haus stehen und ging über den Rasen zur Veranda. Selma hatte einen Zettel an die Tür geklebt, auf dem stand, daß sie bis Mittag drüben in der Kirche sei. Ich versuchte, die Tür zu öffnen. Sie war unverschlossen, und so brauchte ich den Schlüssel gar nicht, den sie mir am Abend zuvor gegeben hatte. Ich ging hinein und rief »Hallo« für den Fall, daß Brant im Haus war. Niemand erwiderte mein Rufen, obwohl drinnen einige Lichter brannten. Ich nahm mir ein paar Minuten Zeit, um durch die leeren Räume zu gehen. Das Haus hatte nur ein Stockwerk, und die Wohnräume erstreckten sich über das ganze Erdgeschoß. Neben der Küche entdeckte ich eine Treppe, die in den Keller führte.

Ich machte Licht und stieg bis zur Hälfte hinunter. Dann spähte ich über das Geländer. Ich sah Werkzeug zur Holzbearbeitung, eine Waschmaschine und einen Trockner, eine Heißwasserheizung sowie verschiedene Möbelstücke und Hausgeräte, darunter einen tragbaren Grill und Gartenstühle. Eine halboffene Tür an der Wand gegenüber führte zum Heizungskeller. Es schien viel Lagerraum zu geben. Ich würde mich später genauer umsehen und die Pappkartons und Einbauschränke durchsuchen.

Ich kehrte in Toms Büro zurück und setzte mich an seinen Schreibtisch, während ich mich fragte, was für Geheimnisse er verborgen haben mochte. Das, wonach ich suchte – falls überhaupt etwas zu finden war –, mußte nicht unbedingt mit Toms Arbeit zu tun haben. Es hätte alles mögliche sein können: Alkohol, Drogen, Pornographie, Glücksspiele, eine Affäre, ein Hang zu kleinen Jungen, eine Schwäche für Frauenkleider. Die meisten von uns haben etwas, das sie lieber für sich behalten möchten. Aber vielleicht war es auch nichts. Ich wollte es mir nicht eingestehen, aber Rafers Einstellung gegenüber Selma übte bereits ihre Wirkung auf mich aus. Ich hatte mich seiner Sichtweise innerlich widersetzt, aber langsam regten sich leise Zweifel.

Ich stand von Toms Schreibtisch auf und fühlte mich ruhelos und gelangweilt. Bis jetzt hatte ich nicht einen einzigen bedeutsamen Zettel gefunden. Vielleicht war Selma verrückt, und ich verschwendete meine Zeit. Ich ging in die Küche hinaus und schenkte mir ein Glas Wasser ein. Dann öffnete ich den Kühlschrank und starrte seinen Inhalt an, während ich so tat, als stillte ich meinen Durst. Ich machte den Kühlschrank wieder zu und schaute in die Speisekammer. Alles, was Selma eingekauft hatte, sah bedrohlich aus: künstliche Produkte ä la Miracle Whip. Auf der Arbeitsfläche stand ein Teller mit etwas, das wie Rosinen-Hafermehl-Plätzchen aussah. Obendrauf lag ein Zettel, auf dem stand: »Bitte zugreifen«. Ich aß ein paar Plätzchen, stellte das Glas aufs Abtropfbrett und spazierte in den Flur. Das Telefon schien alle fünfzehn Minuten zu klingeln, aber ich ließ den Anrufbeantworter übernehmen. Selma war sehr gefragt, doch es ging ausschließlich um wohltätige Zwecke – den Kirchen-Flohmarkt und eine Spendenaktion für den neuen Anbau der Sonntagsschule.

Ich wandte meine Aufmerksamkeit dem Schlafzimmer zu. Toms Kleider hingen nach wie vor in seiner Hälfte des Schranks. Ich begann seine Taschen zu durchsuchen. Ich sah auf dem oberen Schrankbrett nach, in seinen Schuhschachteln und seiner Kleingeldbüchse. Ich fand einen geladenen Colt 357er Magnum in einer Nachttischschublade, aber sonst nichts von Belang. Der restliche Inhalt der Schublade setzte sich aus der peinlichen Ansammlung von Plunder zusammen, den anscheinend jeder irgendwo aufbewahrt: alte Eintrittskarten, Streichholzbriefchen, abgelaufene Kreditkarten, Schnürsenkel. Keine schlüpfrigen Heftchen und keine Sexutensilien. Ich sah unters Bett, fuhr mit einer Hand die Matratze entlang, spähte hinter Bilderrahmen, klopfte mit den Knöcheln gegen Schrankwände, hob eine Ecke des Teppichs an und suchte nach losen Dielenbrettern.

Im Badezimmer nebenan durchsuchte ich das Medizinschränkchen, den Wäscheschrank und den Korb für die Schmutzwäsche. Nichts, das mir ins Auge gesprungen wäre. Nichts, das fehl am Platz gewesen wäre. Ratlos streckte ich mich eine Weile auf dem Fußboden im Schlafzimmer aus, atmete die Ausdünstungen des Teppichs ein und fragte mich, wann ich mich wohl mit Anstand aus dem Staub machen konnte.

Ich ging wieder ins Arbeitszimmer, wo ich den restlichen Kram in seinen Regalen durchsuchte. Abgesehen davon, daß ich mir unglaublich gut vorkam, weil ich seine Schreibtischschubladen ausräumte, gewann ich keinerlei neue Erkenntnisse über Tom Newquists Leben. Ich sah seine Kreditkartenquittungen aus den letzten zwölf Monaten durch, aber weder bei Visa noch bei MasterCard war irgend etwas Ungewöhnliches zu finden. Die meisten Bewegungen auf den Karten ließen sich leicht mit seinem Terminkalender erklären. So hingen zum Beispiel eine Reihe von Hotel- und Restaurantrechnungen vom vergangenen Februar mit einem Seminar zusammen, das er in Redding in Kalifornien besucht hatte. Der Mann war systematisch. Das mußte ich ihm zugute halten. Sämtliche berufsbedingten Gebühren auf seiner Telefonrechnung wurden später seiner Dienststelle in Rechnung gestellt und entsprechend vergütet. Er ließ sich nicht einen Penny zuviel ausbezahlen. Es gab weder Anzeichen für Verschwendung noch Hinweise auf irgendwelche überhöhten oder unerklärlichen Ausgaben.

Ich hörte einen Wagen in die Einfahrt fahren. Wenn es Selma wäre, würde ich ihr erklären, daß ich aufhörte, damit sie nicht noch mehr von Toms sauer verdientem Geld hinauswarf. Die Haustür öffnete und schloß sich wieder. Ich rief »Hallo« und wartete auf eine Antwort. »Selma, sind Sie das?« Ich wartete wieder. »Oder der Schwarze Mann?«

Diesmal bekam ich zur Antwort ein männliches »Yo!« zu hören, und Selmas Sohn Brant erschien in der Türöffnung. Er trug eine rote Strickmütze, einen roten Jogginganzug und nagelneue weiße Reeboks aus Leder. Um seinen Hals hing ein weißes Handtuch. Mit seinen fünfundzwanzig Jahren war Brant der Typ Mann, nach dem sich matronenhafte Hausfrauen im Supermarkt umdrehen, um ihn im Vorbeigehen verstohlen zu mustern. Er hatte dunkles Haar und buschige Brauen über ernsten braunen Augen. Sein Teint war makellos, das Kinn kantig und die Wangen so fein geschwungen, als sei sein Gesicht aus Ton geformt. Er hatte volle Lippen und eine gute Farbe: eine kräftige Winterbräune, überzogen von einem durch Schnee und Wind hervorgerufenen rötlichen Glanz. Seine Figur war untadelig: breite Schultern, flacher Bauch und eine schmale Hüftpartie. Wäre ich jünger gewesen, hätte ich mir bei seinem Anblick einen Seufzer nicht verkneifen können. Aber mittlerweile schließe ich jeden Mann aus, der so viel jünger ist als ich – erst recht, wenn er mir beruflich begegnet. Allerdings hatte ich erst in einer harten Schule lernen müssen, Vergnügen und Arbeit nicht zu vermischen.

»Meine Mom ist noch nicht zu Hause?« fragte er und zog sich das Handtuch vom Hals. Gleichzeitig nahm er die Strickmütze ab, und so konnte ich sehen, daß sich sein vom Training verschwitztes Haar in kleinen Locken ringelte. Sein Lächeln brachte ebenmäßige weiße Zähne zum Vorschein.

»Sie müßte jeden Moment kommen. Ich bin Kinsey. Sind Sie Brant?«

»Ja, Ma’am. Tut mir leid. Ich hätte mich vorstellen sollen.« Wir schüttelten uns über den mit Plunder vollgestellten Schreibtisch seines Vaters hinweg die Hände. Seine Handfläche war seltsam grau. Als er sah, daß ich es bemerkt hatte, grinste er verlegen. »Das kommt von den Gewichtheberhandschuhen. Ich war gerade beim Training«, erklärte er. »Ich habe das Auto draußen stehen sehen und mir gedacht, daß Sie hier sein müssen. Wie läuft’s denn bis jetzt?«

»Ganz gut, würde ich sagen.«

»Dann lasse ich Sie jetzt lieber weitermachen. Wenn Mom kommt, sagen Sie ihr, daß ich unter der Dusche stehe.«

»Klar.«

»Bis gleich dann.«

Selma kam um Viertel nach zwölf nach Hause. Ich hörte, wie das Garagentor hinauf- und wieder herunterratterte. Wenige Minuten später ging sie durch die Tür, die von der Garage in die Küche führte. Kurz darauf hörte ich Geschirr klirren, die Kühlschranktür auf- und wieder zugehen und dann das Klappern von Besteck. Mit einer Art Trägerschürze aus Baumwolle über einer Hose und einem dazu passenden Pullover erschien sie schließlich in der Tür zum Arbeitszimmer. »Ich mache Sandwiches mit Hühnchensalat, falls Sie mit uns essen wollen. Haben Sie Brant schon kennengelernt?«

»Ja. Hühnchensalat klingt prima. Soll ich Ihnen helfen?«

»Nein, nein, aber kommen Sie doch rüber, dann können wir uns unterhalten, während ich alles vorbereite.«

Ich folgte ihr in die Küche, wo ich mir die Hände wusch. »Wissen Sie, was ich noch nicht gefunden habe? Toms Notizbuch. Hat er sich denn keine Notizen gemacht, wenn er in einem Fall ermittelte?«

Erstaunt wandte sich Selma von der Arbeitsfläche ab, wo sie die Sandwiches belegte. »Aber natürlich. Es war ein kleines Ringbuch mit schwarzem Ledereinband, etwa so groß wie eine Karteikarte, vielleicht etwas größer, aber nicht viel. Es muß hier irgendwo liegen. Er hatte es immer bei sich.« Sie zerteilte die Sandwiches in zwei Hälften und legte sie auf eine am Rand mit Petersilie dekorierte Platte. Jedesmal, wenn ich Petersilie kaufe, verwandelt sich sich in unansehnlichen Matsch. »Sind Sie sicher, daß es nicht da ist?« wollte sie wissen.

»Es ist mir noch nicht untergekommen. Ich habe seine Schreibtischschubladen und seine Jackentaschen durchsucht.«

»Was ist mit seinem Wagen? Manchmal hat er es im Handschuhfach oder im Seitenfach liegenlassen.«

»Gute Idee. Darauf hätte ich eigentlich von selbst kommen müssen.«

Ich öffnete die Verbindungstür und betrat die Garage. Ich schlüpfte um Selmas Auto herum und machte die Fahrertür des Pickups auf. Das Wageninnere roch intensiv nach Zigarettenrauch. Der Aschenbecher quoll über von Kippen, die in einem flachen Bett aus Asche begraben lagen. Das Handschuhfach war aufgeräumt und enthielt nur einen Satz Straßenkarten, die Bedienungsanleitung, die Zulassung, den Versicherungsschein und Benzinrechnungen. Ich sah in die Seitenfächer beider Türen und hinter die Sonnenblenden, bückte mich und musterte die Fläche unter den Schalensitzen. Dann sah ich hinter den Sitzen nach, doch dort stand lediglich ein kleiner Werkzeugkasten für Notfälle. Sonst gab das Wageninnere nichts her. Ich schlug die Fahrertür mit Wucht zu und musterte im Vorbeigehen die Regale in der Garage. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, aber jedenfalls lag kein kleines schwarzes Notizbuch in Sichtweite.

Ich kehrte in die Küche zurück. »Fehlanzeige«, sagte ich. »Fällt Ihnen noch etwas anderes ein?«

»Ich sehe mich nachher selbst einmal um. Vielleicht hat er das Notizbuch auch im Büro liegenlassen, obwohl er das selten tat. Ich rufe Rafer an und frage ihn.«

»Wird er dann nicht behaupten, die Notizen seien Eigentum der Dienststelle?«

»Ach, bestimmt nicht«, erwiderte sie. »Er hat zu mir gesagt, er würde alles tun, um zu helfen. Er war Toms bester Freund, wissen Sie.«

Aber nicht deiner, dachte ich. »Eines würde mich interessieren«, fuhr ich zögernd fort. »An dem Abend, als er starb... wenn er irgendwie vorgewarnt wurde... dann hätte er doch um Hilfe rufen können, wenn er ein Funkgerät gehabt hätte. Warum hatte er keinen CB-Funk in seinem Pickup? Und keinen Piepser? Ich kenne eine Menge Polizisten, die sich auch in ihre Privatautos Funkgeräte haben einbauen lassen.«

»Oh, ich weiß. Er hatte es auch vor, war aber noch nicht dazu gekommen. Er hatte ja soviel zu tun. Ich konnte ihn nicht dazu bringen, sich die Zeit zu nehmen, ein Gerät zu besorgen und einzubauen. Das sind genau die Dinge, die einem einfallen, wenn man nichts mehr daran ändern kann.«

Brant erschien wieder, diesmal in einer blauen Uniform, die ihn als Rettungssanitäter für den lokalen Krankenwagendienst auswies. B. NEWQUIST war auf die linke Brust gestickt. Seine Haut verströmte Seifenduft, und sein Haar war jetzt feucht vom Duschen und roch nach Ivory-Shampoo. Ich gestattete mir einen dieser kleinen Wimmerlaute, die nur Hunde hören können. Weder Brant noch seine Mutter schien es zu bemerken. Ich setzte mich an den Küchentisch, ihm direkt gegenüber, und aß brav mein Sandwich, während die beiden plauderten. Noch während des Essens klingelte erneut das Telefon. Selma stand auf. »Bleibt nur sitzen. Ich gehe in Toms Arbeitszimmer dran.«

Brant verspeiste sein Sandwich, ohne viel zu sagen, und ich merkte, daß es an mir war, ein Gespräch zu beginnen.

»Ich habe gehört, daß Tom Sie adoptiert hat.«

»Als ich dreizehn war«, antwortete Brant. »Mein... leiblicher Vater heißt das wohl... hatte sich jahrelang nicht mehr gemeldet, seit meine Mutter und er sich hatten scheiden lassen. Als sie Tom geheiratet hat, hat er meine Adoption beantragt. Aber ich würde ihn sowieso als meinen echten Vater betrachten, ob er mich nun adoptiert hat oder nicht.«

»Sie müssen ein gutes Verhältnis zu ihm gehabt haben.«

Er stellte den Plätzchenteller von der Arbeitsfläche herüber, und wir verspeisten das Gebäck abwechselnd, während wir unser Gespräch fortsetzten. »In den letzten Jahren schon. Davor kamen wir nicht gerade blendend miteinander aus. Mom ist immer locker, aber Tom war streng. Er war beim Militär gewesen und hat Vorschriften knallhart durchgesetzt. Er hat mich dazu gedrängt, den Pfadfindern beizutreten, was mich total angewidert hat – Karate, Dauerlauf und solches Zeug. Ich war es nicht gewohnt, daß mir etwas verboten wurde, und so habe ich mich anfangs gewehrt. Ich glaube, ich habe so ungefähr alles getan, um seine Autorität in Frage zu stellen. Aber schließlich hat er sich gemacht«, sagte er und lächelte ein wenig dabei.

»Seit wann sind Sie schon Sanitäter?«

»Seit drei Jahren. Davor habe ich eigentlich nicht viel auf die Beine gestellt. Eine Weile habe ich studiert, obwohl ich mich als Student nicht besonders hervorgetan habe.«

»Hat Tom mit Ihnen über seine Fälle gesprochen?«

»Manchmal. In letzter Zeit allerdings nicht.«

»Wissen Sie, warum?«

Brant zuckte mit den Achseln. »Vielleicht war das, woran er gearbeitet hat, nicht so interessant.«

»Und wie war es in den letzten sechs Wochen vor seinem Tod?«

»Er hat nichts Besonderes erwähnt.«

»Was ist mit seinen Arbeitsnotizen? Haben Sie die gesehen?«

Einen Moment lang wurde sein Blick finster. »Seine Arbeitsnotizen?«

»Die Notizen, die er sich gemacht hat...«

Brant fiel mir ins Wort. »Ich weiß, was Arbeitsnotizen sind, aber ich verstehe Ihre Frage nicht. Fehlen seine denn?«

»Ich glaube ja. Oder sagen wir mal, es ist mir bisher nicht gelungen, sein Notizbuch zu finden.«

»Das ist aber seltsam. Wenn er es nicht in der Jackentasche hatte, hat er es im Schreibtisch oder in seinem Pickup aufbewahrt. Seine alten Notizen hat er mit Gummibändern zusammengebunden und in Kisten im Keller aufbewahrt. Haben Sie seinen Partner schon gefragt? Sie könnten ja auch im Büro sein.«

»Ich habe einmal mit Rafer gesprochen, aber ich habe ihn nicht nach dem Notizbuch gefragt, weil ich da noch nicht daran gedacht habe, es zu suchen.«

»Da kann ich Ihnen auch nicht weiterhelfen. Aber ich werde hier mal die Augen danach offenhalten.«

Nach dem Essen verließen Selma und Brant das Haus. Brant hatte noch einiges zu erledigen, bevor er zur Arbeit ging, und Selma war mit ihrer endlosen Reihe ehrenamtlicher Aktivitäten beschäftigt. Sie hatte sich einen Kalender an den Kühlschrank geklebt, dessen Felder an den meisten Wochentagen vollgekritzelt waren. Stille senkte sich über das Haus, und ich merkte, wie mich leise Beklommenheit überfiel. Langsam gingen mir die Einfälle dafür aus, was ich noch tun konnte. Ich ging wieder ins Arbeitszimmer zurück und nahm das Telefonbuch aus Toms oberster Schublade. Aufgrund der geringen Größe der Stadt war das Verzeichnis nicht umfangreicher als eine Zeitschrift. Ich suchte nach James Tennyson, dem Officer der Highway Patrol, der Tom an jenem Abend gefunden hatte. Es gab nur einen Tennyson, einen James W., mit einer Adresse im Iroquois Drive im gleichen Viertel. Ich sah auf meinem Stadtplan nach, packte Jacke und Tasche und ging zum Auto hinaus.

Der Iroquois Drive war eine von zweistöckigen Häusern und üppigen Nadelgewächsen gesäumte kurvenreiche Straße. Offenbar fordert man die Anwohner dazu auf, ihre Garagentore geschlossen zu halten. Die Gärten hinter den Häusern waren hier lückenlos eingezäunt oder von Hecken umgeben. Ich konnte Schaukelgestelle, Klettergerüste und Swimmingpools erkennen, die noch den Winter über abgedeckt waren. Die Tennysons wohnten am Ende der Straße in einem gelb gestrichenen Haus mit dunkelgrünen Fensterläden und einem dunkelgrünen Dach. Ich parkte davor und hob im Vorbeigehen die Morgenzeitung von der Wiese auf. Ich drückte auf die Klingel, hörte aber drinnen kein beruhigendes Bim-bam. Ich wartete ein paar Minuten und versuchte es dann mit einem zurückhaltenden Klopfen.

Die Tür wurde von einer jungen Frau in Jeans mit einem schlafenden Baby an der Schulter geöffnet. Das Kind mochte sechs Monate alt sein; vereinzelte goldene Locken, gerötete Wangen, ein Strampelanzug aus Flanell und ein dicker, windelbepackter Po.

»Mrs. Tennyson?«

»Ja?«

»Mein Name ist Kinsey Millhone. Ich hätte gern Ihren Mann gesprochen. Er arbeitet doch bei der California Highway Patrol, oder?«

»Stimmt.«

»Ist er in der Arbeit?«

»Nein, er ist hier. Er hat Nachtschicht und schläft aus. Deshalb ist auch die Türklingel abgestellt. Möchten Sie hereinkommen und warten? Ich habe ihn gerade rumoren hören, also kann es nicht mehr lange dauern.«

»Wenn es Ihnen nichts ausmacht.« Ich hielt die Zeitung in die Höhe. »Die habe ich mitgebracht. Das ist doch sicher Ihre?«

»Oh, danke. Ich hole sie gar nicht, bevor er aufgestanden ist. Das Baby macht sich darüber her und zerfetzt sie restlos, wenn ich nicht aufpasse. Genau wie die Katze. Sitzt da und kaut darauf herum, nur um mich auf die Palme zu bringen.«

Sie trat beiseite, um mich hineinzulassen, und ich ging ins Haus. Wie bei Selma kam mir auch dieses Haus überheizt vor, aber vielleicht reagierte ich auch nur auf den Temperaturunterschied zu draußen. Sie schloß hinter mir die Tür. »Übrigens, ich heiße Jo. Ihr Name war Kimmy?«

»Kinsey«, verbesserte ich. »Das war der Mädchenname meiner Mutter.«

»Ist ja nett«, sagte sie und warf mir ein Lächeln zu. »Das ist Brittainy. Armes Kind, aus irgendeinem unerfindlichen Grund nennen wir sie Bugsy. Ich weiß nicht, wie es angefangen hat, aber das kriegt sie nie wieder los.« Jo Tennyson war attraktiv, hatte einen Pferdeschwanz und Ponyfransen, und ihr Haar war nur wenig dunkler als das ihrer Tochter. Sie konnte kaum älter als einundzwanzig sein und war womöglich Mutter geworden, bevor sie legal Alkohol trinken durfte. Das Baby regte sich nicht, während wir in die Küche gingen. Jo legte die Zeitung auf den Küchentisch und wies auf einen Stuhl. Sie ging im Raum hin und her und bereitete mit einer Hand Frühstück für ihren Mann zu, während das Baby weiterschlief. Fasziniert sah ich zu, wie sie eine neue Schachtel Corn-flakes aufmachte, etwas daraus in eine Schüssel schüttelte und einen Löffel aus einer Schublade nahm, die sie mit der Hüfte wieder zuschob. Sie holte die Milchtüte aus dem Kühlschrank, goß Kaffee in drei Becher und schob mir einen davon hin. »Sie sind hoffentlich keine Vertreterin.«

Ich schüttelte den Kopf und murmelte ein Dankeschön für den Kaffee, der wunderbar duftete. »Ich bin Privatdetektivin. Ich möchte Ihrem Mann ein paar Fragen über Tom Newquists Tod stellen.«

»Oh, entschuldigen Sie. Ich wußte nicht, daß es etwas Berufliches ist, sonst hätte ich ihn sofort gerufen. Er trödelt nur herum. Vor der Arbeit läßt er sich gern Zeit, weil der andere Teil seines Tages so hektisch ist. Ich sehe mal nach, wie weit er ist. Wenn Sie noch mehr Kaffee möchten, bedienen Sie sich. Ich bin gleich wieder da.«

Solange sie weg war, nutzte ich die Gelegenheit, mich im Sitzen ein bißchen umzusehen. Das Haus war unaufgeräumt – das hatte ich bereits im Vorbeigehen gesehen –, doch die Küche war besonders chaotisch. Vollgestellte Flächen, offenstehende Schranktüren, und in der Spüle stapelte sich das Geschirr der letzten paar Mahlzeiten. Zuerst dachte ich, der Vinylfußboden sei aufgrund seines dunklen, unregelmäßigen Musters grau, doch bei näherem Hinsehen stellte sich heraus, daß er unter zahlreichen schmutzigen Fußabdrücken weiß war. Ich richtete mich wieder auf, als sie zurückkam.

»Er kommt gleich. Ich hätte Sie nicht für eine Detektivin gehalten. Sind Sie von hier?«

»Ich bin aus Santa Teresa.«

»Sie sind mir gleich fremd vorgekommen. Sie sollten mit Toms Frau sprechen. Sie wohnt etwa sechs Blocks in dieser Richtung von hier, im Pawnee Way. Wir nennen ihn die snobistische Straße.«

»Sie hat mich ja engagiert. Kennen Sie sie?«

»Hmm. Wir gehen in dieselbe Kirche. Sie ist für den Blumenschmuck am Altar zuständig, und ich helfe, wenn ich kann. Sie hat wirklich ein gutes Herz. Sie hat Bugsy ihr Taufkleidchen geschenkt. Da kommt James. Ich lasse Sie allein, damit Sie sich ungestört unterhalten können.«

Ich stand auf, als er die Küche betrat. James Tennyson hatte helles Haar, klare Gesichtszüge und eine schlanke Figur und war genau der Typ von ernsthaftem jungem Mann, den man sich auf der Landstraße zu Hilfe wünscht, wenn der Keilriemen den Geist aufgibt oder der Hinterreifen geplatzt ist. Er trug Zivilkleidung: Jeans, ein Sweatshirt und Pantoffeln aus Schaffell. »James Tennyson. Erfreut, Sie kennenzulernen.«

»Kinsey Millhone«, sagte ich, als wir uns die Hand schüttelten. »Verzeihen Sie, daß ich Sie zu Hause belästige, aber ich war drüben bei den Newquists, und das ist ja gleich in der Nähe. Ich habe Ihren Namen auf einem Bericht gesehen, den ich vom Leichenbeschauer bekommen habe, und dann Ihre Adresse im Telefonbuch nachgeschlagen.«

»Kein Problem. Setzen Sie sich doch wieder.«

»Danke. Frühstücken Sie ruhig. Ich will Sie nicht stören.«

Er lächelte. »Ich glaube, das mache ich, wenn Sie nichts dagegen haben. Womit kann ich Ihnen helfen?«

Während James seine Corn-flakes verspeiste, erläuterte ich ihm Selmas Befürchtungen. »Sie haben Tom doch persönlich gekannt, oder?«

»Ja, ich kannte ihn. Ich meine, wir waren keine richtig guten Freunde... Er und Selma waren älter und verkehrten in ganz anderen Kreisen. Aber hier in Nota Lake kannte jeder Tom. Ich sage Ihnen, sein Tod hat mich erschüttert. Ich weiß, daß er schon ziemlich alt war, aber hier galt er als eine Art Institution.«

»Können Sie mir sagen, wie Sie ihn gefunden haben? Ich weiß, daß er einen Herzinfarkt hatte. Ich versuche nur, ein Gefühl dafür zu bekommen, was geschehen ist.«

»Tja, also das war... wann?... vor fünf, sechs Wochen... und im Grunde nichts Außergewöhnliches. Ich fuhr den 395 entlang, als ich sein Fahrzeug am Straßenrand stehen sah. Die Warnblinkanlage war eingeschaltet, und der Motor lief, also habe ich dahinter angehalten. Ich erkannte Toms Pickup. Sie wissen ja, daß er hier in der Nähe gewohnt hat, daher habe ich sein Auto ständig gesehen. Zuerst dachte ich, er hätte womöglich einen Motorschaden oder so was. Beide Türen waren verschlossen, aber als ich näher kam, sah ich ihn zusammengesunken dasitzen. Ich klopfte ans Fenster, da ich dachte, er sei beim Fahren eingeschlafen und an den Straßenrand gefahren. Ich nahm an, daß die Heizung lief, da die Windschutzscheibe voller Kondenswasser und die Fenster ganz beschlagen waren.«

»Wie sind Sie hineingekommen?«

»Tja, das Fenster auf der Fahrerseite stand einen Spaltweit offen. Ich hatte eine Drahtschlinge im Wagen, und damit zog ich den Türknopf auf. Ich merkte gleich, daß es ihm schlechtging. Er sah entsetzlich aus, die Augen standen offen, und in seinen Mundwinkeln hing schmieriges Zeug.«

»Hat er zu diesem Zeitpunkt noch gelebt?«

»Ich bin mir ziemlich sicher, daß er schon tot war, aber ich habe getan, was ich konnte. Ich sage Ihnen, mir haben dermaßen die Hände gezittert, daß ich gar nicht richtig zupacken konnte. Fast hätte ich das Fenster eingeschlagen, und dazu wäre es auch gekommen, wenn ich es nicht geschafft hätte, das Schloß aufzukriegen. Ich zerrte ihn aus dem Wagen an den Straßenrand und fing gleich mit der Wiederbelebung an. Ich konnte keinen Herzschlag finden. Seine Haut fühlte sich kühl an, oder zumindest kam es mir so vor. Draußen war es eiskalt, und trotz der aufgedrehten Heizung war die Temperatur im Wageninneren gefallen. Sie können es sich bestimmt vorstellen. Ich habe über Funk Hilfe gerufen... so schnell wie möglich einen Krankenwagen dorthin geholt, aber es nutzte nichts. Der Arzt in der Notaufnahme hat ihn beim Eintreffen für tot erklärt.«

»Glauben Sie, er wußte, was mit ihm passierte, und hat deshalb am Straßenrand gehalten?«

»Das würde ich annehmen. Er muß Schmerzen im Brustkorb gehabt haben, vielleicht auch Atemnot.«

»Haben Sie zufällig Toms Notizbuch gesehen? Schwarzes Leder, etwa so groß?«

Er dachte einen Augenblick nach und schüttelte dann langsam den Kopf. »Nein, Ma’am. Ich glaube nicht. Natürlich habe ich auch nicht danach gesucht. War es garantiert in seinem Wagen?«

»Nein, nein, aber Selma hat gesagt, er hatte es immer bei sich, und es ist bis jetzt nicht aufgetaucht. Ich dachte, vielleicht haben Sie es gefunden und im Sheriffbüro abgegeben.«

»Das hätte ich vermutlich getan, wenn ich es gesehen hätte. Ich möchte ja auch nicht, daß meine Notizen durch alle Hände gehen. Vieles davon sieht unsinnig aus, aber man braucht es, wenn man die Berichte tippt oder vor Gericht aussagen muß. Und es war nicht bei seinen persönlichen Sachen? Das Büro des Leichenbeschauers hat mit Sicherheit all seine Kleider und alles, was er bei sich hatte, zurückgegeben.

Sie wissen schon, seine Uhr, den Inhalt seiner Taschen und so weiter.«

»Das gleiche habe ich Selma gefragt, und sie hat es auch nicht gesehen. Jedenfalls werden wir weiterhin danach suchen. Danke, daß Sie sich die Zeit genommen haben. Wenn Ihnen irgend etwas einfällt, können Sie mich über Selma erreichen.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, daß es über ihn irgend etwas zu ermitteln gibt. Sie können sich keinen netteren Kerl vorstellen. Er war einfach großartig. Ein guter Mensch und ein guter Polizist.«

»Das habe ich schon gehört.«

Ich fuhr zum Motel zurück, denn ich hielt es keine einzige Minute mehr in Toms Arbeitszimmer aus. Womöglich hatte Tom ja einfach an Depressionen gelitten. Wir waren alle davon ausgegangen, daß sein Problem situationsbedingt war, aber vielleicht war dem gar nicht so. Mein Problem war situationsbedingt. Ich hatte Heimweh und wollte hier weg.

Ich schloß die Tür zu meiner Hütte auf und stellte erfreut fest, daß das Zimmer aufgeräumt worden war. Das Bett war gemacht, das Badezimmer geputzt, und eine frische Rolle Toilettenpapier mit einem Knick im ersten Blatt hing bereit. Ich setzte mich an den Tisch und spannte ein Blatt Papier in meine Smith-Corona ein. Dann begann ich einen Bericht über meine Unternehmungen der vergangenen Tage zu verfassen. Selma Newquist würde eben ihren Frieden mit Toms Ableben schließen müssen. Der Tod hinterläßt immer offene Angelegenheiten, unergründliche Geheimnisse, zahllose unbeantwortete Fragen unter dem angehäuften Schutt eines Lebens. Sämtliche Geschichten sind vergessen, die Erinnerungen verloren. Man kann engagieren, wen man will und findet trotzdem nie heraus, was einen Menschen ausgemacht hat. Ich konnte hier sitzen und tippen, bis mir die Luft ausging. Tom Newquist war tot, und ich vermutete, niemand würde je herausfinden, wie seine letzten Momente verlaufen waren.

Kopf in der Schlinge

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